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BERICHT/010: Die Deutschen sind mit vielen Lebensumständen unzufriedener als ihre Nachbarn (WZB)


WZB Mitteilungen - Nr. 123/März 2009
Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung

Realistische Pessimisten
Deutsche sind mit vielen Lebensumständen unzufriedener als ihre Nachbarn

Von Roland Habich und Heinz-Herbert Noll


Die Deutschen sind mit ihrer persönlichen Lebenssituation, aber auch mit vielen öffentlichen Bereichen wie der Rente oder dem Bildungssystem unzufriedener als ihre europäischen Nachbarn. Bei der Lebensqualität der Bürger hat Deutschland seinen Spitzenplatz innerhalb Europas längst eingebüßt. Das bestätigt der Datenreport 2008. Aber nicht alle Lebensbereiche werden schlecht beurteilt. So schneiden zum Beispiel die Wohnverhältnisse im Vergleich mit anderen europäischen Ländern gut ab. Zufrieden sind die Deutschen auch mit der öffentlichen Sicherheit.


Wie steht es um Deutschland? Wie haben sich Einkommen und Armut entwickelt? Wie beurteilen die Bürger selbst ihre Lebenssituation? Sind sie zufrieden mit der Demokratie oder der sozialen Sicherung? Für die Bewertung von Wohlstand und Lebensqualität ist der Vergleich mit den europäischen Nachbarn ein wichtiger, wenn nicht sogar der wichtigste Maßstab geworden. Die Ergebnisse aus dem aktuellen Datenreport 2008 verdeutlichen erneut, was sich schon seit einigen Jahren abzeichnet: Deutschland gehört - was die Lebensqualität seiner Bürger angeht - in vielen Bereichen nicht mehr zur europäischen Spitzengruppe. Diese wird heute nahezu durchgängig von den Ländern im Norden und Nordwesten Europas gebildet. Betrachtet man allein die objektiven Lebensbedingungen, im Wesentlichen erfasst durch die amtliche Statistik, liegt Deutschland meist auf dem Niveau des EU-15-Durchschnitts. Geht es aber um das subjektive Wohlbefinden der Bürger, fällt Deutschland vielfach unter den Durchschnitt aller EU-Mitgliedsländer.

Die Wirtschaftskraft, gemessen am Bruttoinlandsprodukt je Einwohner, gilt nach wie vor als ein zentraler Indikator zur Beschreibung des Wohlstands einer Gesellschaft. Darauf bezogen, erreichte Deutschland im Jahr 2007 mit gut 112 Prozent einen Platz im vorderen Mittelfeld aller EU-Länder (= 100 Prozent). Auch bei der Beteiligung am Erwerbsleben liegt Deutschland mit knapp 68 Prozent leicht über dem Durchschnitt. Schwach fällt dagegen im Vergleich der Anstieg in diesem Bereich aus: Deutschland erreichte zwar zuletzt ein Plus von 0,6 Prozent und damit den höchsten Wachstumswert seit 2000. Im Vergleich zu den europäischen Nachbarn bildet Deutschland damit allerdings das Schlusslicht aller EU-Länder. Verbessert haben sich die Beschäftigungschancen älterer Menschen. Hier nimmt Deutschland inzwischen Platz zehn im EU-Ranking ein. Die entsprechende Erwerbsquote stieg von 38 Prozent im Jahr 2000 auf beachtliche 52 Prozent im Jahr 2007.

Ungeachtet dieser Entwicklung bleibt die Erwerbslosigkeit - und hier insbesondere die Langzeiterwerbslosigkeit - weiterhin eine zentrale Herausforderung in Europa. In der EU ist inzwischen fast jeder zweite Erwerbslose länger als ein Jahr ohne Arbeit. Die Langzeiterwerbslosenquote in Deutschland ist die dritthöchste in Europa, schlechter ist die Lage nur noch in Polen und in der Slowakei.

