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PARTEIEN/086: Scheinbare Stärke - Warum manche große Koalition auch schwach sein kann (WZB)


WZB Mitteilungen - Nr. 124/Juni 2009
Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung

Scheinbare Stärke
Warum manche Große Koalition auch schwach sein kann

Von Alexander Petring


Große Koalitionen sind ein seltenes Phänomen. In präsidentiellen Systemen wie den USA sind sie gar nicht vorgesehen. In parlamentarischen Demokratien mit Zweiparteiensystemen wie Großbritannien stellen sie die absolute Ausnahme dar; dort regierte zuletzt im Zweiten Weltkrieg eine "Koalition der nationalen Einheit". Nur in einigen wenigen Ländern waren sie in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts der Normalfall: in der Schweiz und in Österreich. In Deutschland sind Große Koalitionen auf Bundesebene ebenfalls die Ausnahme. Vor 2005 gab es sie nur einmal, von 1966 bis 1969. Nach den Erfahrungen mit der ersten Großen Koalition verbinden die Menschen mit einem solchen Bündnis sowohl große Erwartungen als auch große Befürchtungen: Sie erhoffen sich einerseits außergewöhnliche Handlungsfähigkeit, befürchten jedoch andererseits das Erstarken von Parteien und Bewegungen an den Rändern des ideologischen Spektrums.

Die Erwartungen der Wähler an die Handlungsfähigkeit der gegenwärtigen Großen Koalition wurden bisher weitgehend enttäuscht, zumindest zeigten dies die Umfragen bis zum Eintritt der Finanzkrise. Die Große Koalition hat nach Ansicht der Wähler also keine großen Leistungen vollbracht, manch ein Beobachter schrieb ihr eher "große Fehler" zu, wie Heribert Prantl am 22. November 2008 in der "Süddeutschen Zeitung" feststellte. Weitaus häufiger wurde und wird der schwarz-roten Koalition allerdings vorgeworfen, untätig zu sein - ein Vorwurf, den man der historischen Vorgängerin, der ebenfalls CDU-geführten Großen Koalition unter Kurt Georg Kiesinger, nicht gemacht hat. Stillstand gehörte nicht zu ihren angeblichen Verfehlungen. Denn obwohl die "vergessene Regierung", wie der Titel eines Buchs über die erste Große Koalition lautet, nicht von einem charismatischen Kanzler angeführt wurde, prägten die Entscheidungen dieser Koalition die nächsten Jahrzehnte der deutschen (Innen-)Politik wie nur wenige andere.

Wirtschaftspolitisch wurde der Schwenk zum Keynesianismus vollzogen, die "Konzertierte Aktion" ins Leben gerufen, durch die Vertreter der Politik, der Gewerkschaften und der Arbeitgeber zusammenkamen, um gemeinsam Maßnahmen gegen die damalige Wirtschaftskrise zu entwickeln. Eine Haushaltsreform wurde umgesetzt, ein Ausgleich zwischen der Rentenversicherung für Arbeiter und Angestellte vorgenommen, Arbeitslosengeld und -hilfe um jeweils über 7 Prozentpunkte erhöht. Die Notstandsgesetzgebung führte zu massiven Protesten, die den Höhepunkt der 68er Bewegung bilden sollten. Auch die Finanzreform, die für einen stärkeren finanziellen Ausgleich zwischen den Bundesländern sorgen sollte, hatte nachhaltige Folgen: 1985 brachte Fritz W. Scharpf mit der "Politikverflechtungsfalle" die erkennbaren Folgen dieses Verbundföderalismus auf den Begriff. Die gegenwärtige Regierung versucht mit großer Mühe, diese Verflechtung zu entwirren. Und um ein Haar hätte die erste Große Koalition sogar eine Wahlrechtsreform beschlossen, die in Deutschland das Mehrheitswahlrecht nach britischem Vorbild verankert hätte.

Diese Beispiele machen deutlich, dass die damalige Große Koalition eine Vielzahl von Reformen durchgesetzt hat, von denen sie überzeugt war. Welche Reformvorhaben hat dagegen die Große Koalition unter Angela Merkel verwirklicht? Eine Gesundheitsreform, die diesen Namen nicht verdient, weil sie erkennbar eine Übergangslösung darstellt; den Versuch der Haushaltskonsolidierung mit einer Mehrwertsteuererhöhung, ohne eine umfassende Steuerreform anzupacken.

