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PARTEIEN/124: Der Hannoveraner Kreis - Die ersten 20 Jahre der Strömung (spw)


spw - Ausgabe 1/2013 - Heft 194
Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft

Der Hannoveraner Kreis - Die ersten 20 Jahre der Strömung

Von Uwe Kremer



Im Dezember 1971 wurde - so die Legende - der Hannoveraner Kreis (HK) der sog. Juso-Linken gegründet. Dass sich seitdem bis zum heutigen Tage immer wieder neue Generationen von Juso-Funktionsträgern in der Tradition des HK sehen, ist bemerkenswert und erklärt sich m.E. aus zwei "diskursiven" Eigenschaften dieser Strömung: nämlich einem hohen Grad an Autonomie in der eigenen theoretisch-politischen Entwicklung und einer hohen Fähigkeit, gesellschaftliche Veränderungen und darauf bezogene Erkenntnisse zu adaptieren und sich selbst dabei zu verändern und neu aufzustellen.

Wenn ich nun auf die ersten 20 Jahre des HK eingehe, so muss ich darauf hinweisen, dass ich bei der Gründung nicht dabei war. Erstens erfolgte mein Eintritt in die SPD und die Juso-Arbeit erst 1972. Außerdem wandte ich mich in den 70er Jahren eher anderen marxistischen Juso-Strömungen zu, bevor es mich Anfang der 80er Jahre mit einem Teil des Bezirks Hannover (der sich der Geographie zum Trotz bis dato nicht dem HK zurechnete) in den HK verschlug. 1984 bis 1990 gehörte ich dem Juso-Bundesvorstand an und koordinierte von 1985 bis 1989 den HK, bevor ich dann in die Redaktion der Zeitschrift spw wechselte.


Entstehung und Charakteristika des "Hannoveraner Kreises" als "Stamokap-Strömung"

Der HK entstand Anfang der 70er Jahre, als aus der außerparlamentarischen und insbesondere der Studentenbewegung ein massenhafter Zustrom in die SPD erfolgte. Nach der gemeinsam durchgesetzten Linkswende des sozialdemokratischen Jugendverbandes im Jahr 1969 kam es bei den Jusos schnell zu Flügelbildungen, die zuerst im Kontext eines Strategiekongresses Ende 1971 stattfanden und sich dann bis ca. 1977 immer weiter zuspitzten. Dabei muss man im Blick haben, dass dies Teil einer ausgeprägten und leidenschaftlichen Strömungsbildung (bzw. "Fraktionierung") war, die das gesamte, gesellschaftlich durchaus breite sozialistische Spektrum damals prägte.

Diese Periode war vom Hintergrund her stark geprägt von den internationalen Veränderungen wie dem Aufschwung von Befreiungsbewegungen in der sog. Dritten Welt, dem Sturz autoritär-faschistischer Regimes in Südeuropa, einer (scheinbaren) Stabilisierung des sog. sozialistischen Lagers bzw. der Sowjetunion und insbesondere außerparlamentarischen Bewegungen und reformpolitischen Aufbrüchen in den entwickelten kapitalistischen Ländern, in Deutschland manifestiert in der sog. Brandt-Ära, also der Zeit der Kanzlerschaft von Willy Brandt (1969 bis 1974). So stand für alle Strömungen der Linken resp. der Jusos in den 70er Jahren - ganz anders als in den nachfolgenden Jahrzehnten - die Frage im Mittelpunkt, wie man von hier aus zu einer sozialistischen Umgestaltung gelangen könne. Die Antworten machten den inhaltlichen Kern der Strömungen aus:

