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MENSCHENRECHTE/217: Weltordnung - Menschenrechte als Grundlage (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 6/2009

Menschenrechte als Grundlage

Von Christoph Zöpel


Globale Machtverschiebungen, institutionelle Defizite, menschenrechtliche Ungleichheiten und globale Probleme bieten auch die Chance für den Aufbau einer legitimierten und nachhaltigen Weltordnung, welche die Menschenrechte berücksichtigt. Regionale Akteure hätten hierin eine Schlüsselfunktion.


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Für die Suche nach einer "neuen" Weltordnung werden verschiedene Gründe angeführt. Machtverschiebungen durch das Ende der unipolaren Stellung der USA, das Ende der G7-Dominanz, das Aufkommen neuer Mächte, voran der sogenannten BRIC-Staaten - Brasilien, Russland, Indien und China - und die Uneinigkeit des Westens bzw. der NATO; institutionelle Defizite durch das Ende des Nationalstaats-Modells, scheiternde Staatlichkeit sowie unzulängliche multilaterale Institutionen; menschenrechtliche Ungleichheiten, sowohl bei den politischen wie den sozialen Freiheitsrechten, sowie sie Präsident Roosevelt 1941 formuliert hat; und globale Probleme, wie die Gefahr nuklearer Vernichtung, Klimaveränderungen, Ressourcenmangel und unregulierte Finanzmärkte.

Machtverschiebungen entsprechen dem historischen Prozess, in dem sich die Weltordnung entwickelt. Orientierungsbezug ist immer noch die im Westfälischen Frieden 1648 vereinbarte Souveränität territorialstaatlicher Mächte, die miteinander Krieg führen durften oder sich um Gleichgewicht bemühten. Diese Westfälische Ordnung ging mit den Weltkriegen zu Ende. Es folgte die Bipolarität von USA und Sowjetunion, nach deren Implosion von Unipolarität gesprochen wird, mit den USA als einziger Weltmacht.

Mächten stehen Ohnmächte gegenüber, die territorialstaatliche Weltordnung zeigt die Ungleichheit der Staaten - entgegen der Gleichheitsfiktion der UN-Charta - und damit auch ungleiche Partizipationsrechte ihrer Bürger.

Was macht Staaten zu Mächten, die USA zur einzigen Weltmacht, die BRIC-Staaten zu aufstrebenden Mächten, Deutschland, Großbritannien, Frankreich, Italien, Japan und Kanada zu G7-Mitgliedern? Entscheidende Machtfaktoren sind: Einwohnerzahl, Wirtschaftskraft, militärische Stärke und territoriale Größe, Faktoren, die einander bedingen. "Weltunordnung", also Machtkonflikte, entstehen durch Disproportionalitäten zwischen ihnen.

Menschrechtlich geboten wäre es, der Einwohnerzahl Priorität zu geben. Die zehn einwohnerstärksten Staaten sind: mit riesigem Vorsprung China (1,3 Mrd. Einwohner) und Indien (1,1 Mrd.), danach die unipolare Macht USA (310 Mio.), Indonesien (230), Brasilien (190), Pakistan (170), Bangladesch (150), Nigeria und Russland (140) sowie Japan (130). In diesen zehn Staaten leben knapp zwei Drittel der Weltbevölkerung, das weitere gute Drittel lebt in 182 kleineren Staaten. Alle diese Staaten sind relativ stabil, die Instabilität Pakistans hat mit der Intervention der Sowjetunion und der USA im Nachbarstaat Afghanistan zu tun. Wirtschaftskraft und militärische Stärke begründen eine zur Einwohnerzahl disproportionale Hierarchie zwischen den Staaten, sie geben kleineren mehr Macht, primär den europäischen, aber auch Außenseitern auf militärischem Gebiet.

Die USA haben mit einem Bruttosozialprodukt von 12,5 Billionen US-Dollar die höchste Wirtschaftkraft gefolgt von Japan (4,6), Deutschland (2,8), China (2,3), Großbritannien und Frankreich (je 2,2), Italien (1,8), Kanada (1,1), Indien (0,9) sowie Brasilien, Russland, Südkorea und Mexiko (je ca. 0,8).

Das Ranking ändert sich, wenn die Kaufkraft berücksichtigt wird. Dann lautet es nach den USA: China (8,8 Billionen), Japan (4,0), Indien (3,8), Deutschland (2,4).

Grundlage für Einwohnerzahl und Wirtschaftskraft kann ein großes Territorium sein, immer ist es aber Grundlage von Rohstoffreichtum. Das mit Abstand größte von 17 Mio. km² hat Russland, die USA, China und Brasilien besitzen über 7,5 Mio., ebenso Kanada und Australien, zusammen bilden sie die großen sechs "Territorialstaaten", Indien folgt mit nur 3,3 Mio. km².

