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MILITÄR/829: Piratenbekämpfung am Horn von Afrika - Willkür auf Verdacht (german-foreign-policy.com)


Informationen zur Deutschen Außenpolitik - 23.10.2009
(german-foreign-policy.com)

Willkür auf Verdacht


DJIBUTI/BERLIN/BRATISLAVA - Mit einer Debatte über die Piratenbekämpfung am Horn von Afrika hat am gestrigen Donnerstag das Treffen der NATO-Verteidigungsminister begonnen. Gegenstand der Gespräche waren Pläne, die zahlreichen vor der ostafrikanischen Küste operierenden Truppen (NATO, EU und unabhängige Staaten) enger zu koordinieren, um der Intervention größere Schlagkraft zu verleihen. Anlass sind recht magere Ergebnisse des multinationalen Marineeinsatzes. Wie jüngst veröffentlichte Statistiken belegen, führt die groß angelegte Intervention nicht zu einem Rückgang der Piratenattacken, sondern nur zur Gewalteskalation. Bisher greifbarstes Ergebnis ist die Durchsetzung des Willkürrechts des Stärkeren auf hoher See: Erst kürzlich berichtete die Bundesmarine, sie habe auf bloßen Verdacht hin zwei Schiffe gestoppt, die Passagiere zum Aussteigen gezwungen und die Schiffe anschließend versenkt. Wie es heißt, ist ein solches Vorgehen, das dem internationalen Recht Hohn spricht, inzwischen üblich. Damit überträgt die deutsche Marine die Willkürpraktiken, die EU-Kriegsschiffe im Mittelmeer gegen Flüchtlingsboote anwenden, auf die Meere vor der ostafrikanischen Küste. Unter anderem mit einer Debatte über die Piratenbekämpfung am Horn von Afrika hat am gestrigen Donnerstag das Treffen der NATO-Verteidigungsminister begonnen. Dabei ging es um Pläne, die zahlreichen Marineverbände, die jeweils eigenständig operieren, besser zu koordinieren. So unterhalten die EU und die NATO eigene Einheiten in denselben Gewässern, weitere Staaten (etwa Russland, China, Japan, Indien, Iran) sind mit nationalen Kontingenten vertreten. In der NATO wird diskutiert, eine engere Kooperation der beteiligten Einheiten einzuleiten, um die Schlagkraft zu erhöhen; außerdem bekäme der Westen damit die Gesamtoperationen stärker unter Kontrolle und könnte seine Vormacht stabilisieren.

Mehr Überfälle

Aktuelle Statistiken, die in dieser Woche vom International Maritime Bureau (IMB) der Internationalen Handelskammer (International Chamber of Commerce, ICC) veröffentlicht wurden, stellen der Intervention vor Somalia ein äußerst dürftiges Zeugnis aus. Das IMB unterhält in Kuala Lumpur (Malaysia) ein Piracy Reporting Centre (PRC), das Piratenattacken weltweit erfasst. Dem PRC zufolge ist es zwar gelungen, die "Erfolgsquote" der Piraten im Vergleich zum Vorjahr klar zu senken: Nur noch eins von neun attackierten Schiffen wurde in den ersten neun Monaten dieses Jahres entführt, während zwischen Januar und September 2008 noch eins von 6,4 Schiffen dieses Schicksal erlitt. Allerdings glichen die Piraten dies durch eine höhere Zahl an Angriffen aus: Bis zum 1. Oktober verzeichnete das PRC bereits 306 Attacken im Vergleich zu 293 im Gesamtjahr 2008. Dabei wurden 661 Personen zu Geiseln genommen, zwölf entführt, sechs getötet, acht gelten als vermisst. Mehr als die Hälfte der Piratenüberfälle weltweit fand am Horn von Afrika statt, wo auch die meisten Personenopfer zu beklagen waren.[1]

Mehr Gewalt

Gleichzeitig registriert das PRC eine dramatische Gewalteskalation. Demnach stieg die Zahl der Attacken, bei denen Schusswaffen benutzt wurden, um mehr als 200 Prozent im Vergleich zum Vorjahreszeitraum.[2] Am Rande der Interpol-Vollversammlung in Singapur bestätigten Experten letzte Woche, dass die Piraten nicht nur besser organisiert und weiter von den Küsten entfernt operieren, sondern sich auch schlagkräftigere Waffen beschaffen. Nicht nur deswegen stellen zahlreiche Fachleute den Erfolg der Marineintervention in Frage. "Ich kann nicht behaupten, dass es bei der Piraterie bis heute überhaupt einen Fortschritt gibt", erklärt der Polizeichef Somalias und verweist darauf, dass die Rückzugsbasen der Piraten auf somalischem Territorium von den rudimentären Polizeikräften dort überhaupt nicht kontrolliert werden können.[3]

Soziale Ursachen

Gänzlich außer Acht bleibt dabei, dass die sozialen Ursachen für das Entstehen der Piraterie ungemindert fortbestehen. Die Seeräuberei am Horn von Afrika erstarkte erst, als nach dem Zusammenbruch Somalias Fischereischiffe aus dem Ausland die Fischgründe des Landes plünderten und manche Somalis in Eigenregie die Küstenwache wiederaufzubauen suchten - erfolglos; doch ihre Aufrüstung ermöglichte den Übergang zur Freibeuterei.[4] Die anhaltende Überfischung der Küstengewässer auch durch westliche Boote entzieht der ohnehin unter desaströsen Umständen lebenden somalischen Bevölkerung weitere Erwerbsmöglichkeiten. Heute erzielen manche Piraten jedoch Millionensummen, indem sie vor der somalischen Küste Fischkutter aus der EU entern und nur gegen Lösegeld freigeben. Frankreich schützt mittlerweile dort kreuzende französische Fischerboote direkt mit Kriegsschiffen.