  • Die "reformistische" oder "reformsozialistische" Strömung ging davon aus, dass die Brandt'sche Sozialdemokratie schon die richtige Richtung eingeschlagen habe, dass es aber nun darauf ankomme, sie reformpolitisch zu radikalisieren. Fluchtpunkt ihrer "Doppelstrategie" war das Parlament. Macht eine Frage der parlamentarischen Konstellation. Der Weg zum Sozialismus ein parlamentarischer. Sympathien brachte man dem "schwedischen Weg" entgegen, also der schrittweisen Ausdehnung des Wohlfahrtsstaates auf die noch kapitalistisch dominierte Ökonomie. Vor diesem Hintergrund hielt man es nach der portugiesischen "Nelkenrevolution" 1974/75 z.B. auch - in Abgrenzung zu radikaleren Tendenzen - mit den portugiesischen Sozialisten und ihrem parlamentarischen Weg. Bei den Jusos handelte es sich in den 70er Jahren um die - v.a. strukturell - dominierende, sich insbesondere mit den starken Parteilinken in Hessen und Schleswig-Holstein verschränkende Strömung.
     
  • Die antiautoritäre bzw. "antirevisionistische" Strömung ging davon aus, dass es darauf ankomme, die verschiedenen und noch spontanen Formen gesellschaftlicher Selbstorganisation auszubauen, bisherige Arbeits- und Lebensweisen zu hinterfragen und dabei auch mit den bürokratisch-etatistischen Organisationsstrukturen der herkömmlichen Arbeiterbewegung - sei sie sozialdemokratischer oder kommunistischer Provenienz - zu brechen. Macht war autonome Gegenmacht, der Weg zum Sozialismus ein rätedemokratischer. Man sympathisierte mit den Rätebewegungen in Chile, Italien, Portugal, usw. Der Kern der auf den Bezirk Hannover konzentrierten Gruppe hielt es allerdings nicht lange in der SPD aus. Viele ihrer Anhänger fanden sich später im grünen Spektrum wieder. Bei den Jusos verteilten sich die Anhänger im Laufe der Zeit dann auf die beiden anderen Strömungen und den "Göttinger Kreis".
     
  • Die "traditionalistische" bzw. "Stamokap"-Strömung setzte vorrangig weder auf Selbstorganisation noch auf den Parlamentarismus, sondern v.a. auf die Organisationen der Arbeiterbewegung - mit starker Betonung der Einheitsgewerkschaften - und auf organisierte Bündnisstrukturen mit anderen sog. demokratischen Bewegungen. Macht und der Weg zum Sozialismus waren mit der Organisierung eines stabilen Linksblockes verbunden, hierbei sehr stark auf antifaschistische Traditionen rekurrierend, wodurch es eine vergleichsweise hohe Affinität zur Zusammenarbeit mit kommunistischen Organisationen gab, die allerdings in Deutschland durch deren begrenzte Größe und mangelnde Distanz zum Sozialismus sowjetischen Typs relativiert wurde. Keine Strömung identifizierte sich in jenen Jahren mehr mit der chilenischen und mit der französischen Volksfront aus Linksparteien und organisierter Arbeiterbewegung. Hochburgen waren in den 70er Jahren insbesondere Hamburg, Berlin und Ostwestfalen-Lippe.

Die Bezeichnung als "Stamokap"-Strömung lehnte man eigentlich immer ab. Richtig war zwar, dass die sog. Theorie des staatsmonopolistischen Kapitalismus sowohl im Hamburger Strategiepapier von 1971, wie auch in den Herforder Thesen von 1978/80 als analytischer Hintergrund eine zentrale Rolle spielte. Aber für das Selbstverständnis war sie eigentlich weniger konstitutiv als die oben skizzierte Denkfigur. Es war eher so, dass diese Theorie sehr gut zu dieser Denkfigur passte und insofern adaptiert wurde. Das Hamburger Strategiepapier deklinierte den "Stamokap"-Ansatz ziemlich konsequent durch. Das Monopolkapital sei zur bestimmenden Kategorie der kapitalistischen Ökonomie geworden und die Indienstnahme des Staates im wirtschaftlichen Prozess bzw. "staatsmonopolistische" Verflechtung seien das den modernen Kapitalismus bestimmende Regulierungsprinzip. Dies bedrohe die Demokratie und sie erfordere und ermögliche umgekehrt eine Eroberung der wirtschaftlichen Kommandohöhen und eine Demokratisierung der monopolisierten Wirtschaft durch die Nationalisierung der sog. Schlüsselindustrien, ihre Unterwerfung unter eine demokratische staatliche Planung und eine umfassenden Demokratisierung der Unternehmen selbst.

