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FRAGEN/009: Hans-Jürgen Urban - "Wir brauchen Aktivität, polarisierende Debatten, ..." (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 6/2014

"Wir brauchen Aktivität, polarisierende Debatten, produktive Provokation"

Gespräch mit Hans-Jürgen Urban von Thomas Meyer



Hans-Jürgen Urban, Geschäftsführendes Vorstandsmitglied der IG Metall, hat mit dem von ihm geprägten Begriff "Mosaik-Linke" die Debatte um eine künftige Kooperation von Rot-Rot-Grün erweitert. Was er darunter versteht und welche Rolle er dabei den Gewerkschaften zuschreibt, erläutert er im Gespräch mit Thomas Meyer.


NG/FH: Der Begriff "Projekt" ist ja inzwischen verpönt. Trotzdem die Frage: Gibt es ein politisch substanzielles Projekt für Rot-Rot-Grün? Und läge es aus gewerkschaftlicher Sicht eigentlich nicht nahe?

Hans-Jürgen Urban: Es wäre absolut notwendig und auch möglich. Das Problem besteht darin, dass dieses Projekt nur dann realisiert wird, wenn die Akteure es wirklich wollen. Und an diesem ernsthaften Willen hapert es bisher. Offensichtlich ist die Verlockung, jenseits der Großen Koalition eine machtpolitische Perspektive aufzubauen, für die drei infrage kommenden Parteien nicht so groß, als dass man die internen Streitigkeiten und die Konflikthemen etwas niedriger bewertet. Aber ich hoffe, dass die Bereitschaft zur Arbeit an diesem Projekt zunimmt, wenn deutlich wird, dass die Große Koalition auf die wichtigen Fragen keine hinreichenden Antworten hat.

NG/FH: Um welche Fragen geht es da?

Urban: Aus gewerkschaftlicher Perspektive ist etwa die Alterssicherung von besonderer Bedeutung. Positiv ist, dass durch die SPD im Koalitionsvertrag seit langer Zeit wieder Regelungen durchgesetzt wurden, die Leistungsverbesserungen vorsehen und damit das Potenzial haben, eine Wende in der Alterssicherungspolitik einzuleiten. Das wittern offensichtlich auch Arbeitgeber und Konservative, weshalb sie den Untergang des Abendlandes an die Wand malen. Das lässt sich mit Blick auf die abschlagfreie Rente nach 45 Versicherungsjahren, die sogenannte Rente ab 63, nicht aus dem Kostenvolumen von 0,8 % der jährlichen Rentenausgaben erklären. Die Wucht des Konfliktes hängt wohl damit zusammen, dass es gelingen könnte, in einem zentralen Feld der Sozialpolitik eine Wende zu schaffen, vom Sozialabbau zum Sozialaufbau.

Aber die eigentlichen Strukturreformen, die notwendig sind, um das Alterssicherungssystem dauerhaft zu stabilisieren, gerecht zu finanzieren und das Leistungsniveau anzuheben, sind damit nicht einmal angepackt. Die Stichworte lauten: Universalisierung der Rentenversicherung im Sinne einer allgemeinen Erwerbstätigenversicherung und Neudefinition des Verhältnisses von Beitrags- und Steuerfinanzierung. Und das Basissystem der gesetzlichen Rente muss mit der betrieblichen Altersversorgung abgestimmt werden. Zudem muss die Frage beantwortet werden, wie der Druck der Kapitalmärkte auf die Systeme des Sozialschutzes abgewehrt werden kann. Denn die Finanzmarktakteure versuchen mit harter Lobbymacht am Milliardenvolumen, das in der Alterssicherung schlummert, zu partizipieren. Zum Wohle ihrer Renditen und zum Schaden der Betroffenen.

NG/FH: Du hast ja den Begriff "ökosoziale Wirtschaftsdemokratie" geprägt, der semantisch sicherlich für viele anschlussfähig ist. Welche Hauptmerkmale zeichnen eine solche denn aus?

