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MILITÄR/947: Der Zwei-Prozent-Konflikt (german-foreign-policy.com)


Informationen zur Deutschen Außenpolitik - 9. Juli 2018
german-foreign-policy.com

Der Zwei-Prozent-Konflikt


BERLIN/BRÜSSEL - Vor dem NATO-Gipfel Mitte dieser Woche dauert die Debatte um eine massive Aufstockung des deutschen Militärhaushalts an. Nach dem Beschluss der Bundesregierung, den Wehretat im kommenden Jahr um mehr als zehn Prozent auf 42,9 Milliarden Euro zu erhöhen, stellt Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen eine weitere Steigerung auf rund 60 Milliarden Euro bis 2024 in Aussicht. Während die Bundesregierung suggeriert, damit US-Forderungen Rechnung zu tragen, sind die Mittel tatsächlich notwendig, um teure nationale bzw. europäische Rüstungsvorhaben zu finanzieren, darunter ein milliardenschwerer, im Verbund mit Killerdrohnen und Drohnenschwärmen operierender deutsch-französischer Kampfjet. Bedeutende Projekte, die auf dem NATO-Gipfel abgesegnet werden sollen, sind ebenfalls geeignet, Fähigkeiten zur nationalen bzw. europäischen Kriegführung zu stärken, darunter der Bau eines Hauptquartiers zur Optimierung von Truppentransporten in Ulm. Den Ausbildungseinsatz der Bundeswehr im Irak will Berlin nicht im NATO-Rahmen, sondern national weiterführen.

60 Milliarden Euro

Bundeskanzlerin Angela Merkel hat am Wochenende erneut bekräftigt, den deutschen Wehretat bis 2024 "schrittweise" an den Wert von zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) "anzunähern". Zwei Prozent des deutschen BIP wären auf der Grundlage heutiger Wachstumsschätzungen laut einer Untersuchung der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) und der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) im Jahr 2024 rund 85 Milliarden Euro - eine Steigerung von 2017 bis 2024 um 129 Prozent.[1] Weil eine so beispiellose Aufstockung des Militärhaushalts derzeit als kaum durchsetzbar gilt, hat die Kanzlerin ihre Ankündigung auf die "Annäherung" an diesen Wert beschränkt. Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen hält allerdings eine Erhöhung auf 1,5 Prozent des BIP im Jahr 2024 für möglich; das wären voraussichtlich 60 Milliarden Euro. In einem ersten Schritt hat die Bundesregierung beschlossen, den Wehretat von 38,5 Milliarden Euro in diesem Jahr auf 42,9 Milliarden Euro im Jahr 2019 anzuheben. Kürzlich hat der Wehrbeauftragte des Bundestages, Hans-Peter Bartels, darauf hingewiesen, dass dieser Betrag noch steigen kann: In diesem Jahr werde die Bundeswehr ihren Haushalt womöglich nicht ausschöpfen können; die zur Verfügung stehenden Mittel könnten allerdings "ins nächste Jahr geschoben werden". Damit werde "der Beschaffungsetat 2019 noch weiter verstärkt".[2]

"So schlecht wie NAFTA"

Die Ankündigungen der Bundesregierung erfolgen nicht zuletzt mit Blick auf den NATO-Gipfel, der am Mittwoch und Donnerstag dieser Woche in Brüssel abgehalten wird. US-Präsident Donald Trump hat bereits am Rande des G7-Gipfels den Druck auf die dort vertretenen NATO-Staaten weiter erhöht und mit der Äußerung, die NATO sei "so schlecht wie NAFTA" [3], Sorgen bestärkt, die Vereinigten Staaten könnten ihre Aktivitäten in dem Kriegsbündnis reduzieren; Trump übt massive Kritik an NAFTA und schließt einen Austritt aus dem Bündnis nicht aus. Zudem hat der US-Präsident in Briefen an die Staats- und Regierungschefs mehrerer NATO-Mitglieder, darunter die Bundesrepublik, zum wiederholten Male seine Forderung nach Aufstockung der jeweiligen Militärhaushalte bekräftigt. In einem Schreiben an Kanzlerin Merkel heißt es etwa: "Wie wir während Ihres Besuchs im April besprochen haben, nimmt in den Vereinigten Staaten der Unmut darüber zu, dass einige Verbündete ihre Ausgaben nicht wie versprochen erhöht haben. Das ist für uns nicht mehr tragbar."[4] Zugleich stocken die USA die Ausgaben für militärische Aktivitäten in Europa kontinuierlich auf - auf nationaler Ebene. So hat Trump die Mittel, die im Rahmen der European Deterrence Initiative (EDI, zuvor European Reassurance Initiative) für US-Manöver, die Einlagerung von Kriegsgerät sowie den Bau militärischer Infrastruktur in Europa zur Verfügung stehen, von 4,8 Milliarden US-Dollar im Jahr 2018 auf 6,5 Milliarden US-Dollar 2019 erhöht. Die Mittel kommen unter anderem der nationalen Operation Atlantic Resolve (OAR) zugute.[5]

Deutsch-europäische Rüstung

Während Berlin den Eindruck erweckt, mit der Aufstockung des Militäretats vor allem auf Druck aus den Vereinigten Staaten zu reagieren, trägt es tatsächlich seinen eigenen weitreichenden Aufrüstungsvorhaben Rechnung. So wird die Bundeswehr personell wieder aufgestockt; diverse kostspielige Rüstungsprojekte von der Beschaffung eines neuen Sturmgewehrs bis hin zum Kauf neuer Kriegsschiffe stehen bevor.[6] Gemeinsam mit Frankreich hat Deutschland begonnen, neue Kampfpanzer und neue Kampfjets einschließlich mit ihnen verbundener Killerdrohnen und Drohnenschwärme entwickeln zu lassen (german-foreign-policy.com berichtete [7]). Parallel hat Berlin Maßnahmen im Rahmen der neuen EU-Militärkooperation (PESCO) in die Wege geleitet; zudem beteiligt es sich an der von Paris initiierten "Europäischen Interventionsinitiative".[8] Hauptziel ist nach wie vor der Aufbau einer schlagkräftigen europäischen Streitmacht, wobei die Bundesregierung aber nicht mehr ausschließlich auf die EU orientiert: Dies ermöglicht es, den Nicht-EU-Staat Norwegen sowie vor allem - nach seinem Austritt aus der Union - das Vereinigte Königreich in die Militarisierung des Kontinents einzubeziehen.

