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AUSSEN/632: Verhältnis zu China - Die Strategie für das entscheidende Jahrzehnt (german-foreign-policy.com)


Informationen zur Deutschen Außenpolitik - 7. November 2022
german-foreign-policy.com

Die Strategie für das entscheidende Jahrzehnt

Konflikt zwischen Auswärtigem und Kanzleramt um die neue deutsche Chinastrategie spitzt sich zu: Baerbock setzt auf aggressive politische Attacken. Washington sabotiert das deutsche Chinageschäft.


BERLIN/BEIJING/WASHINGTON - Parallel zur Erstellung der neuen deutschen Chinastrategie spitzt sich der Streit zwischen Auswärtigem und Kanzleramt um die Schärfe der Konfrontationspolitik gegen Beijing zu. Kanzler Olaf Scholz dringt darauf, trotz der wachsenden Rivalität mit der Volksrepublik ein gewisses Maß an Wirtschaftskooperation zu wahren - im Sinne bedeutender Branchen der deutschen Industrie, die auf China als Absatzmarkt und Forschungs- und Entwicklungsstandort angewiesen sind. Außenministerin Annalena Baerbock setzt sich für aggressive politische Attacken gegen Beijing ein - unter dem Vorwand, für Menschenrechte zu kämpfen - und scheut dabei nicht davor zurück, den Kanzler selbst vom Ausland aus öffentlich zu attackieren. Parallel intensivieren die USA den Druck auf Berlin, seine Wirtschaftskooperation mit Beijing zurückzufahren, und mischen sich dabei unmittelbar in konkrete deutsch-chinesische Geschäfte ein. US-Präsident Joe Biden sieht Washington vor dem "entscheidenden Jahrzehnt" im Machtkampf gegen China. In dieser Situation kündigt Berlin für das erste Quartal 2023 eine neue Chinastrategie an.

"Kein Decoupling"

Gegenstand der Attacken von Außenministerin Annalena Baerbock war besonders die Reise von Bundeskanzler Olaf Scholz am vergangenen Freitag nach Beijing. Scholz hatte schon vor seinem Gespräch mit dem chinesischen Präsidenten Xi Jinping bekräftigt, die Volksrepublik solle "ein wichtiger Wirtschafts- und Handelspartner für Deutschland und Europa" bleiben: "Wir wollen kein 'Decoupling', keine Entkopplung von China", hatte der Kanzler in einem Namensbeitrag in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung geschrieben.[1] Gleichzeitig hatte er erklärt, die Bundesrepublik werde künftig "einseitige Abhängigkeiten" von der Volksrepublik "abbauen", etwa bei "wichtigen Rohstoffen ... oder bestimmten Zukunftstechnologien". Dies entspricht im Kern den Interessen der deutschen Industrie, die auf China nicht mehr nur als Absatzmarkt, sondern in zunehmendem Maß auch als Forschungs- und Entwicklungsstandort angewiesen ist, gleichzeitig aber fürchtet, auf lange Sicht von ihrer chinesischen Konkurrenz abgehängt und deklassiert zu werden (german-foreign-policy.com berichtete [2]). Scholz räumte zugleich ein, Beijing werde "künftig eine bedeutende Rolle auf der Weltbühne spielen - so wie übrigens über weite Strecken der Weltgeschichte hinweg".