Urban: Eine wesentliche Säule einer zeitgemäßen Wirtschaftsdemokratie ist die Rückgewinnung des politischen Primats über die Ökonomie, das uns abhanden gekommen ist. Mit katastrophalen Folgekosten für Wirtschaft, Gesellschaft und Demokratie, wie uns die Krise des globalen Finanzmarktkapitalismus in 2008 ff. und die anschließende Krisenpolitik gezeigt haben. Wirtschaftsdemokratie formuliert den Anspruch, nach gesellschaftlichen und demokratischen Kriterien in die Ökonomie zu intervenieren. Im Sinne von mehr Effizienz und weniger Krisenkosten, aber auch im Sinne einer demokratischen Gegenwehr mit Blick auf die Versuche einer finanzmarktgetriebenen Ökonomie, alle Sphären von Gesellschaft und Politik zu kolonialisieren.

Die Mitbestimmung in den Unternehmen, wie wir sie heute kennen, ist ein wichtiger Baustein eines solchen Konzeptes. Ihre Weiterentwicklung ist eine zentrale wirtschaftsdemokratische Forderung. Aber das reicht nicht. Der Begriff Wirtschaftsdemokratie soll auch die Notwendigkeit überbetrieblicher Einflussnahme auf das Wirtschaftsgeschehen thematisieren. Da kann es sinnvoll sein, bei den Klassikern der Wirtschaftsdemokratie nachzuschauen, also bei Hilferding, Naphtali, Agartz und anderen. Ich habe diesen Versuch gemacht und durchaus interessante Anregungen, aber zugleich auch Grenzen gefunden.

Das lässt sich am Thema Investitionslenkung zeigen. Ein Thema, das in den klassischen Schriften sowie in der Reformdebatte der 1970/80er Jahre einen hohen Stellenwert hatte. Auch wenn es nach linkem Traditionalismus klingen mag: Mega-Projekte wie die Ökologisierung der Industrie, die Energiewende, aber auch die systematischen Förderungen einer Care-Economy sind ohne politische Regulierung öffentlicher und privater Investitionen nicht zu haben. Deshalb ist Investitionslenkung gerade mit Blick auf den ökosozialen Umbau der Wirtschaft ein Muss! Aber das ist leichter gesagt als getan. Sofort drängt sich die Frage auf, was aus historisch fehlgeschlagenen Modellen der Investitionslenkung zu lernen ist. Und: Welcher institutionelle Rahmen ermöglicht eine demokratische, überbetriebliche Einflussnahme unter den Bedingungen einer transnationalen Ökonomie, also: Was kann und was soll Wirtschaftsdemokratie im globalen Kapitalismus des 21. Jahrhunderts heißen?

Kurzum, sie soll den Bedarf nach einer politischen Einflussnahme auf die Ökonomie zum Ausdruck bringen, die überbetrieblich organisiert ist und die feste Orte und verbindliche Regeln kennt - und das unter den Bedingungen des Gegenwartskapitalismus.

NG/FH: Eine echte Herausforderung, die wohl nur mit einer hinreichenden Durchsetzungskraft zu realisieren ist. Findet das Projekt einer modernen Wirtschaftsdemokratie denn in den Betrieben und bei den Belegschaften den notwendigen Rückhalt?

Urban: Bisher nur unzureichend. Wirtschaftsdemokratie ist von sich aus kein Projekt, das in den Belegschaften Funken schlägt. Es erscheint zu abstrakt und zu weit weg von den Alltagsproblemen. Und vor allem: Viele halten es angesichts der Machtverhältnisse in den Betrieben, die täglich erfahrbar sind, für unrealistisch. Aber genau hier verbirgt sich auch ein wertvoller Hinweis: Wirtschaftsdemokratie im überbetrieblichen und politischen Raum bedarf unbedingt einer Fundierung durch eine "Demokratisierung von unten". Als Schutz gegen Erstarrungen und die Bürokratiegefahr, aber auch um Akzeptanz zu organisieren. Dazu haben wir das Konzept der "demokratischen Arbeit" ins Spiel gebracht. Demokratische Arbeit ist gute Arbeit, die gesundheitsverträglich und persönlichkeitsfördernd ausgestaltet ist, die aber zugleich Möglichkeiten der direkten Einflussnahme der Beschäftigten auf die Bedingungen ihrer Arbeit sichert. Während also wirtschaftsdemokratische Politik "von oben" in die Ökonomie interveniert, denkt das Konzept der demokratischen Arbeit die Demokratie "von unten" her.

