Schattenblick →INFOPOOL →POLITIK → FAKTEN

DEMOSKOPIE/257: Umfrage - Explosive Stimmung in Afghanistan (WDR)


Westdeutscher Rundfunk Köln (WDR) - Pressemitteilung vom 9. Februar 2009

Umfrage: Explosive Stimmung in Afghanistan

Umfrage von WDR/ARD, ABC News und BBC zeigt kaum Hoffnung auf einen Neuanfang
Hohe Zustimmung zu Anschlägen auf US- und NATO-Truppen


Gut sieben Jahre nach dem Sturz der Taliban hat die Mehrheit der Afghanen die Hoffnung auf eine friedliche Zukunft vorerst verloren. Unter der alltäglichen Erfahrung von Krieg, Gewalt, Korruption und Armut ist auch das anfangs große Vertrauen in die USA und in die NATO in Resignation, Ablehnung und in wachsendem Maße Hass umgeschlagen. Das ist das Ergebnis einer großen repräsentativen Umfrage, die das "Afghan Institute for Social and Public Opinion Research" im Auftrag von WDR/ARD, ABC und BBC durchgeführt hat.

In einem sind sich die neue US-Regierung und die afghanische Bevölkerung einig: Die vergangenen Jahre waren für das Land am Hindukush verlorene Jahre. Nur noch eine Minderheit der Afghanen (40 %) meint, dass sich ihr Land in die richtige Richtung bewegt. Vor gut drei Jahren waren es noch fast doppelt so viele (77 %). Ist im relativ ruhigen Norden vor allem die anhaltend schlechte Wirtschaftslage für den Stimmungsumschwung verantwortlich, belastet die Menschen im umkämpften Süden zusätzlich die allgegenwärtige Gewalt. Nach sieben Jahren Krieg stellen die Afghanen besonders den US- und NATO-Truppen ein vernichtendes Zeugnis aus: nur noch jeder Dritte (32 %) bescheinigt ihnen eine positive Leistung - vor drei Jahren waren es noch 68 Prozent. Noch drastischer fällt das Bild in den Kriegsprovinzen aus: im Südwesten hat nur noch jeder fünfte (20 %) ein positives Urteil über die US- und NATO-Truppen. "Der Westen hat den Kampf um die Herzen und Köpfe der Afghanen erst einmal verloren", erläutert Arnd Henze, der als stellvertretender Auslandschef die Umfrage für den WDR betreut hat. "Viele Jahre hatten die Menschen nach den Schreckensjahren der Taliban auf das Prinzip Hoffnung gesetzt und der afghanischen Regierung und den westlichen Truppen einen großen Vertrauensvorschuss gegeben. Dieses Kapital an Geduld und Vertrauen ist aufgebraucht."


Für Verhandlungen mit Taliban

Noch profitieren die ausländischen Truppen allerdings davon, dass die Bevölkerung in ihrer großen Mehrheit (68 %) die erstarkten Taliban für die größte Bedrohung hält. Dabei glaubt nur noch eine Minderheit (33 %) an einen militärischen Sieg über die Taliban. Ein weiteres Drittel rechnet mit einer Verhandlungslösung, jeder fünfte (19 %) befürchtet einen endlosen Fortgang der Kämpfe und immerhin 8 Prozent erwarten einen Sieg der Taliban. Vor diesem Hintergrund ist es erklärlich, dass immer mehr Afghanen (64 %) Verhandlungen mit den Taliban und ihre Beteiligung an der politischen Macht befürworten.


Obamas Dilemma: Afghanen wollen nicht mehr, sondern weniger US-Truppen

Ohne die Hoffnung auf einen militärischen Erfolg über die Taliban sehen sich die Afghanen zunehmend als Opfer zwischen den Fronten. Landesweit berichten 43 Prozent von zivilen Opfern durch die Taliban, 34 Prozent durch USA/NATO sowie 24 Prozent durch afghanisches Militär oder Polizei. In manchen Kriegsprovinzen wie Helmand (92 %) oder Kandahar (78 %) kennt inzwischen nahezu jeder zivile Opfer von US-Angriffen in der Umgebung. So einig sich die Afghanen in der Ablehnung von Luftangriffen weitgehend sind, so differenziert beurteilen sie die Schuld an den zivilen Opfern: 41 Prozent sehen die Verantwortung ausschließlich bei den ausländischen Militärs, 28 Prozent sehen die Schuld bei den Kämpfern, die unter den Zivilisten Schutz suchen, und ebenso viele sehen beide Seiten gleichermaßen in der Schuld.