Begrifflich war sie zwar durch KP-nahe Ökonomen ausgearbeitet und durch die KPen selbst in eine Doktrin verwandelt worden, im sachlichen Kern handelte es sich aber um eine Weiterentwicklung der in den 20er Jahren in der Sozialdemokratie verbreiteten Theorie des "organisierten Kapitalismus" und der daran anschließenden Strategie wirtschaftlicher Demokratisierung. Die Besonderheit der Theorie bestand dabei nicht in der Feststellung einer Konzentration und Zentralisation des Kapitals oder einer zentralen Rolle des Staates im wirtschaftlichen Geschehen oder einer systematischen Beziehung zwischen diesen beiden Tatsachen. Alles dies war in den verschiedenen Strömungen der Linken und der Jusos weitgehend unumstritten. In der Sache umstritten war vielmehr, welcher Stellenwert diesen Tatsachen bzw. Tendenzen zukommt bzw. inwieweit es sich bei dieser Verflechtung von Staat und Monopolkapital und den daraus abgeleiteten Antagonismen tatsächlich um den heute bestimmenden Mechanismus des Kapitalismus handelt. Stoßrichtungen der Kritik waren:

  • Diese alles übergreifende "staatsmonopolistische" Dominanz gebe es nicht, vielmehr seien die grundlegenden ökonomischen Gesetze der kapitalistischen Wirtschaft (bis hin zu denen der Finanzmärkte) unabhängig davon übergreifend wirksam.
     
  • Auch die soziopolitischen Konstellationen (bzw. "Klassenverhältnisse") seien - insbesondere in Bezug auf die sog. Mittelschichten und deren angeblich "objektiven Interessen" nicht auf die Logik "Monopolkapital vs. nicht-monopolistische Kräfte" zu reduzieren.
     
  • Es gebe (noch) andere Merkmale, die für den modernen Kapitalismus ökonomisch und v.a. soziopolitisch mindestens ebenso konstitutiv seien, insbesondere die spezifische Prägung von Bedürfnis- und Konsumstrukturen, Arbeits- und Lebensweisen.

Auch aus meiner Sicht war der Ansatz des Hamburger Strategiepapiers und - mit Abstrichen - auch der späteren Herforder Thesen reduktionistisch, d.h. auf Fragen politisch-ökonomischer Macht institutionalistisch und instrumentalistisch fixiert, was spätestens mit dem "Projekt Moderner Sozialismus" Ende der 80er Jahre dazu führte, den SMK-Ansatz nur noch als einen unter mehreren theoretischen Ansätzen zum Verstehen des modernen Kapitalismus zu führen. Aber was m.E. auf der anderen Seite bleibt, dass dieser Ansatz für das Verständnis gerade heute wieder aktueller Mechanismen des Kapitalismus - seien es bestimmte "staatsmonopolistische" Infrastrukturkomplexe (z.B. im Energie- und Verkehrssektor) oder die Prozesse in der Strukturierung der Finanzmärkte - eine empirisch-konkrete Bedeutung hat. Und bei aller Berechtigung, ein umfassendes, Produktions- und Lebensweisen integrierendes Verständnis von gesellschaftlichen Veränderungen zu entwickeln, dürfen die mit Hilfe wirtschaftsdemokratischer Mechanismen zu schaffenden Zugänge zu den Schaltstellen wirtschaftlicher Macht nicht aus den Augen verloren gehen.