NG/FH: Du hast ja mit Blick auf die mögliche Kooperation der drei linken Parteien den Begriff der "Mosaik-Linken" geprägt. Das würde ja bedeuten, dass jeder etwas Besonderes einbringt, sich aber erst insgesamt ein stimmiges Bild ergibt. Nun gehören viele Grüne aber eher ins neubürgerliche Lager, mit gutem Einkommen, kulturell zwar ein wenig links aber ökonomisch im Zweifel besitzstandswahrend. Die Linkspartei ist zerstritten, da viele dort aus den Erfahrungen in Europa wissen, dass man eigentlich nur in der Opposition groß bleiben kann. Und bei der SPD ist die neue Öffnung noch nicht ganz durchgedrungen, bisher eher ein Vorsatz. Was könnten jetzt diese drei als Mosaikbausteine in ein gemeinsames Bild einbringen?

Urban: Das Bild des Mosaiks soll zunächst einmal signalisieren, dass die angestrebte Kooperation nicht einfach als ein Crossover-Projekt traditioneller Prägung zu verstehen ist. Die Vorstellung des Mosaiks bedeutet, dass jeder zum Crossover motiviert werden sollte, aber mindestens genauso wichtig sind Anstrengungen, im eigenen Laden die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass die jeweilige Partei auch bündniswillig und -fähig wird. Konkret: Wer das linke Parteienmosaik will, muss in der SPD, den Grünen oder der Linken offen und mit Ausdauer auf die Mosaikfähigkeit hinarbeiten.

NG/FH: Geht das etwas genauer? Was würde das für die einzelnen Parteien bedeuten?

Urban: Ich bin kein Parteistratege, ich kann und will hier nicht mehr als Diskussionsanstöße geben. Die SPD wäre als stimmenstärkste Partei als institutionelles Zentrum eines rot-rot-grünen Bündnisses gefordert, ist aber zurzeit weder mosaikwillig noch -fähig. Sie muss sich vor allem durch eine glaubwürdige Praxis aus der babylonischen Gefangenschaft der Agenda-Politik befreien. Sie muss glaubwürdig und dauerhaft eine alternative Politik machen, sonst wird sie aus dem Vertrauensloch unter ihren potenziellen Wählern nicht herauskommen. Aber die einfache Negation der Agenda 2010 reicht nicht aus. Das Konzept einer sozialen Demokratie des 21. Jahrhunderts ist nicht einfach das Gegenteil der Agenda, sondern ein neues Reformkonzept mit neuen Antworten. Wenn ich es richtig sehe, wird daran bisher wenig gearbeitet.

Die Grünen haben sich zurzeit am weitesten von einem linken Projekt entfernt. Es gibt keine empirische Evidenz, dass die Gerechtigkeitsrhetorik für das schlechte Wahlergebnis verantwortlich ist. Und trotzdem diente diese Behauptung als Begründung, um den "eher linken" Flügel politisch zu entmachten. Es scheint so, als wollten viele Bündnis 90/Die Grünen zu einer Art wirtschaftsliberalen grünen FDP machen. Das würde sie vom gemeinsamen Projekt dauerhaft fernhalten. Meiner Auffassung nach wäre bei den Grünen eine Debatte notwendig, die darauf hinausläuft, das Ökologiethema als identitätsstiftend zu behalten, das Ökologieparadigma allerdings in die Debatte um "Ökologische Gleichheit" auf globaler Ebene einzubinden. Denn längst werden Themen wie Umweltverbrauch oder - belastung unter globalen Gerechtigkeitskriterien diskutiert; nach dem Motto: Es gibt ein unteilbares Menschenrecht auf intakte Natur. Eine solche Debatte passt zur Kultur der grünen Bewegung und könnte Ansatzpunkt für ein neues Alleinstellungsmerkmal sein.

Die Linke könnte sich als Trägerin einer modernden Kapitalismus-Kritik profilieren. Dazu wäre eine strikte Sozialstaats-Orientierung hilfreich, die klassenpolitisch konnotiert ist. Ausgangspunkt ist das Faktum, dass sozialer - und ökologischer - Fortschritt ein machtbasiertes Konfliktthema ist. Das Profil der Linkspartei könnte sich hier schärfen, wenn dieses Thema als "modernes Klassenthema" diskutiert würde. Aus einer zeitgemäßen Klassenperspektive wäre es aber unverzichtbar, sich um alle Fraktionen der Lohnabhängigen zu bemühen. Um die Arbeitslosen und die prekär Beschäftigten, aber auch um die Kernbelegschaften im industriellen Sektor. Hier besteht mitunter eine kulturelle Kluft, die zu überwinden wäre.