Ihre überlegene Wirtschaftskraft setzen die USA, ihre hohe Einwohnerzahl China in militärische Stärke um. Entsprechend der Daten aus The Military Balance 2009 des International Institutes for Strategic Studies haben die USA mit 553 Mrd. Dollar das höchste Militärbudget, China mit 2,2 Millionen die meisten Soldaten. Das Militärbudget der USA macht 43,2 % der gesamten Militärausgaben der Welt in Höhe von 1.280 Mrd. Dollar aus. So folgen die nächsten Staaten mit großem Abstand; Großbritannien (63 Mrd.), Frankreich (61), China (46), Deutschland (42), Japan (41), Italien (38), Saudi Arabien (35), Russland (32) sowie Indien (27).

Bei der Zahl der Soldaten folgen auf China die USA (1,54 Mio.), Indien (1,28), Nordkorea (1,11), Russland (1,03), Südkorea (687.000), Pakistan (617.000), Irak (577.000), Iran (523.000) sowie die Türkei (510.000). Atommächte sind die USA, Russland, China, Großbritannien, Frankreich, Indien, Pakistan, Nordkorea und Israel.

Die militärischen Kapazitäten der Staaten lassen sich für Allianzen zusammenfassen. Die NATO hat dann ein Militärbudget von 863 Mrd. US-Dollar, das sind 67% des globalen Budgets. Der "Westen", die Allianz zwischen Nordamerika und Europa, definiert sich gern durch seine Werte, seine Stärke ist aber militärisch begründet. Hier liegt ein Grund für das Misstrauen der anderen, unabhängig davon, ob der Westen seine Werte, also die universalen Menschenrechte, für die Bürger anderer Staaten tatsächlich umfassend gelten lässt. Allerdings sind Menschen eine Machtressource, wenn sie zu Soldaten werden; hier stehen den 4,05 Mio. NATO-Soldaten 16 Mio. der anderen gegenüber; militärische Assymetrie hat eine quantitative Grundlage.

Institutionelle Defizite der Weltordnung werden als Probleme von Staatlichkeit bzw. Governance diskutiert. Sie reichen von Failing States bis zu unzulänglichen globalen Institutionen. In Europa wird die abnehmende Handlungsfähigkeit des Nationalstaats gesehen, die transnationale Governance-Strukturen erfordert. Diese Sicht gilt von Europa aus, bedingt durch die beschränkte Größe seiner Staaten. Die USA, China und Indien verstehen sich als durchaus handlungsfähige Nationalstaaten. Mit der Europäischen Union ist eine transnationale Ebene entstanden, die nationale Handlungsfähigkeit ergänzt, Mehr-Ebenen-Staatlichkeit ist so konstituiert. Bei einer Einwohnerzahl von 500 Millionen und einem Territorium von 4,2 Millionen km² hat die EU globale Handlungsfähigkeit erreicht.

Fehlende Handlungsfähigkeit trifft mehr noch auf die kleinen Staaten anderer Weltregionen zu. Ihre innere wie äußere Souveränität ist eingeschränkt, sie können Beute ihrer korrupten Eliten sein, Spielball der großen Mächte, Ausgang von Stabilitätsgefahren sein.

Die Vereinten Nationen sind bisher nicht fähig, diese Handlungsdefizite zu beseitigen, weil sie finanziell unzulänglich ausgestattet sind, mehr aber, weil sie von den Mächten, die Ständige Mitglieder im Sicherheitsrat sind, instrumentalisiert werden.


Nur fiktive Gleichheit

Transnationale Governance-Strukturen führen zur Problematik ihrer Legitimierung. Die Europäische Union hat sie gelöst. Alle Mitgliedsstaaten wirken repräsentativ legitimiert mit, für das EU-Parlament dürfen alle Bürger wählen. Damit hat die Mehr-Ebenen-Staatlichkeit der "Europäischen Ordnung" das Problem der menschenrechtlichen Ungleichheit bei der politischen Partizipation gelöst - im Gegensatz zur Weltordnung.

Die "Machtindikatoren" erklären global die Verhältnisse zwischen den Staaten, sie rechtfertigen die bestehende Weltordnung nicht. Ihre Rechtfertigung muss in menschenrechtlichen Normen gefunden werden - der UN-Charta und der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte. Zwischen diesen völkerrechtlichen Verträgen tut sich ein formaler Konflikt auf zwischen den - allerdings nur fiktiven - gleichen Rechten der Staaten und den gleichen Rechten der Menschen; die Bürger größerer Staaten haben repräsentativ geringere Partizipationsmöglichkeiten. Die fiktive Gleichheit der Staaten ist aber im UN-Sicherheitsrat und in den Bretton Woods-Institutionen beiseite geschoben. Die Mehrheit der Staaten hat mindere Rechte, ihre Bürger damit keine Partizipationsmöglichkeiten.

Die globale Finanzkrise 2008/09 betrifft nicht nur die G7, so hat sie mit den G20 zur institutionalisierten Mitwirkung weiterer Staaten an globaler Wirtschaftspolitik geführt, mehr Bürger haben so repräsentative Partizipationsmöglichkeiten.