In jedem Fall aber werden die ausländischen Truppen immer weniger als Verbündete im Kampf gegen einen gemeinsamen Feind und immer stärker als Teil der Misere wahrgenommen. Entsprechend drängt erstmals eine knappe Mehrheit der Afghanen (51 %) auf einen schnellen Abzug von USA und NATO - im umkämpften Südwesten sind es 71 Prozent. Dort wollen nur noch 28 Prozent die Truppen solange im Lande halten, bis die Sicherheit wiederhergestellt ist. Entsprechend findet sich in Kriegsprovinzen wie Kandahar (3 %), Nangarhar (8 %) oder Helmand (9 %) kaum jemand, der eine Aufstockung der Truppen befürwortet. Dabei ist die Verdoppelung der US-Truppen um weitere 30000 Soldaten derzeit das einzig konkrete Element der neuen Strategie von US-Präsident Obama. Für Arnd Henze wird hier das ganze Dilemma einer zukünftigen Afghanistanpolitik deutlich: "Obama will zur gleichen Zeit den Krieg und das Vertrauen der Afghanen zurück gewinnen. Aber jede Ausweitung der Kämpfe bedeutet zumindest am Anfang mehr zivile Opfer. Da prallt dann die militärische Einschätzung des Westens mit großer Heftigkeit auf eine sehr harte Ablehnungsfront in der Bevölkerung und wird die Distanz zumindest kurzfristig eher noch vertiefen." Eine Ablehnung, die schon jetzt so weit geht, dass in manchen Provinzen inzwischen mehr als die Hälfte der Bevölkerung Anschläge auf US- und NATO-Soldaten für gerechtfertigt hält (auch landesweit ein deutlicher Anstieg auf 25 %).


Sympathien für Deutschland und Iran

Während die Bevölkerung bei den ausländischen Truppen nicht zwischen USA, NATO und einzelnen Herkunftsländern unterscheidet, gibt es bei der grundsätzlichen Einstellung gegenüber verschiedenen Ländern deutliche Unterschiede. An der Spitze der Beliebtheit steht Indien (74 %), am unteren Ende Pakistan, dessen Zustimmung seit November 2007 von 21 auf nur noch 8 Prozent gefallen ist. Deutschlands Ansehen ist leicht zurück gegangen (von 70 auf 61 %), auf 57 % gestiegen sind dagegen die Werte für den Iran. Am deutlichsten ist der Sympathie-Einbruch der USA: von in der islamischen Welt beispiellosen 83 Prozent im November 2005 über 65 Prozent in 2007 auf nur noch 47 Prozent. Arnd Henze: "Wenn es um die Stabilisierung Afghanistans geht, haben der Westen und der Iran die gleichen Interessen. Kein Land leidet zum Beispiel so stark unter afghanischem Opium wie der Iran mit seinen vielen Drogenabhängigen."


Anti-Drogenkampf: nur, wenn neue Jobs geschaffen werden

Aber auch im Anti-Drogenkampf wird es schwer sein, die Bevölkerung von einem harten Vorgehen gegen den Opiumanbau zu überzeugen. Das Land produziert mehr als 90 Prozent des weltweiten Rohopiums. Die Milliardeneinnahmen finanzieren die Aufrüstung der Taliban und lokaler Warlords, sichern aber auch der Bevölkerung Beschäftigung und überdurchschnittliches Einkommen, zu dem es derzeit keine erkennbare Alternative gibt. So zeigt die Umfrage zwar eine grundsätzliche Bereitschaft, den Drogenanbau zu bekämpfen - in den sechs wichtigsten Drogenprovinzen (u.a. Helmand und Kandahar) halten aber zweidrittel der Befragten den Anbau für gerechtfertigt, solange er die einzige Erwerbsmöglichkeit bietet. Arnd Henze: "Auch hier steht der Westen vor einem Dilemma: Er muss den Opiumanbau bekämpfen, ohne die Bevölkerung in Arbeitslosigkeit und Armut zu treiben. Und das alles in den am heftigsten umkämpften Provinzen das Landes, in denen die Stimmung gegenüber USA und NATO ohnehin schon äußerst feindselig ist."

So ablehnend die Stimmung gegenüber den ausländischen Truppen inzwischen ist, so sehr schwindend ist der Rückhalt auch für die einheimischen Akteure. Die Zustimmungswerte für Präsident Karsei sind seit November 2005 von 83 auf 52 Prozent gesunken, ähnliches gilt für die Zentralregierung (von 80 auf 49 %) und die Provinzregierungen (von 52 auf 46 %). Dass die Werte überhaupt noch relativ positiv sind, ergibt sich aus dem Mangel an Alternativen. "Es fehlt dem Land an Hoffnungsträgern", so Henze, "und in einem von Korruption immer tiefer verseuchten Staat wird sich auch nur schwer eine neue Führungsgeneration entwickeln können." Die Korruption halten inzwischen 85 Prozent der Afghanen für ein Problem (63 % sogar für ein "sehr großes").