NG/FH: Wenn nun aber all diese Parteien sozusagen auf die gleiche Linie einschwenken würden, könnten sie die Kräfte nicht mehr bündeln, die man braucht, um insgesamt gesellschaftliche Mehrheiten zu erzielen, nicht nur in Wahlen. Für die SPD würde es womöglich einen gewissen Sinn ergeben, vor allem in der sogenannten Mitte zu grasen, um die mitzunehmen, die die Linkspartei und die Grünen gar nicht erreichen. Die drei Parteien müssten ja vor allen Dingen verschiedene gesellschaftliche Segmente und Milieus mitbringen und die SPD müsste diejenige sein, die die Brücken schlägt. Willy Brandt hat immer gesagt: "Sozialdemokratische Politik ist nur möglich, wenn das aufgeklärte Bürgertum und die Arbeiterklasse verbündet sind." Aber das ist wohl der schwierigste Teil.

Urban: Ja, ich habe versucht, programmatische Akzente der Parteien anzudeuten, die aber miteinander kompatibel sein müssen. Und diese Ausdifferenzierung parteipolitischer Markenkerne muss durch gemeinsame Konzepte zusammengehalten werden. Mit anderen Worten: Es geht um ein Modell mosaiklinker Arbeitsteilung, das hinreichend Raum für parteipolitische Profilierung lässt und zugleich ein markantes Profil des gemeinsamen Projektes ermöglicht.

Von besonderer Bedeutung ist eine profilbildende Bearbeitung des Demokratieproblems. Die Mosaikparteien müssen darauf reagieren, dass das Ansehen der Parteien insgesamt immer geringer wird. Die Menschen fühlen sich durch die politischen Repräsentanten nicht mehr hinreichend vertreten, egal ob konservativ, links oder sozialdemokratisch. Klientelparteien wie die FDP, die ohnehin nur eine kleine Wirtschaftselite vertreten, haben damit weniger Probleme. Volksparteien oder ein linkes Parteienbündnis, das für sich beansprucht, näher an den Nöten und Wünschen der Menschen zu sein, muss daran scheitern, wenn das Problem unbearbeitet bleibt.

NG/FH: Sind diese Gedanken annähernd konsensfähig bei den deutschen Gewerkschaften? Michael Sommer hat kurz vor seinem Ausscheiden noch mal betont, dass nach den Erfahrungen der letzten Jahre die parteipolitische Neutralität der Einheitsgewerkschaften, die sie ja sind, noch viel deutlicher profiliert ist. Können sie eine Vermittler- oder Katalysatorfunktion für eine mitte-linke Kooperation erfüllen?

Urban: Diese Diskussion ist in den Gewerkschaften bisher noch nicht besonders fortgeschritten. Es gibt keine systematische Debatte über die Perspektiven jenseits der Großen Koalition. Es dominiert ein pragmatisches Zugehen auf die einzelnen Parteien, in Abhängigkeit von Sachfragen. Doch auch wenn es zurzeit weder Debatten noch Beschlusslagen gibt, die Gewerkschaften könnten einiges tun, um das Zustandekommen einer Mosaik-Linken zu fördern.

Zunächst gilt es, die kleinen Verbesserungen, die in der Großen Koalition möglich sind, auch zu realisieren. Das ist ganz wichtig, weil für die Menschen, die teilweise sehr frustriert sind, wieder greifbar würde, dass Erfolge möglich sind, dass Engagement sich lohnt und die politische Klasse sich nicht gänzlich von der Bevölkerung abgekoppelt hat. Das könnte zugleich etwas Zuversicht in die Gesellschaft zurückbringen und dem vom Allensbach-Institut treffend bezeichneten "entspannten Fatalismus" entgegenwirken.

Aber meines Erachtens wären die Gewerkschaften vor allem als ein Motor der gesellschaftlichen Aktivierung gefordert. Als Akteur, der durch eine offensive und konfliktbereite Interessenpolitik die Gesellschaft in Bewegung setzt. Es gilt, produktive Unruhe zu stiften, damit endlich über die Perspektiven jenseits der Großen Koalition debattiert wird. Dazu sollten die Gewerkschaften etwa in der Tarif- und Sozialpolitik die Verteilungsfrage als eine Schlüsselfrage eines neuen Projektes lauter als bisher stellen. Es geht um eine gerechte Verteilung von Einkommen, Vermögen, sozialen Lebenschancen und Umweltverbrauch. Die zu entwickelnden Forderungen und Reformstrategien müssten dann mit neuer Ernsthaftigkeit an die Parteien herangetragen werden. Das Ansehen der Gewerkschaften ist in den letzten Jahren gestiegen, weil sie wohl eine insgesamt anerkannte Rolle in der großen Krise des Finanzmarktkapitalismus gespielt haben. Vielleicht könnten sie dieses Anerkennungskapital für die Debatte nutzbar machen.