Deutschland schneidet aber nicht in allen erfassten Lebensbereichen schlecht ab. So sind etwa die Bruttojahresverdienste in Deutschland vergleichsweise hoch und werden nur in Luxemburg und dem Vereinigten Königreich übertroffen, wenn man nach der Kaufkraft misst. Anders sieht die Situation aus, wenn man die Einkommen nach der Zahl und dem Alter der Haushaltsmitglieder gewichtet. Hier erreicht Deutschland lediglich Rang zehn und damit ein Niveau unter dem Durchschnitt der EU-15 Länder. Auch in den EU-Staaten, die man insgesamt als wohlhabend bezeichnen kann, gibt es Armut und soziale Ausgrenzung. Im Durchschnitt der EU-25 gelten 16 Prozent und somit fast 80 Millionen Europäer als armutsgefährdet. Dabei liegen die Quoten zwischen 23 Prozent (Lettland) und 10 Prozent (Niederlande, Tschechische Republik); in Deutschland beträgt sie rund 13 Prozent.

Die Bewertung der objektiven Lebensverhältnisse durch die Bürger spiegelt aber nicht immer die tatsächlichen Bedingungen wider. Hier spielen subjektive Ansprüche, Erwartungen, auch Vergleiche mit anderen eine Rolle. Am zufriedensten mit ihrem Lebensstandard sind die Schweden und Dänen, gefolgt von den Menschen in den Benelux-Ländern, Irland und dem Vereinigten Königreich. Nur leicht unter diesem Niveau liegen die anderen West- und Südeuropäer. Das Ende der Rangliste bilden Lettland, Litauen und Bulgarien. Deutschland liegt hier im europäischen Durchschnitt.

Bei der Zufriedenheit mit dem Leben insgesamt erreicht Deutschland noch einen relativ guten Platz im Mittelfeld. Deutlich schlechter beurteilen die Deutschen jedoch, wie sich ihre persönliche Situation heute im Vergleich zu der vor fünf Jahren entwickelt hat und wie sie sich in den kommenden fünf Jahren entwickeln wird: So glauben nur 25 Prozent der Deutschen, dass es ihnen heute besser geht als vor fünf Jahren. Im Vergleich der EU-Länder fällt diese Bewertung nur in Portugal, Bulgarien und Ungarn noch schlechter aus. Und dass ihre Situation in fünf Jahren besser sein wird als heute, glauben auch nur 30 Prozent der Deutschen. Damit sehen sie pessimistischer in die Zukunft als fast alle anderen Europäer (siehe Abbildung).


Deutschland und seine europäischen Nachbarn - 
 Beurteilung der Entwicklung der persönlichen Situation 2007


Heute besser als
vor fünf Jahren
In 5 Jahren im Vergleich
zu heute besser
Polen
Frankreich
Dänemark
Luxemburg
Niederlande
Belgien
Österreich
Tschechische Republik
Deutschland
41 %
36 %
63 %
44 %
50 %
41 %
29 %
37 %
25 %
49 %
49 %
48 %
41 %
40 %
40 %
32 %
30 %
30 %

Datenbasis: Eurobarometer 67.2 (2007)


Trotz der positiven Entwicklung, die in den vergangenen Jahren in Deutschland vor allem auf dem Arbeitsmarkt zu beobachten war, wird dieser zentrale Lebensbereich in fast allen EU-Staaten, aber insbesondere in Deutschland zwiespältig wahrgenommen und bewertet. Auf der einen Seite ist die große Mehrheit der Europäer, nämlich neun von zehn Befragten in West- und acht von zehn Befragten in Osteuropa, zuversichtlich, dass ihr Arbeitsplatz sicher ist. Auf der anderen Seite werden die eigenen Arbeitsmarktchancen zum Teil ausgesprochen negativ gesehen. Die Chance, bei Arbeitsplatzverlust mindestens wieder eine gleichwertige Stelle zu finden, wird in den skandinavischen Ländern, den baltischen Staaten sowie Großbritannien und Irland am günstigsten eingeschätzt. Die mit Abstand geringsten Arbeitsmarktchancen sehen die Deutschen, gefolgt von den Ungarn, den Griechen und den Portugiesen.