Für alle Formate offen

Parallel dazu kommt wichtigen Maßnahmen, die Berlin auf dem NATO-Gipfel diese Woche beschließen lassen oder für die es zumindest Unterstützung gewinnen will, hohe Bedeutung auch für nationale sowie europäische Kriegsplanungen jenseits des transatlantischen Kriegsbündnisses zu. So soll in Brüssel der Beschluss der NATO-Verteidigungsminister, in Deutschland ein neues Hauptquartier zu errichten, in aller Form bestätigt werden. Das Hauptquartier - Joint Support and Enabling Command (JSEC) - soll den Transport von Streitkräften quer über den europäischen Kontinent planen, optimieren und im Ernstfall auch führen; es wird in Ulm errichtet - und nur bei Bedarf der NATO unterstellt. Grundsätzlich steht es für deutsche Kriege auch in völlig anderen Bündnisformaten, etwa mit EU-Militäroperationen, zur Verfügung.[9] Darüber hinaus wird die NATO auf ihrem Gipfel die Mitteilung der EU-Kommission thematisieren, 6,5 Milliarden Euro zur Verfügung stellen zu wollen, um die militärische Infrastruktur in der Union auszubauen. Auch davon profitiert nicht zuletzt die EU selbst. Schließlich soll eine von den USA geforderte Initiative namens "Four Thirties" gestartet werden. Sie soll die NATO in die Lage versetzen, aus dem Stand binnen 30 Tagen 30 Bataillone, 30 Flugzeugstaffeln und 30 Schiffe in einen Krieg zu schicken. Wenngleich noch unklar ist, ob Berlin der US-Forderung wie gewünscht bis 2020 in vollem Umfang Rechnung tragen kann, stärkt die angestrebte schnelle Einsatzbereitschaft die Bundeswehr auch jenseits der NATO.

Nationaler Einsatz im Irak

Dem entspricht, dass sich die Bundesregierung laut jüngsten Berichten einem wichtigen Vorhaben der NATO verweigert. Das Kriegsbündnis will auf seinem Brüsseler Gipfeltreffen einen Einsatz im Irak förmlich beschließen, auf den sich die NATO-Verteidigungsminister bereits geeinigt haben. Es wird sich um eine sogenannte Ausbildungsmission handeln, in deren Rahmen die irakische Armee trainiert werden soll. Geplant ist ein Umfang von rund 550 Militärs. Das Vorhaben gilt als wichtiger Beitrag, um den Einfluss des Westens in Bagdad zu stärken, der aufgrund der Nähe bedeutender Kräfte im irakischen Establishment zu Iran als nicht dauerhaft gesichert gilt. Deutschland steht dem Ansinnen durchaus positiv gegenüber und plant einen nationalen Ausbildungseinsatz der Bundeswehr, der insbesondere irakische Offiziere trainieren und Personal zur Minenräumung ausbilden soll.[10] Der Einsatz, zu dem deutsche Militärs für je sechs bis acht Wochen von ihrem Stützpunkt Al Azraq in Jordanien eingeflogen werden sollen, wird allerdings nach dem Willen der Bundesregierung in nationaler Hoheit durchgeführt. Die Absicht, die in der Berliner Regierungskoalition von der SPD durchgesetzt worden sein soll, trägt dem deutschen Ziel Rechnung, im Nahen und Mittleren Osten als eigenständige Kraft aufzutreten.


Anmerkungen:

[1] Claudia Major, Christian Mölling, Torben Schütz, Alicia von Voss: Hintergrundpapier: Was das 2%-Ziel der NATO für die europäischen Verteidigungshaushalte 2024 bedeutet. Herausgegeben von der Stiftung Wissenschaft und Politik und der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik. Berlin 2018.

[2] Donata Riedel: Bundesregierung will Wehretat bis 2024 erhöhen. handelsblatt.com 08.06.2018.

[3] Jonathan Swan: Scoop: Trump's private NATO trashing rattles allies. axios.com 28.06.2018.

[4] Julie Hirschfeld Davis: Trump Warns NATO Allies to Spend More on Defense, or Else. nytimes.com 02.07.2018.

[5] S. dazu Vom Frontstaat zur Transitzone
https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/7183/
und Vom Frontstaat zur Transitzone (II)
https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/7381/

[6] S. dazu Die Kosten der Weltpolitik
https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/7609/

[7] S. dazu Die Rüstungsachse Berlin-Paris
https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/7593/

[8] S. dazu Die Koalition der Kriegswilligen
https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/7651/

[9] S. dazu Transatlantische Konkurrenten
https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/7530/

[10] Deutschland meidet Nato-Mission im Irak. spiegel.de 06.07.2018.

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Quelle:
www.german-foreign-policy.com
Informationen zur Deutschen Außenpolitik
E-Mail: info@german-foreign-policy.com


veröffentlicht im Schattenblick zum 11. Juli 2018

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