NG/FH: Wie könnte das methodisch aussehen?

Urban: Das könnte zum Beispiel so ablaufen, dass die Gewerkschaften nicht nur Anforderungen und Eckpunkte einer solidarischen Politik formulieren, sondern auch "Orte und Anlässe der Debatte organisieren. Sie könnten den potenziellen Mosaikparteien ein quasi neutrales Gelände zur Verfügung stellen, um den Verständigungsprozess zu unterstützen. Ich denke da an Aktivitäten, die in der Tradition der gewerkschaftlichen Zukunftskongresse stehen, also an "mosaik-linke Verständigungskongresse". Gleichzeitig existiert eine entwickelte Landschaft an Stiftungen der Gewerkschaften und der Parteien, über die Diskussionen angestoßen und Kongresse vorbereitet werden könnten.

NG/FH: Die Gewerkschaften haben bis 1989 immer eine große gesellschaftspolitische Rolle gespielt, im Denken und im Handeln. Das scheint irgendwie weggebrochen zu sein. Wahrscheinlich hat das mit den Globalisierungsprozessen zu tun und der Defensive, in die die Linke bzw. gesellschaftlich-linkes Denkens überhaupt geraten ist. Können die Gewerkschaften sich vorstellen, noch einmal solch eine Rolle des gesellschaftspolitischen Vordenkens in veränderter Form zu spielen?

Urban: Die Frage und die mitschwingenden Bedenken sind durchaus berechtigt. Der Verständigungsprozess einer Mosaik-Linken erfordert, dass alle Teilnehmer am Mosaik sich weiterentwickeln. Auch die Gewerkschaften. Sie waren in den letzten Jahren mit großen, strukturellen Problemen wie der Erosion des Tarifvertrags-Systems, der Arbeitslosigkeit, der Prekarisierung des Arbeitsmarktes, des Verlustes von Mitgliedern und Finanzressourcen konfrontiert. Eine Antwort bestand in verstärkten Bemühungen, den Mitgliederrückgang zu stoppen und die Organisationsmacht zu erhalten. Die Mitgliederfrage hatte oberste Priorität und neue Organisationskonzepte wurden entwickelt. Diese Strategien waren grosso modo durchaus erfolgreich. Im Gegensatz zu anderen Gewerkschaften in Europa haben sich die deutschen in vielen Bereichen stabilisiert. Aber dieser Erfolg ging mit einer gewissen Fokussierung von Ressourcen und strategischer Aufmerksamkeit auf die Mitgliederfrage einher. Und das kann schnell zu einer Vernachlässigung und zum Verlust konzeptioneller Kompetenzen führen; und die Abwesenheit von konzeptionellen Antworten auf drängende Probleme endet schnell in strategischer Politikmüdigkeit - wenn nicht gegengesteuert wird! Mosaikfähig zu werden würde für die Gewerkschaften bedeuten, die organisationspolitische Stabilisierung durch einen deutlichen Ausbau konzeptioneller Kompetenzen und eine Aufwertung des politischen Mandats zu ergänzen. "Revitalisierung durch Repolitisierung" könnte die Kurzformel lauten.

NG/FH: Das Hauptproblem für die SPD war ja immer, die unterschiedlichen soziokulturellen Milieus für sich zu gewinnen und zu binden, um annähernd mehrheitsfähig zu werden. Sind denn die Gewerkschaften, die ja ganz verschiedene Berufsgruppen und kulturelle Sektoren sowie die für eine solche Politik relevanten gesellschaftlichen Milieus erreichen, in der Lage, diese Brücke zu bilden, die man braucht, um gesellschaftliche Unterstützung zu mobilisieren?

