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MILITÄR/987: Zwischen Frieden und Krieg (german-foreign-policy.com)


Informationen zur Deutschen Außenpolitik - 10. Oktober 2022
german-foreign-policy.com

Zwischen Frieden und Krieg

EU-Ausbildungseinsatz für 15.000 ukrainische Soldaten startet in Kürze. Trainiert wird auch für Offensiven gegen die russisch besetzten Gebiete. Wird dies als Kriegseintritt gewertet?


BERLIN/KIEW - Die EU trägt mit ihrem kurz bevorstehenden Ausbildungseinsatz für ukrainische Soldaten gezielt zur ukrainischen Offensive gegen die von Russland besetzten Gebiete bei. Das geht aus den am Wochenende bekannt gewordenen Details zu dem EU-Trainingseinsatz hervor, der am Montag nächster Woche beschlossen werden soll. Insider hatten bereits vor geraumer Zeit darauf hingewiesen, dass die ukrainischen Streitkräfte sich in den vergangenen Jahren auf Defensivtaktiken zur Abwehr eines russischen Angriffs spezialisiert hatten, jetzt aber offensive Fähigkeiten benötigen, um russische Stellungen zu erobern. In Großbritannien trainieren ukrainische Soldaten schon heute den Häuserkampf, um Städte wie etwa Cherson einnehmen zu können. Weitere Kompetenzen sollen ihnen Ausbilder aus EU-Staaten vermitteln, darunter Soldaten der Bundeswehr. Die Frage, ob damit die Schwelle zum aktiven Kriegseintritt überschritten ist, stellt sich nun mit neuer Dringlichkeit. Das geschieht zu einem Zeitpunkt, zu dem mutmaßliche Sabotageakte in Deutschland einen Bundeswehrgeneral zu der Äußerung veranlassen, man befinde sich in der Schwebe zwischen Frieden und Krieg.

Militärtraining für die Ukraine

Die militärische Ausbildung ukrainischer Soldaten findet in Europa bislang auf rein nationaler Ebene statt. Die umfangreichsten Aktivitäten entfaltet bisher Großbritannien, dessen Trainingsprogramm Operation Interflex inzwischen rund 5.000 ukrainische Militärs durchlaufen haben; zur Unterstützung haben mehrere NATO-Staaten sowie Neuseeland Militärausbilder in das Vereinigte Königreich entsandt.[1] Geplant ist zunächst, gut 10.000 Ukrainer zu trainieren. Eine etwaige Verlängerung der Maßnahme wird zur Zeit positiv bewertet. Frankreich räumt offiziell nur ein, rund 40 ukrainische Soldaten in den Gebrauch der Haubitze Caesar eingewiesen zu haben; allerdings bestätigen Insider, man führe auch spezialisierte Trainingsprogramme durch, gebe diese nur nicht offiziell bekannt. Polen wiederum bildet Ukrainer bereits in der Handhabung von Flugabwehrraketen aus, während die Bundeswehr ihnen die Funktionsweise und die Nutzung beispielsweise der Panzerhaubitze 2000 sowie des Flugabwehrpanzers Gepard vermittelt. Die entsprechenden Maßnahmen werden etwa in der Artillerieschule der Bundeswehr in Idar-Oberstein (Rheinland-Pfalz) [2] sowie auf dem Truppenübungsplatz Putlos (Schleswig-Holstein) durchgeführt.

EU-Ausbildungseinsatz

Die Bündelung der kontinentaleuropäischen Trainingsmaßnahmen für ukrainische Soldaten in einem zentral gesteuerten EU-Ausbildungseinsatz wird bereits seit Monaten immer wieder gefordert. Am 30. August haben die EU-Verteidigungsminister schließlich grünes Licht für sie gegeben. Die Ausarbeitung des Programms ist offenbar weitestgehend abgeschlossen; der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell hat angekündigt, der Einsatz - im Gespräch ist die Bezeichnung European Union Military Assistance Mission (EUMAM) - werde am Montag kommender Woche (17. Oktober) beschlossen.[3] Berichten zufolge ist das Training von zunächst 15.000 ukrainischen Soldaten geplant; eine Ausweitung ist möglich. Eine zentrale Rolle kommt demnach zwei Einsatzhauptquartieren zu, von denen eines in Polen, das zweite in Deutschland angesiedelt werden soll. In Polen sind Trainingsmaßnahmen in der Cyber-, ABC- und Luftabwehr geplant, aber auch im Artillerieeinsatz.[4] In Deutschland stehen, wie es heißt, Minenräumen und Taktikschulungen im Vordergrund.[5] Einzelmaßnahmen in weiteren EU-Staaten sind geplant. Das Mandat für den künftigen Ausbildungseinsatz beläuft sich dem Vernehmen nach auf vorerst zwei Jahre; es kann problemlos verlängert werden.