Haben die G7 die Reichen privilegiert, so führt die G20 zum Ausschluss der Armen, deren Staaten fordern zu Recht Mitwirkung. Das drängt zu einer Weltordnung der Mehr-Ebenen-Staatlichkeit, mit regionalen Akteuren, deren Einwohnerzahl ausgewogen ist. China und Indien sind dabei der Maßstab. Zu suchen wäre nach vier weiteren Regionen mit etwa einer Milliarde Einwohnern. Dieses Erfordernis erfüllen Amerika (950 Mio.) institutionalisiert mit der Organisation Amerikanischer Staaten, Afrika (950 Mio.) institutionalisiert in der Afrikanischen Union, die EU und die GUS gemeinsam (750 Mio.), der Association of Southeast Asian Nations (ASEAN) und South Asian Association for Regional Cooperation (SAARC) - ohne Indien - (ca. 1,5 Mrd.). Nicht integriert blieben die westasiatischen Staaten.

Ein historischen und gegenwärtigen Bedingungen näher kommendes Modell - das aber im Vergleich mit Indien und China kleinere Regionen bildet - wären neun Regionen: Nordamerika (550 Mio. Einwohner) institutionalisiert im North American Free Trade Agreement (NAFTA) und Dominican Republic-Central America Free Trade Agreement (DR-CAFTA); Südamerika (350 Mio.) institutionalisiert in der South American Union (SAU); die EU; die GUS; die Arabische Liga; Afrika südlich der Sahara; SAARC ohne Indien; ASEAN.

Noch anschlussfähiger an die tradierten machtstaatlichen Kategorien ist ein System, das die zehn einwohnerstärksten Staaten mit zusammen 60 % der Weltbevölkerung aufnimmt und das verbleibende gute Drittel regional integriert. Für regionale Integration steht die EU, ihrem Beispiel könnten - bei vielen Integrations- und Abgrenzungsschwierigkeiten untereinander und zu den zehn großen - die kleineren Staaten Südamerikas, Subsahara-Afrika, die Arabische Liga, der ASEAN und eine bis zwei weitere asiatische Regionen folgen.

Auf dieser Grundlage kann der UN-Sicherheitsrat reformiert werden, der dann ständig zehn Staaten und Vertreter von sechs Regionen als Mitglieder hätte, alle Bürger der Welt hätten repräsentativ Partizipationsmöglichkeiten.

Globale Probleme, die alle Menschen betreffen, ließen sich so besser lösen. Bei Kriegsgefahren könnten besser legitimierte Maßnahmen der UN unter Beteiligung aller Staaten erfolgen, die ungleiche Verteilung der Militärbudgets könnte berücksichtigt werden.

Ressourcenmangel, unregulierte Finanzmärkte, auch Klimaveränderungen verweisen auf die sozialen Menschenrechte. Soziale Ungleichheit in globaler Dimension betrifft selbstredend alle Menschen, nur in gegensätzlicher Weise. Das Sozialprodukt pro Kopf beträgt in den USA 42.000 US-Dollar, in China 1.800, in Indien und den meisten Staaten Afrikas weniger als 1.000. Ökologische Gefährdung in globaler Dimension betrifft alle Menschen, nur wird sie in ungleichem Maße verursacht. Der jährliche CO2-Ausstoß in den USA beträgt 21, in China vier Tonnen pro Kopf, in Subsahara-Afrika haben zwei Drittel der Menschen keinen Zugang zu elektrischer Energie. Universale Menschenrechte erfordern es, wirtschaftliche Leistung und ökologische Gefährdung den einzelnen Menschen zuzurechnen und nicht Staaten, unabhängig von ihrer Einwohnerzahl.

Eine legitimierte und nachhaltige Weltordnung kann eine global regulierte Wirtschaft, globale Sozialstaatlichkeit und globale Umweltstaatlichkeit hervorbringen. Dazu bedarf es neuer Institutionen bei repräsentativer Partizipation aller Bürger. Ein zweiter UN-Sicherheitsrat wäre sinnvoll. Er hätte die Aufgabe, globale sozial-ökonomische Regeln zu beschließen, auch solche zur globalen Verteilung von Ressourcen, zum globalen Finanzausgleich, zur globalen Entwicklungspolitik.


Christoph Zöpel (* 1943) Staatsminister a.D., war u.a, von 1978 bis 1990 Minister in NRW und von 2003 bis 2007 Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für die Vereinten Nationen. Zuletzt erschienen: Politik mit 9 Milliarden Menschen in Einer Weltgesellschaft.
christoph.zoepel@t-online.de


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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 6/2009, S. 18-21
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Siegmar Gabriel, Klaus Harpprecht, Jürgen Kocka und Thomas Meyer
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veröffentlicht im Schattenblick zum 1. Juli 2009