Die Konsolidierung des "Hannoveraner Kreises" im Übergang zu den 80er Jahren: Herforder Thesen und "aktionsorientierte Politik"

Allerdings wurde der "Stamokap"-Ansatz damals von vielen Gegnern auch als Indiz dafür genommen, dass sich der HK vor den Karren der DKP-Kommunisten spannen lässt, was die Härte der folgenden Auseinandersetzungen maßgeblich mitbestimmte. Handelte es sich zunächst bei den Strömungsauseinandersetzungen um papierne theoretisch-strategische Kongressschlachten, die ihren Höhepunkt auf dem Wiesbadener Bundeskongress 1975 und der dortigen "Reform und Staat"-Debatte fand, endete die erstmalige Wahl eines HK-Vertreters, Klaus-Uwe Benneter, zum Juso-Bundesvorsitzenden im Jahr 1977 mit seinem zügigen Parteiausschluss - und zwar aufgrund mangelnder Abgrenzung zur DKP im Rahmen von außerparlamentarischen Bewegungen in einer Zeit, die sich immer grundlegender von der Periode Anfang der 70er Jahre unterschied. Im Angesicht einer sozialdemokratisch geführten Bundesregierung (Helmut Schmidt) gerieten die Jusos in diesem Zeitraum aufgrund des immer offenkundigeren Stillstands der Reformpolitik im Inneren, der neokonservativen Offensive und der Zuspitzung der internationalen Blockkonfrontation (sog. Nachrüstungsdebatte) und aufkommender neuer sozialer Bewegungen in eine immer schwierigere Situation.

In dieser Zeit wandte sich der HK immer stärker diesen Bewegungen, wie auch der Gewerkschaftsjugend und den Interessenvertretungen an Schulen und Hochschulen zu, was seine Attraktivität in Teilen des Verbandes und der dort nachrückenden Generation von Funktionsträgern deutlich erhöhte. Aktions- und Bewegungsorientierung, gewerkschaftlich orientierte Interessenvertretung und Vorfeldorganisation waren hierfür konzeptionelle Stichworte, gewissermaßen verbandspolitische Ausprägungen der oben skizzierten Charakteristik der Strömung.

Damit war der HK aber nicht nur ein Teil der Jusos und Sozialdemokratie, sondern auch eines breiteren Spektrums bundesrepublikanischer Kräfte, zu dem weite Teile der intellektuellen, künstlerischen wie wissenschaftlichen Linken, der linken Jugend- und Hochschulverbände, der gewerkschaftlichen Linken, ja sogar der kirchlichen Linken zählten. Die DKP spielte hierin mit ihren Vorfeldorganisationen zweifellos eine sehr bedeutende Rolle. Diese miteinander verflochtenen Elemente - häufig insgesamt als "Stamokap"-Spektrum tituliert - sorgten von Mitte der 70er bis mindestens Mitte der 80er Jahre für eine recht stabile linke, mehr oder weniger sozialistisch ausgerichtete Infrastruktur, ohne die etwa die Friedensbewegung, aber auch die gewerkschaftlichen Offensiven und die lange anhaltende linke Hegemonie im Hochschulbereich so nicht denkbar gewesen wären.

Andererseits hatten die kader- und bündnispolitischen Bemühungen der DKP um Einflussgewinn unterhalb der parlamentarischen Ebene Ende der 70er Jahre eine neue Qualität erreicht. Und der HK wurde mit dem Vorwurf konfrontiert, derartige Bemühungen zu tolerieren bzw. sich darin einspannen zu lassen (oder sie in Teilen sogar aktiv mitzutragen). Angesichts der sturen Fixierung der deutschen Kommunisten auf die Interessenslagen von DDR und UdSSR musste dieser Vorwurf, bei allen eigenen Abgrenzungen von der DKP, umso schwerer wiegen. Beginnend mit dem Parteiausschluss des Juso-Bundesvorsitzenden Klaus-Uwe Benneter kam es jedenfalls zu einer regelrechten Ausschlusswelle, gefolgt von heftigsten fraktionellen, sich wechselseitig verstärkenden Grabenkämpfen innerhalb wie auch außerhalb des Juso-Verbandes, die sich erst Mitte der 80er Jahre beruhigten.