Warum fällt die Bilanz beider Großen Koalitionen so unterschiedlich aus? Einer Antwort könnte man sich über eine Begriffsdefinition annähern. Was eigentlich ist eine Große Koalition? Interessanterweise fehlt in der Politikwissenschaft eine allgemeingültige Definition. Doch drei prominente Theorieschulen zur Koalitionsbildung geben Hinweise: Die erste Schule der Koalitionstheorie erwartet minimum winning coalitions. Das sind Koalitionen, die zusammen die geringstmögliche Parlamentsmehrheit erreichen, im Extremfall also nur 51 Prozent der Abgeordneten umfassen. Ämter und Einfluss (die "Beute") können so auf möglichst wenige Abgeordnete verteilt werden, und der einzelne Abgeordnete maximiert dadurch seinen Anteil. Demgegenüber erwartet eine andere Theorieschule mit minimal winning coalitions solche Koalitionen, die aus der kleinstmöglichen Anzahl von Parteien gebildet werden. Dahinter steckt die Annahme, dass jede weitere Regierungspartei die Verhandlungen komplizierter macht und Kompromisse erschwert. Deswegen sollte das Kalkül der Parteiführer sein, eine solche Koalition zustande zu bringen, die zu einer Regierung mit möglichst wenigen weiteren Verhandlungspartnern führt. Das Gegenstück hierzu sind Koalitionen, die beispielsweise aus drei Parteien bestehen, obwohl bereits zwei für eine Parlamentsmehrheit ausreichend wären. Eine dritte Theorie behauptet, dass sich vor allem Koalitionen von jenen Parteien bilden, die die geringsten programmatischen Unterschiede aufweisen. Auch hier wird vermutet, dass eine große ideologische Bandbreite die Formulierung gemeinsamer Maßnahmen erschwert.

Wenn man also Große Koalitionen als Abweichungen vom theoretischen Normalfall versteht, ergibt sich folgende Definition: Große Koalitionen können Koalitionen mit mehr Abgeordneten als notwendig sein, mehr Parteien als erforderlich umfassen und aus Parteien bestehen, die ideologisch weiter voneinander entfernt sind, als dies mehrheitsarithmetisch geboten wäre.

Welchem dieser drei Kriterien entsprach die Koalition von 1966 bis 1969? Im Jahr 1966 gab es rechnerische Mehrheiten für alle Konstellationen: Neben einem schwarz-gelben hätte auch ein rot-gelbes Bündnis eine Mehrheit von zwei Abgeordneten besessen. Die Große Koalition umfasste hingegen über 90 Prozent der Abgeordneten; von den 496 Parlamentariern waren gerade einmal 49 nicht in der Regierungskoalition. Die gegenwärtige Mehrheit der schwarz-roten Koalition nimmt sich dagegen mit nur knapp 73 Prozent fast bescheiden aus - und: Die jetzige Koalition ist eine minimal winning coalition. Jede andere Mehrheitskoalition hätte mindestens drei Parteien umfassen müssen. 1966 hingegen bestand jede Alternative aus zwei Parteien, wenn man von einer Allparteienkoalition absieht.

Wie war es damals um die ideologische Distanz bestellt? Innen- und außenpolitisch bildeten CDU und SPD die Extrempositionen im Parlament ab. Zwar war nach der Verabschiedung des Godesberger Programms im Jahr 1959 die SPD sukzessive in die Mitte gerückt. Markante Unterschiede waren gleichwohl zu erkennen - bis hin zum heutzutage schwer vorstellbaren Aufeinandertreffen ehemaliger NSDAP-Mitglieder (Kanzler Kiesinger und Verteidigungsminister Schröder, beide CDU) mit einem ehemaligen KPD-Politiker (Herbert Wehner, SPD) am Kabinettstisch der Großen Koalition. Und der stellvertretende Leiter des Presse- und Informationsamtes Conrad Ahlers war nur vier Jahre zuvor auf Veranlassung des neuen Finanzministers Franz Josef Strauß wegen angeblichen Landesverrats verhaftet worden ("SPIEGEL-Affäre"). Ideologische und persönliche Differenzen gab es damals also zuhauf.