Auch die öffentlichen Institutionen und deren Leistungen bewerten die Deutschen im europäischen Vergleich als eher mittelmäßig, teilweise sogar als ausgesprochen schlecht. Sehr schlechte Noten geben die Bundesbürger ihrem Bildungssystem mit einem durchschnittlichen Wert von 4,3 auf einer Skala von 0 (äußerst schlecht) bis 10 (äußerst gut). Im Vergleich von 21 europäischen Ländern fällt diese Bewertung nur in Portugal noch schlechter aus. Besonders kritisch wird in Deutschland zudem die Sicherheit der Renten beurteilt: Lediglich 26 Prozent der Deutschen waren 2006 zuversichtlich, dass ihre Renten sicher seien. In keinem anderen Mitgliedsland der EU - einschließlich der osteuropäischen Länder - fällt dieser Wert so niedrig aus wie hierzulande. Deutschland ist damit weit von Ländern wie Dänemark, Irland, den Niederlanden und Österreich entfernt, wo jeweils mehr als zwei Drittel der Bevölkerung optimistisch sind, dass ihre Rente sicher ist. Dagegen sind die Deutschen zum Beispiel mit ihrer Wohnsituation vergleichsweise zufrieden. Gut schneidet im europäischen Vergleich auch die öffentliche Sicherheit im Urteil der Bürger ab.

Lassen nun diese Schlaglichter Aussagen jener Art zu, die Deutschen seien generell Pessimisten und würden im europäischen Vergleich auf hohem Niveau jammern? Die Antwort lautet Nein. Die Befunde deuten vielmehr darauf hin, dass die Bürger die privaten und öffentlichen Lebensbereiche durchaus differenziert wahrnehmen und vor dem Hintergrund ihrer Ansprüche und Erwartungen, aber insbesondere auch der Entwicklung der vergangenen Jahre bewerten. Insofern erscheint die tendenziell kritische und im Hinblick auf die zukünftige Entwicklung von Wohlstand und Lebensqualität eher pessimistische Beurteilung der Situation durchaus realistisch.


Dieser Artikel beruht auf zwei Kapiteln (16.1 "Deutschland in der Europäischen Union" von Johanna Mischke und 16.2 "Lebensbedingungen und Wohlbefinden in Europa" von Jörg Dittmann und Angelika Scheuer) des aktuellen Datenreports, mit herausgegeben von Roland Habich und Heinz-Herbert Noll.

Roland Habich, geboren 1953, ist promovierter Soziologe und kam 1988 ans WZB. Von 2003 bis 2005 war er wissenschaftlicher Mitarbeiter der Abteilung "Ungleichheit und soziale Integration", seit 2006 leitet er das Zentrale Datenmanagement des WZB. Er lehrt an der Universität Potsdam.
rhabich@wzb.eu

Heinz-Herbert Noll ist Leiter des Zentrums für Sozialindikatorenforschung am Leibniz-Institut für Sozialwissenschaften (GESIS) in Mannheim. Zu den Forschungsschwerpunkten des promovierten Soziologen zählen soziale Indikatoren, Lebensqualität, soziale Ungleichheit und sozialer Wandel im internationalen Vergleich.
heinz-herbert.noll@gesis.org


Literatur

Statistisches Bundesamt, GESIS-ZUMA, WZB (Hg.), Datenreport 2008. Ein Sozialbericht für die Bundesrepublik Deutschland, Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung 2008, 455 S. (auch online verfügbar unter: www.wzb.eu/presse)


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Quelle:
WZB Mitteilungen Nr. 123, März 2009, Seite 44 - 45
Herausgeberin:
Die Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung
Professorin Jutta Allmendinger Ph.D.
10785 Berlin, Reichpietschufer 50
Tel.: 030/25 49 10, Fax: 030/25 49 16 84
Internet: http://www.wzb.eu

Die WZB-Mitteilungen erscheinen viermal im Jahr
(März, Juni, September, Dezember)
Bezug gemäß § 63, Abs. 3, Satz 2 BHO kostenlos


veröffentlicht im Schattenblick zum 1. April 2009