Gleichzeitig - und nicht mehr als reine HK-oder Juso-Projekte - wurden die Zeitschrift spw gegründet und 1978/80 die "Herforder Thesen - Zur Arbeit von Marxisten in der SPD" erarbeitet. Diese Thesen knüpften am "Hamburger Strategiepapier" an, entwickelten darin aber den eigenen und sich von autoritär-sozialistischen Modellen unterscheidenden Ansatz weiter. Pate standen dabei Prozesse in den westeuropäischen Linksparteien, die unter den Stichworten "Eurokommunismus" und "Eurosozialismus" Hoffnung auf einen neuen und gemeinsamen Diskurs der "Euro-Linken" jenseits der alten Schlachtordnungen zwischen Kommunismus und Sozialdemokratie machten. In der analytischen und programmatischen Ausrichtung stand das Dokument ganz klar in der Tradition des "Hamburger Strategiepapiers", dessen wirtschaftspolitische Programmatik 1980 auch Eingang in das Wirtschaftspolitische Grundsatzprogramm der Jusos fand.

Allerdings wurden die Thesen zu einem Zeitpunkt verfasst, als die realen Entwicklungen schon Fragen aufwarfen, die darin noch gar nicht gestellt wurden geschweige denn Antworten fanden. Es waren einige grundlegende Umwälzungen, die sich schon in den 70er Jahren anbahnten, aber in den 80er Jahren spürbar zum Durchbruch kamen:

  • Nach dem Vormarsch der Linken bis Mitte der 70er Jahre kam es zu einer immer heftiger werdenden Gegenbewegung im Zeichen des Neokonservatismus und Neoliberalismus (hierzulande 1983 im Beginn der Ära Kohl mündend). Sie fasste in den Milieus der lohnabhängigen Mittelschichten Fuß, während die traditionellen Milieus der Arbeiterklasse - auch und gerade im Zuge über Konjunkturzyklen hinausgehender tiefgreifender ökonomischer Strukturveränderungen
  • zunehmend erodierten.
     
  • Auf der anderen Seite artikulierten sich aber in neuen sozialen Bewegungen, im politischen Spektrum insbesondere über die Grünen, tiefgreifender, aber in den Berufs- und Lebenszusammenhängen und Milieus neue Bedürfnisse und Anforderungen in Bezug auf die Geschlechterrollen, auf Möglichkeiten individueller Selbstverwirklichung, auf die Bedeutung ökologischer Kriterien etc., was auch die bei den Jusos nachwachsende Generation prägte.

Das innerverbandliche Strömungsgefüge hatte sich mittlerweile verändert. Die "antirevisionistische" Strömung war sowieso längst verschwunden. Ihre basisdemokratisch-selbstorganisierten Akzente gingen in grüne Diskurse ein, die bei den Jusos wiederum zunächst von der "reformistischen", nunmehr als "undogmatisch" firmierenden Strömung aufgegriffen wurden. Aber auch der HK entrümpelte seinen Traditionsbestand und öffnete sich Ansätzen aus dem Bestand der anderen Strömungen - insbesondere in den verbandspolitischen Ansätzen und in Verknüpfung mit der oben angesprochenen Aktions- und Bewegungsorientierung. Entscheidend aber war, dass es eigentlich auch nicht mehr um Auseinandersetzungen in den Kostümen der 70er Jahre ging, sondern um die Neuaufstellung angesichts grundlegend geänderter wirtschaftlicher, gesellschaftlicher und politischer Verhältnisse. Mitte der 80er Jahre hatte sich der Hannoveraner Kreis nicht nur konsolidiert, sondern innerverbandlich sogar an Einfluss gewonnen. Dies drückte sich insbesondere darin aus, dass sich auch die Bezirke Hannover und Westliches Westfalen mehrheitlich dem HK verbunden fühlten und im HK selbst eine führende Rolle spielten.