Eine Koalition mit Guido Westerwelle und Sahra Wagenknecht im Kabinett hätte heutzutage vielleicht ähnliches Konfliktpotenzial zu bieten, zwischen dem Führungspersonal von CDU und SPD sucht man solche Differenzen hingegen vergeblich. Die beiden anderen im Herbst 2005 mehr oder weniger ernsthaft diskutierten Koalitionen - Schwarz-Gelb-Grün ("Jamaika") und Rot-Gelb-Grün ("Ampel") - hätten ebenfalls zu größeren ideologischen Differenzen in der Regierung geführt, als es bei der gegenwärtigen Koalition der Fall ist. Die jetzige Koalition ist also die kleinstmögliche, und zwar im Hinblick sowohl auf die Anzahl der Koalitionsparteien als auch auf die ideologische Distanz zwischen diesen Parteien. Damit erfüllt sie nur bezüglich der Anzahl der Regierungsabgeordneten das Kriterium einer Großen Koalition. Sie ist also mitnichten eindeutig eine Große Koalition.

Und genau in den beiden fehlenden Eigenschaften zu einer Großen Koalition liegen auch die Gründe für das Ausbleiben von richtungsweisenden Entscheidungen oder weitreichenden Reformen. Es zeigt sich nämlich im internationalen Vergleich, dass es gerade nicht Einparteienregierungen oder ideologisch homogene Zweiparteienregierungen sind, die unpopuläre Entscheidungen treffen. Die Sozialpolitik ist hierfür ein fruchtbares Untersuchungsfeld; neben der Steuerpolitik ist es wohl nirgends so einfach, sich den Unmut der Wähler zuzuziehen, wie durch Rentenkürzungen oder Reduzierung des Arbeitslosengeldes. Aus diesem Grund finden sozialpolitische Kürzungen häufig versteckt statt, beispielsweise durch Nichtanpassung von Sozialleistungen an Preis- und Lohnsteigerungen oder durch Reformen, die ihre Wirkung erst mit einigen Jahren Verzögerung zeitigen. Die Politikwissenschaft hat ein solches Verhalten von Regierungsparteien als blame avoidance bezeichnet. Die politisch Verantwortlichen versuchen also, Zuständigkeiten zu verschleiern oder den Inhalt der Maßnahmen zu verstecken.

Interessanterweise ergibt eine Untersuchung der Regierungstätigkeit in der Sozialpolitik von 1980 bis 2002 in 18 westlichen Demokratien, dass es vor allem Einparteienregierungen und ideologisch benachbarte Zweiparteienregierungen sind, bei denen ein blame avoidance-Verhalten zu erkennen ist. Ein prominentes Beispiel hierfür ist die Thatcher-Regierung (1979 - 1990) in Großbritannien: Selbst die "Eiserne Lady" hat keine strukturelle Rentenreform durchgesetzt. Stattdessen wurde durch kleine Steuerreformen und ausbleibende Rentenanpassungen die gesetzliche Rente immer weiter gekürzt, und die Anreize zur privaten Altersvorsorge wurden schrittweise erhöht. Umso erstaunlicher waren die Hartz-Reformen der Schröder-Regierung; die Konsequenzen bei den darauffolgenden Wahlen und die innerparteilichen Schwierigkeiten für die SPD überraschen jedoch nicht.

Für Koalitionen von Parteien, die ideologisch große Differenzen haben, gibt es insbesondere bei unpopulären Maßnahmen jedoch eine Alternative: Sie können öffentliche Vorwürfe dadurch entkräften, dass sie den Wählern den Eindruck eines umfassenden Konsenses vermitteln. Man glaubt eher an die Richtigkeit einer Entscheidung, wenn Parteien aus unterschiedlichen Lagern die Notwendigkeit einer unliebsamen Maßnahme beteuern, als wenn die Unterstützung hierfür nur aus einem politischen Lager kommt. Blame sharing statt blame avoidance, so lässt sich dieses Phänomen beschreiben. Erforderlich dafür ist freilich die Bereitschaft zum Kompromiss, wie Altkanzler Helmut Schmidt immer wieder betont hat: "Wer den Kompromiss prinzipiell nicht kann oder nicht will, der ist zur demokratischen Gesetzgebung nicht zu gebrauchen. Allerdings ist mit dem Kompromiss oft ein Verlust an Stringenz und Konsequenz des politischen Handelns verknüpft. Solchen Verlust muss der demokratische Abgeordnete willig in Kauf nehmen. Das gehört ins Stammbuch der deutschen Idealisten geschrieben."