Urban: Ja, aber in Grenzen. Die Mosaikmetapher will ja auch andeuten, dass es manchmal gar nicht der richtige Weg ist, immer nach Akteuren zu suchen, die diese allumfassende Klammer bilden. Vielleicht gibt es die in den ausdifferenzierten Gesellschaften des Gegenwartskapitalismus gar nicht mehr. Vielleicht ist es eher die Aufgabe zivilgesellschaftliche Netzwerke und Kommunikationsstrukturen zu entwickeln.

NG/FH: Nun ist ja die IG Metall traditionell die Speerspitze eines gesellschaftspolitischen Denkens mit einem stärkeren Linksprofil. Ist zu erwarten, dass die wichtigsten anderen Gewerkschaften vieles von dem mittragen, was man unter Mosaik-Linke fassen könnte?

Urban: Die deutschen Gewerkschaften sind, wie wir wissen, aus guten historischen Gründen Einheitsgewerkschaften und daher mit Blick auf politische Positionierungen immer heterogen. Das wird sich auf absehbare Zeit nicht ändern. Insofern werden sie nie "mit einer Stimme" sprechen, wird es immer unterschiedliche Akzente und Nuancen geben. Aber ich glaube, dass bei zentralen Zukunftsfragen durchaus die Möglichkeit einer Verständigung und der Entwicklung gemeinsamer Perspektiven besteht. Es gibt ja ermutigende Belege dafür. So sind etwa Themen wie der ökologische Umbau der Industrie, die Energiewende oder die Zukunft öffentlicher Dienstleistungen für einzelne DGB-Gewerkschaften mit sehr unterschiedlichen Interessen und Risiken verbunden; und trotzdem öffnen sich alle diesen Themen und versuchen, ihre Rolle als Zukunftskraft und nicht als Strukturverteidigerin zu finden. Das verläuft mitunter etwas holprig, aber der ernsthafte Wille ist da. Und das ermutigt.

NG/FH: Ist hier nicht vor allem der DGB gefragt?

Urban: Das ist auch eine Rolle für den DGB, weil er die ureigene Aufgabe hat, die Schnittstellenthemen aufzugreifen. Der DGB alleine wäre damit allerdings überfordert. Er wird dann wohl eher als Moderator und Vermittler unter den großen Gewerkschaften auftreten denn als Speerspitze. Aber Prozesse anstoßen und eigene Impulse einbringen, das kann äußerst wichtig sein. Entscheidend wird aber sein, ob sich in den Mitgliedsgewerkschaften Mehrheiten dafür bilden lassen.

NG/FH: Gibt es Anzeichen für eine Bewegung in diese Richtung?

Urban: Ich glaube ja, vor allem, nachdem es gelungen ist, die Organisationsmacht zu stabilisieren und den drohenden freien Fall zu stoppen. Ich denke, die Bereitschaft, sich diesem Thema zu widmen, wird wachsen. Deutschland hat hinsichtlich der ökonomischen Situation noch eine gewisse Sonderstellung. Die krisenhafte Entwicklung in Südeuropa, die nicht zuletzt Folge der katastrophalen Austeritätspolitik ist und die mir große Sorgen macht, ist in Deutschland noch nicht angekommen. Sobald aber die Aufschwungphase hierzulande endet, wird sich auch in Deutschland ganz schnell herausstellen, dass die großen Themen der europäischen Integration, vor allem die Euro-Krise, nicht gelöst sind.

Nach meiner Auffassung sind aber weder die Parteien noch die Gewerkschaften mit Blick auf diese Fragen auf der Höhe der Zeit. Aber das wäre ein neues, schwieriges Thema. Nur so viel: Ich halte es für ausgesprochen notwendig, in der Debatte um eine progressive Krisenstrategie in Deutschland und der EU auch mit "produktiven Provokationen" zu arbeiten. Denn dieser Mehltau, der über der deutschen Gesellschaft liegt, wird durch den Regierungsstil der Problemverwaltung à la Angela Merkel immer dichter. In einem solchen Klima haben politische Kreativität und sozialer Reformmut keine Chance. Eine Beschwichtigungsrhetorik, die die Dinge nicht in ihrer realen Dramatik anspricht, hilft da nicht. Eine Mosaik-Linke hätte nicht zuletzt die Aufgabe, durch eine proeuropäische Europakritik in der Gesellschaft und den politischen Arenen für diskursive Unruhe zu sorgen, damit sich was bewegt. Wir brauchen Aktivität, polarisierende Debatten, produktive Provokation.

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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 6/2014, S. 33 - 39
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veröffentlicht im Schattenblick zum 16. Juli 2014