Häuserkampf, Territorien erobern

Die geplanten, teilweise schon die bisherhigen Trainingsmaßnahmen gehen dabei deutlich über eine bloße Einweisung in den Gebrauch westlicher, vom ukrainischen Militär zuvor nicht genutzter Waffensysteme hinaus. So werden ukrainische Soldaten in einer Einrichtung in Kent ausgebildet, in der britische Truppen auf Einsätze in Nordirland, Afghanistan und Irak vorbereitet wurden. Dort steht Häuserkampf auf dem Programm - Operationen, wie sie etwa benötigt werden, sollten die ukrainischen Streitkräfte versuchen, Städte wie Cherson oder Melitopol zurückzuerobern.[6] Für die militärischen Offensiven, die sie planen, um die von Russland annektierten Gebiete einzunehmen, benötigen die ukrainischen Truppen zudem Fähigkeiten in der Eroberung russischer Abwehrstellungen oder auch im Beseitigen von Minenfeldern. Letzteres soll ihnen nach aktuellem Stand die Bundeswehr vermitteln - dies eventuell in Kooperation mit den niederländischen Streitkräften. Weil das ukrainische Militär sich in den vergangenen Jahren vor allem auf die defensive Abwehr russischer Angriffe vorbereitet hatte, messen Fachleute dem Erlernen von Offensivfähigkeiten eine besondere Bedeutung bei: Es sei, wird ein Experte zitiert, wie wenn man "einen Torhüter zum Stürmer" mache.[7]

Die Frage des Kriegseintritts

Die Bundesregierung hatte nach Kriegsbeginn zunächst gezögert, die Bundeswehr mit der Ausbildung ukrainischer Soldaten zu beauftragen, weil unklar war, ob dies als Kriegseintritt gewertet werden kann. Der Wissenschaftliche Dienst des Bundestags kam Mitte März in einer Analyse zu dem Schluss, Waffenlieferungen seien unbedenklich; wenn man allerdings "auch die Einweisung der Konfliktpartei" in den Gebrauch der gelieferten Waffen leiste, "würde man den gesicherten Bereich der Nichtkriegsführung verlassen".[8] Zwar gibt das Verteidigungsministerium sich gewiss, dies sei nicht der Fall; Justizminister Marco Buschmann wird mit der Einschätzung zitiert, "95 Prozent der Völkerrechtswissenschaft" erklärten Ausbildungsmaßnahmen für absolut unproblematisch.[9] Allerdings weckt erstens die Analyse des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestags Zweifel daran; zweitens ist unbekannt, welche völkerrechtliche Auffassung Russlands Regierung vertritt. Dies hatte die Bundesregierung zunächst dazu bewogen, zumindest einer Ausweitung der militärischen Trainingsmaßnahmen einzelner EU-Staaten zu einem umfassenden EU-Ausbildungseinsatz eine Absage zu erteilen. Davon ist Berlin jetzt abgerückt.

Angriff auf die Infrastruktur

Der EU-Ausbildungseinsatz, der womöglich einem Kriegseintritt gleichkommt, wird zu einem Zeitpunkt gestartet, zu dem ein mutmaßlicher Sabotageakt in der Bundesrepublik für erhebliche Unruhe sorgt. In der Nacht von Freitag auf Samstag waren Kommunikationskabel der Deutschen Bahn an zwei Stellen - nahe Berlin und in Nordrhein-Westfalen - durchtrennt worden; dies hatte zu einem mehrstündigen Zugausfall in weiten Teilen Norddeutschlands geführt. Die Deutsche Bahn stufte die Tat, die eine ungewöhnlich detaillierte Kenntnis der Bahninfrastruktur voraussetzt, als einen "Sabotageakt" ein.[10] Die Ermittlungen dauern an. Am gestrigen Sonntag stellte der Kommandeur des Territorialen Führungskommandos der Bundeswehr, General Carsten Breuer, den Anschlag in einen Zusammenhang mit dem Ukraine-Krieg. "Wir stellen uns ... auf hybride Bedrohungen ein", erklärte Breuer; so könne es jederzeit zu Angriffen beispielsweise auch auf Kraftwerke oder Umspannstationen, also auf die Stromversorgung, kommen: "Das ist der Zustand zwischen nicht mehr ganz Frieden, aber auch noch nicht richtig Krieg."[11]


Anmerkungen:

[1] Genannt werden Dänemark, die künftigen NATO-Staaten Schweden und Finnland, Litauen, die Niederlande und Kanada. Cristina Gallardo, Clea Caulcutt: Ukraine's military recruits need training. Only one of Europe's giants is pulling its weight. politico.eu 16.09.2022.

[2] S. dazu Die Kriegsdrehscheibe Rheinland-Pfalz.
https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/8918

[3] Josep Borrell: Revisiting the question of Europe's order. eeas.europa.eu 05.10.2022.

[4] EU will bis zu 15.000 ukrainische Soldaten ausbilden - mit Einsatzhauptquartieren in Deutschland und Polen. businessinsider.de 09.10.2022.

[5] Claudia Heider: Bericht: EU will bis zu 15.000 ukrainische Soldaten ausbilden. br.de 09.10.2022.

[6], [7] Cristina Gallardo, Clea Caulcutt: Ukraine's military recruits need training. Only one of Europe's giants is pulling its weight. politico.eu 16.09.2022.

[8] Sachstand: Rechtsfragen der militärischen Unterstützung der Ukraine durch NATO-Staaten zwischen Neutralität und Konfliktteilnahme. Deutscher Bundestag, Wissenschaftliche Dienste. WD 2 - 3000 - 019/22. Berlin, 16.03.2022.

[9] Ausbildung ukrainischer Soldaten an Panzerhaubitzen gestartet. br.de 11.05.2022.

[10] Bahn-Ermittlungen "in alle Richtungen". Frankfurter Allgemeine Zeitung 10.10.2022.

[11] General Breuer warnt vor mehr Anschlägen. tagesschau.de 09.10.2022.

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Quelle:
www.german-foreign-policy.com
Informationen zur Deutschen Außenpolitik
E-Mail: info@german-foreign-policy.com

veröffentlicht in der Online-Ausgabe des Schattenblick am 11. Oktober 2022

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