Armut nimmt weiter zu, Mehrheit ohne Strom

Landesweit hat die Armut der Afghanen weiter zugenommen. Mehr als die Hälfte der Haushalte muss mit weniger als 100 US-Dollar im Monat auskommen. Nur noch ein gutes Drittel (37 %) kann sich die nötigen Lebensmittel zumindest teilweise leisten - dabei fehlt es auf den Märkten nicht an ausreichend Lebensmitteln. Noch weniger (31 %) können den Preis für Öl bezahlen, das zum Heizen und zum Antrieb von Generatoren unverzichtbar ist. Ein wesentlicher Grund für die Armut ist neben steigenden Preisen der eklatante Mangel an Arbeitsmöglichkeiten. 70 Prozent der Afghanen sehen den Arbeitsmarkt negativ - hier hat es in den letzten Jahren keinerlei Verbesserungen gegeben. Ganz oben auf der Liste der Alltagsprobleme steht darüber hinaus die Stromversorgung. Sie wird von 77 Prozent als schlecht bewertet - eine Mehrheit der Bevölkerung (55 %) hat keinerlei Zugang zu Strom, ein weiteres Viertel muss mit deutlich weniger als 6 Stunden pro Tag auskommen. Aber es gibt auch ermutigende Entwicklungen: Deutlich verbesserte Werte gegenüber den früheren Umfragen gibt es bei der Versorgung mit sauberem Wasser (jetzt 65 % positiv), bei den Schulen (77 %) sowie beim Ausbau der Infrastruktur mit Straßen und Brücken (42 %).


Starkes Bekenntnis zu Frauenrechten

Erstaunlich breite Unterstützung bei deutlichen regionalen Unterschieden gibt es nach wie vor für Frauenrechte, die unter der Talibanherrschaft verwehrt wurden. Das Wahlrecht für Frauen und die Schulbildung für Mädchen wird von jeweils über 90 Prozent der Befragten bejaht. Berufstätigkeit von Frauen wird zwar landesweit von 77 Prozent der Afghanen unterstützt, stößt aber in ländlichen Gebieten weiterhin auch auf Ablehnung. Ähnliches gilt für Frauen in Regierungsämtern.

Insgesamt beschreibt die Umfrage eine extrem düstere Ausgangsbasis für einen Neuanfang in Afghanistan. "Die letzte Umfrage vor 14 Monaten hat uns das Bild von einem Land auf der Kippe zwischen Hoffnung und Resignation geboten.", so Arnd Henze. "Die neue Untersuchung bietet nur noch wenig Anknüpfungspunkte für die Hoffnung, dass sich die Lage schnell zum Besseren wendet."

Die Umfrage von ARD, ABC und BBC basiert auf der Befragung von 1534 repräsentativ ausgewählten Afghanen in allen 34 Provinzen. Durchgeführt wurde die Studie mit fast 100 Fragen in persönlichen Interviews von 176 ausgebildeten Befragern in der jeweiligen Stammessprache - wobei Frauen nur von Frauen interviewt wurden. WDR-Chefredakteur Jörg Schönenborn, der die Ergebnisse am heutigen Montag in den ARD-Sendungen "Tagesschau" und "Tagesthemen" präsentieren wird, sieht in der Umfrage von ARD, ABC und BBC einen wichtigen Beitrag zur öffentlichen Diskussion. "Wir wissen, dass sich auch die Planungen von Pentagon und NATO auf solche Umfragen stützen. Deren Erkenntnisse bleiben aber vertraulich und stehen weder in den USA noch in Europa für die breite politische Debatte zur Verfügung. Eine neue Afghanistan-Strategie wird in der Bevölkerung und in den Parlamenten nur Rückhalt finden, wenn sie in realistischer Kenntnis der Herausforderungen diskutiert wird."


*


Quelle:
Presseinformation vom 9. Februar 2009
Herausgeber:
Westdeutscher Rundfunk Köln (Anstalt des öffentlichen Rechts)
Appellhofplatz 1, 50667 Köln
Postanschrift: 50600 Köln
Telefon: 0221/220 2407, Fax: 0221/220 2288
Internet: www.wdr.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 11. Februar 2009