Jenseits von "Stamokap": Projekt Moderner Sozialismus

Ca. 1985 setzte eine massive Neuformierung im HK ein, die mit einer immer stärkeren Rolle innerhalb des Verbandes und später auch im Verhältnis zur Parteilinken einherging. Inhaltlich verbunden war sie mit dem "Projekt Moderner Sozialismus" und den sog. 53 Thesen, die 1989 nach einem intensiven Reflektions- und Arbeitsprozess zur Veröffentlichung gelangten. Hierbei wurde auch die Frage nach der Bedeutung der "Stamokap"-Theorie für die beobachtbaren Entwicklungen und unsere strategischen und programmatischen Antworten aufgeworfen. Im Endeffekt kam es dazu, diesen theoretischen Ansatz deutlich zu relativieren.

Mit dem "Stamokap"-Ansatz wurden aus unserer Sicht zwar wesentliche Aspekte der kapitalistischen Ökonomie und ihrer Regulierung erfasst. Völlig unterbelichtet war dabei aber die Art und Weise, wie in den jeweiligen Entwicklungsstufen des Kapitalismus produziert und konsumiert wird. So wurde das - mit Elementen der Stamokap-Theorie durchaus kompatible - Regulierungstheorem des "Fordismus" adaptiert: "Fordismus" (benannt nach dem von Henry Ford geprägten Modus der Automobilproduktion) bezeichnet einen Regulierungstypus, der auf Massenproduktion, Massenkonsum und wohlfahrtsstaatlichen Mechanismen beruht und sich auf die häusliche Reproduktion und Familie, die Rolle der Geschlechter und der Generationen, die räumliche Entwicklung und Lebensstile und nicht zuletzt auf die Ökologie und die globale Entwicklung auswirkt. In den 70er und 80er Jahren geriet der "Fordismus" aber als Wachstums- und Integrationsmodell in die Krise. Da auch die soziopolitischen Kräfte insgesamt und die Arbeiterbewegung und die sozialistischen Alternativen "fordistisch" geprägt waren, gerieten sie vermittelt über die Änderung von Klassen- und Bedürfnisstrukturen, Lebensbeziehungen und Milieus gleich mit in die Krise. Die Linke werde sich nur gegenüber der neokonservativen und neoliberalen Offensive behaupten können, wenn sie auf den aufziehenden "post-fordistischen" Kapitalismus auch eine "post-fordistische" Antwort finde.

Eine weitere wesentliche Veränderung ergab sich in diesem Zusammenhang in der Sichtweise auf den sog. Sozialstaat. Im Hamburger Strategiepapier wie auch in den Herforder Thesen spielte er - ein Blick in die Gliederungen reicht schon aus - eine kaum sichtbare und vor allem keine eigenständige Rolle, wie auch weite Teile der Linken insgesamt den Sozialstaat unterbewerteten - entweder als von der Arbeiterbewegung erkämpfte soziale Zugeständnisse oder als Integrationsinstrument im Rahmen des "Stamokap"-Schemas, nicht aber als Regulierungsmechanismus mit einer eigenständigen Bedeutung für die wirtschaftliche und gesellschaftliche Reproduktion. M.a.W.: Was man am Sozialstaat tatsächlich hatte, merkte man so richtig erst, als die zerstörerischen Angriffe des neokonservativen und neoliberalen Lagers einsetzten. In einer Rückbetrachtung führte dies in den "53 Thesen" zu einer Neubewertung, die sich auch auf den sozialdemokratischen Reformismus (insbesondere skandinavischen Typs) erstreckte, ihn nicht mehr als defizitäres Konzept ansah, sondern ihm eine eigene Rationalität und Erfolgsgeschichte zubilligte. Im Blick nach vorne ging es darum, jenseits des fordistischen Modells neue Perspektiven für sozialstaatliche und darüber hinausgehende Lösungen der individuellen und gesellschaftlichen Reproduktion zu finden - Lösungen, die insbesondere den Lebensansprüchen von Frauen gerecht und eine "biographische Selbstbestimmung" ermöglichen (Gedanken, die ja dann in den 90er Jahren und darüber hinaus weiterverfolgt worden sind). Diese seien mit einer Aktualisierung der wirtschaftsdemokratischen Vorstellungen zu kombinieren, um einen attraktiven "modernen Sozialismus" auf den Weg zu bringen.