Schiffe versenkt

Erfolge erzielt die westliche Militärintervention allenfalls beim Aushebeln des internationalen Rechts auf hoher See. Vergangene Woche etwa stoppte ein Bundeswehr-Hubschrauber mit Warnschüssen aus seiner Bordmaschinenkanone drei Schiffe nahe den Seychellen. Die Marine behauptet, die elf Passagiere hätten Gegenstände ins Wasser geworfen, darunter angeblich eine Handfeuerwaffe. Bei der Durchsuchung der drei Boote wurden der Bundeswehr zufolge "keine Waffen gefunden", dafür jedoch "zehn Fässer mit Kraftstoff. Dies deutet auf Piraterie hin."[5] Wegen des Kraftstoffbesitzes zwangen die deutschen Soldaten die elf Passagiere auf eines der drei Boote, entließen sie aufs Meer und versenkten die beiden anderen Schiffe. "Dieses Vorgehen", heißt es in einem Korrespondentenbericht dazu, "hat sich inzwischen in allen solchen Fällen eingespielt, in denen mutmaßliche Piraten nicht zweifelsfrei bei einem Angriffsversuch festgesetzt werden" [6]: Da ohne Tatbeweis die gerichtliche Verfolgung unmöglich ist, springt in diesem Fall die deutsche Marine mit willkürlicher Bestrafung auf bloßer Verdachtsgrundlage ein. Die Praxis der Bundeswehr spricht damit dem internationalen Recht Hohn, das ein Recht auf freie Schifffahrt vorsieht - unabhängig von Herkunft und Ausstattung der Seeleute.

Schiffer erschossen

Todesopfer werden bei diesem Vorgehen einkalkuliert. Anfang September suchte die Fregatte "Brandenburg" ein Schiff zu stoppen; nach einigen Warnschüssen feuerten die deutschen Soldaten mit Maschinengewehren auf das Gefährt. Dabei wurde einer von fünf Insassen tödlich verletzt. Berlin erklärte die Überlebenden für "hinreichend piraterieverdächtig" und beantragte ihre Überstellung an ein kenianisches Gericht. Das EU-Operationshauptquartier verweigerte sich dem Ansinnen jedoch, da man dort eine Verurteilung in Kenia für unwahrscheinlich hielt. Der Todesschuss bleibt dennoch ohne Folgen: Die Staatsanwaltschaft Potsdam verzichtete auf Ermittlungen. Der Verzicht wurde nicht begründet.[7]

Wie im Mittelmeer

Das Willkürrecht des Stärkeren, das die deutsche Marine im EU-Verbund vor der ostafrikanischen Küste durchsetzt, erinnert an das Vorgehen europäischer Kriegsschiffe im Mittelmeer. Auch dort wird de facto das Recht auf freie Schifffahrt eingeschränkt -jedenfalls für Personen, die per Schiff nach Europa zu fliehen versuchen. Ein Rechtsgutachten, das von einigen Menschenrechtsorganisationen in Auftrag gegeben worden war, kam bereits vor zwei Jahren zu dem Schluss, "die Zurückweisung" von Migranten auf dem Meer, "das Zurückeskortieren, die Verhinderung der Weiterfahrt, das Zurückschleppen bzw. die Verbringung in nicht zur EU gehörige Küstenländer" sei "verboten".[8] Die offenkundige Rechtswidrigkeit eines solchen Vorgehens hindert die EU-Staaten jedoch nicht daran, weiterhin die Schifffahrt nach ihrem Gutdünken zu regulieren - im Mittelmeer nicht anders als vor Somalia, in Zukunft wohl auch in weiteren Gewässern.


Anmerkungen

[1], [2] Unprecedented increase in Somali pirate activity;
www.icc-ccs.org

[3] No Progress on Piracy, Somali Police Chief Says; The New York Times 14.10.2009

[4] s. dazu Unverzüglich versenken
http://www.german-foreign-policy.com/de/fulltext/57511

[5] EU NAVFOR ATALANTA - Fregatte Bremen stoppt mutmaßliche Piraten;
www.bundeswehr.de 13.10.2009

[6], [7] Mutmaßliche Piraten freigelassen; Frankfurter Allgemeine Zeitung 15.10.2009.
S. auch Vor der Küste des Jemen
http://www.german-foreign-policy.com/de/fulltext/57609

[8] Andreas Fischer-Lescano, Tillmann Löhr: Rechtsgutachten:
Menschen- und flüchtlingsrechtliche Anforderungen an Maßnahmen der Grenzkontrolle auf See, September 2007.
S. dazu Transitland unter Druck
http://www.german-foreign-policy.com/de/fulltext/57442


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Quelle:
www.german-foreign-policy.com
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veröffentlicht im Schattenblick zum 24. Oktober 2009