"Systemische Rivalität"

Gegen Scholz' Besuch in Beijing hatte Baerbock bereits vorab Position bezogen und dabei kritisiert, dass er recht kurz nach Xis Bestätigung als Generalsekretär der Kommunistischen Partei Chinas stattfand: "Der Bundeskanzler hat den Zeitpunkt seiner Reise entschieden", beschwerte sich die Außenministerin während ihres Besuchs in Usbekistan.[3] Dass ein Regierungsmitglied den eigenen Regierungschef im Ausland offen attackiert, ist unüblich und ein bemerkenswerter Affront. Baerbock hatte zudem von Scholz in ultimativem Tonfall gefordert, es sei "entscheidend", dass er in China die "Botschaften" des Koalitionsvertrags übermittle; gemeint war - statt Wirtschaftskooperation - scharfe Menschenrechtskritik an China. Das wurde von weiteren Forderungen aus Bündnis 90/Die Grünen und CDU/CSU begleitet. So ließ sich der Grünen-Europaabgeordnete Reinhard Bütikofer mit der Äußerung zitieren, Scholz solle die Wirtschaftsdelegation, die er er nach China mitnahm, "zu Hause lassen" und "bei seinem Gespräch mit Xi Jinping erklären, was wir unter systemischer Rivalität verstehen". Jens Spahn sowie Johann Wadephul, beide stellvertretende Vorsitzende der Unionsfraktion im Bundestag, urteilten, die "systemische Rivalität" mit China wachse, die "Partnerschaft" mit dem Land hingegen nehme ab.[4]

"Noch" keine Sanktionen

Während Scholz am Freitag in Beijing Xi traf, hat Baerbock parallel ihre Attacken gegen den Kanzler beim G7-Außenministertreffen in Münster fortgesetzt. Im Mittelpunkt der G7-Gespräche stehe die Frage, "wie wir die Fehler, die wir in der Vergangenheit in der Russland-Politik gemacht haben, nicht im Hinblick auf China wiederholen", teilte die Außenministerin mit.[5] Das bezieht sich auf die Behauptung, die Bestrebungen, Moskau mit ökonomischer Kooperation einzubinden - etwa in Sachen Nord Stream 2 -, seien ein Fehler gewesen. Ganz im Gegenteil sind die Kooperationsversuche stets systematisch untergraben worden, nicht zuletzt von Bündnis 90/Die Grünen. Baerbock zielte mit ihrer Äußerung darauf ab, Scholz' Bemühungen um eine wirtschaftliche Zusammenarbeit mit Beijing zu diskreditieren. Darüber hinaus behauptete die deutsche Außenministerin, die Volksrepublik sei "in zunehmendem Maße systemischer Rivale" geworden; es gelte, ihr in Zukunft klare Schranken zu setzen. Die Aussagen sind auch deshalb von Bedeutung, weil sich die G7 zur Zeit auf eine abgestimmte Chinastrategie zu verständigen suchen. Die Frage, ob man gemeinsame Sanktionen gegen die Volksrepublik verhängen solle, sei "noch" nicht besprochen worden, hieß es nach den Außenministergesprächen in Münster.[6]

"Ein US-Erfolg"

Während Baerbock Scholz attackiert, setzen auch die Vereinigten Staaten einem Bericht zufolge die Bundesregierung massiv unter Druck. So wird ein hochrangiger Mitarbeiter der Biden-Administration mit der Aussage zitiert, Washington habe über seine Vertretung in der deutschen Hauptstadt "eine Botschaft" übermittelt, wonach China keinen "kontrollierenden" Einfluss auf Terminals im Hamburger Hafen haben dürfe.[7] Dass die Bundesregierung vor wenigen Tagen vormalige Vereinbarungen zwischen der Hamburger Hafen und Logistik AG (HHLA) und der chinesischen Reederei COSCO kassiert und COSCO nicht die Übernahme von 35 Prozent, sondern nur von 24,9 Prozent der Anteile am Containerterminal Tollerort gestattet habe, sei "ein erfolgreiches Ergebnis" der US-Einflussnahme. "Zunehmend stellt sich die Frage", heißt es dazu kommentierend in einem aktuellen Bericht, "wie viel deutsch-chinesische Handelskooperation die westlichen Partner tolerieren wollen."[8]

"Die zentrale Herausforderung"