Die Fähigkeit zum Kompromiss kann man den Politikern der gegenwärtigen Großen Koalition nicht absprechen. Der Wille hingegen ist nur noch schwach ausgeprägt. Und dieser Umstand ist wiederum der ideologischen Nähe der beiden Regierungsparteien zueinander geschuldet. Angesichts der zahlreichen Wahlen in diesem Jahr müssen CDU/CSU und SPD darauf bedacht sein, ihr jeweiliges Profil zu schärfen, um Abwanderungen zu den Grünen, der FDP und der Linkspartei zu verhindern. 1969 bestand die parlamentarische Alternative hingegen einzig in einer sozialliberalen FDP, die bei dem Versuch, sich noch zwischen den beiden Volksparteien zu positionieren, einen Stimmenverlust von 3,7 Prozent hinnehmen musste.

So paradox es also zunächst klingen mag: Etwas größere ideologische Differenzen können sich positiv auf die Handlungsfähigkeit von Regierungen auswirken. Zugeständnisse in unterschiedlichen Politikfeldern führen dazu, dass sowohl unpopuläre Reformen beschlossen werden können als auch einzelne, für das Profil der verschiedenen Regierungsparteien wichtige Inhalte verwirklicht werden. Bei einer CDU-SPD-Koalition schwingt dagegen bei jeder Entscheidung der Verdacht mit, dass die beiden Parteien ohnehin in den meisten Fragen nicht mehr voneinander zu unterscheiden seien.

Sollte nach der Bundestagswahl im September das parlamentarische Kräfteverhältnis ähnlich aussehen wie vor vier Jahren, wäre den Politikern also mehr Mut zu Kompromissen bei der Koalitionsbildung zu wünschen. Eine Große Koalition aus drei Parteien ("Ampel" oder "Jamaika") hätte wohl hinreichend Gelegenheiten, um die Last weitreichender Entscheidungen auf ihre unterschiedlichen ideologischen Schultern zu verteilen.


Alexander Petring hat in Heidelberg Politikwissenschaft, Volkswirtschaftslehre und Philosophie studiert. Von 2004 bis 2008 war er wissenschaftlicher Mitarbeiter am WZB in der Abteilung Demokratieforschung, wo er auch seine Doktorarbeit über die Reformtätigkeit in Wohlfahrtsstaaten verfasste. Momentan arbeitet er am Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung in Köln.
petring@wzb.eu


Kurz gefasst

Großen Koalitionen wird nachgesagt, dass sie besonders handlungsfähig seien. Im Vergleich mit der Großen Koalition von 1966 bis 1969 schneidet die gegenwärtige Koalition jedoch schlecht ab. Der Grund hierfür liegt darin, dass die aktuelle Regierung bei genauer Betrachtung nur wenige Merkmale einer Großen Koalition besitzt. Vor allem mangelt es ihr an ideologischen Differenzen - ein Umstand, der häufiger zu Vermeidungsverhalten führt (shame avoidance).


Literatur

Alexander Petring, Reformtätigkeit in Wohlfahrtsstaaten. Akteure, Konstellationen und Institutionen, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2009 (im Erscheinen)

Michael Laver, "Government Formation and Public Policy", in: PS: Political Science & Politics, Vol. 33, No. 1, 2000, S. 21-23

William H. Riker, The Theory of Political Coalitions, New Haven: Yale University Press 1962, 312 S.

Reinhard Schmoeckel, Bruno Kaiser, Die vergessene Regierung. Die große Koalition 1966-1969 und ihre langfristigen Wirkungen, Bonn: Bouvier Verlag 1991, 375 S.


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Quelle:
WZB Mitteilungen Nr. 124, Juni 2009, Seite 17 - 20
Herausgeberin:
Die Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung
Professorin Jutta Allmendinger Ph.D.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 1. September 2009