Der US-Druck steigt damit zu einem Zeitpunkt, zu dem die Vereinigten Staaten selbst ihre politischen und ökonomischen Angriffe gegen China intensivieren. Bereits in der Nationalen Sicherheitsstrategie, die die Biden-Administration am 12. Oktober publizierte, hieß es, die Volksrepublik sei "der einzige Wettbewerber", der "sowohl die Absicht" habe, "die internationale Ordnung neu zu gestalten", als auch das politische, ökonomische und militärische Potenzial dazu. Es gelte für die USA deshalb, China "niederzukonkurrieren".[9] Inhaltlich identische Passagen sind auch in der neuen US-Militärstrategie (National Defense Strategy) enthalten, die US-Verteidigungsminister Lloyd Austin am 27. Oktober vorgelegt hat. Darin heißt es, die Volksrepublik sei die zentrale, "das Tempo vorgebende Herausforderung" für die Vereinigten Staaten.[10] US-Präsident Joe Biden hat vor kurzem die nächsten zehn Jahre als das "entscheidende Jahrzehnt" für den mit allen Mittlen ausgetragenen Machtkampf zwischen den USA und China eingestuft.[11]

Richtungsstreit in Berlin

Die US-Weichenstellungen haben erhebliche Bedeutung für die Chinastrategie, an der das Auswärtige Amt gegenwärtig arbeitet und die von der Bundesregierung verabschiedet werden soll - nach Möglichkeit bereits im ersten Quartal 2023 unmittelbar nach der Veröffentlichung der neuen Nationalen Sicherheitsstrategie Berlins. Die präzise Ausformulierung des Papiers ist heftig umkämpft: Während das Kanzleramt die Interessen der deutschen Wirtschaft stärker berücksichtigt, orientiert sich das Auswärtige Amt unter Baerbock mehr an den Interessen des außen- und vor allem militärpolitischen Hauptverbündeten, der USA. "Ob sich aber Außenministerium oder Kanzleramt beim Ton der neuen deutschen Chinastrategie durchsetzen", heißt es, "ist noch nicht ausgemacht."[12]


Anmerkungen:

[1] Olaf Scholz: Für offenen und klaren Austausch. Frankfurter Allgemeine Zeitung 03.11.2022.

[2] S. dazu Die Dialektik des Chinageschäfts.
https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/9070

[3] Baerbock ermahnt Scholz zu kritischem Auftreten in Beijing. Frankfurter Allgemeine Zeitung 02.11.2022.

[4] Jens Spahn, Johann Wadephul: Weg von einseitigen Abhängigkeiten. Frankfurter Allgemeine Zeitung 02.11.2022.

[5], [6] Mathias Brüggmann: Baerbock sieht China als "systemischen Rivalen" - Außenministerin grenzt sich von Scholz-Kurs ab. handelsblatt.com 03.11.2022.

[7] Courtney McBride: US Warns Germany, Other Allies Against Allowing Chinese Control of Firms. bloomberg.com 02.11.2022.

[8] Druck von allen Seiten auf Scholz vor Chinareise. Frankfurter Allgemeine Zeitung 04.11.2022.

[9] National Security Strategy. Washington, October 2022.
S. dazu Spiel mit dem Feuer (III).
https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/9061

[10] C. Todd Lopez: DOD Releases National Defense Strategy, Missile Defense, Nuclear Posture Reviews. defense.gov 27.10.2022.

[11] Gordon Lubold, Charles Hutzler: U.S. Sees 'Decisive Decade' Ahead in Competition With China, Russia. wsj.com 12.10.2022.

[12] Mathias Brüggmann: Baerbock sieht China als "systemischen Rivalen" - Außenministerin grenzt sich von Scholz-Kurs ab. handelsblatt.com 03.11.2022.

*

Quelle:
www.german-foreign-policy.com
Informationen zur Deutschen Außenpolitik
E-Mail: info@german-foreign-policy.com

veröffentlicht in der Online-Ausgabe des Schattenblick am 8. November 2022

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