Gleichzeitig wandte sich der HK in den 80er Jahren stärker der Frage zu, mit welchem Inhalt, die auch in den "53 Thesen" wieder aufgegriffenen Forderungen zur Demokratisierung der Wirtschaft gefüllt werden können. Gesprochen wurde von einer "demokratischen Modernisierung", die den Aufbau einer ökologischen Kreislauf- sowie einer Solarwirtschaft, den Übergang zur Qualitätsproduktion und hochwertigen Dienstleistungen, die dringende Erneuerung gesellschaftlicher Infrastrukturen und die Schaffung neuer (insbes. in der Telekommunikation) erfordere. Für derartige Großvorhaben der Innovation und Investition seien geeignete wirtschaftsdemokratische Mechanismen zu schaffen, wobei insbesondere mit demokratisch kontrollierten Investitionsfonds und Regulierungsräten und dem "Staat als Pionier" neue Akzente gesetzt wurden. Dabei setzten die "53 Thesen" und der HK - hier durchaus in seiner Tradition - auf die "wissenschaftlich-technische Revolution", die den Spielraum für einen alternativen post-fordistischen Entwicklungsweg öffnen könne.

Die strömungsbildende Fragestellung von Anfang der 70er Jahre hatte sich nunmehr verschoben. Es ging in den 53 Thesen um die Frage, wie aus den zunächst dem Widerstand gegen Atomenergie, Aufrüstung und Sozialabbau gerichteten Bewegungen eine Bewegung für den ökologisch-solidarischen Umbau der Volkswirtschaft wird. Soziopolitische Bündniskonstellationen könnten nicht aus objektiv gemeinsamen antikapitalistischen oder gar "antimonopolistischen" Interessen hergeleitet werden, sondern aus Bedürfnissen, Ansprüchen und Interessen an die Arbeits- und Lebensweise, aus den darauf aufbauenden Umbauprojekten und den dafür bereitstehenden produktiven Kompetenzen von "Arbeit, Wissenschaft und Kultur". Natürlich gehe es hierbei auch um die Zentren der gesellschaftlichen Reichtumsproduktion und damit auch um Klassen- und Machtfragen, aber eben nicht mehr in reduktionistischer Weise.

Dabei handelte es sich aus meiner Sicht nicht um eine reine "Programmbastelei", denn der Antritt der bürgerlichen Regierung 1983 ging in den nachfolgenden Jahren - jenseits reiner Abwehrkämpfe - noch mit einem Aufschwung von sozialen und intellektuellen Bewegungen einher, die einen ökologischen und sozialen Umbau der Volkswirtschaft postulierten:

  • Der Kampf um die 35-Stunden-Woche und die Verkürzung der täglichen Arbeitszeit nahm die damaligen Diskussionen um die "Zukunft der Arbeit", das Ringen um die Veränderung der Geschlechterverhältnisse und die auf persönliche Selbstverwirklichung orientierten Bedürfnisstrukturen auf.
     
  • Der "Vorsorgende Sozialstaat" wurde schon damals propagiert - allerdings nicht etwa im Sinne der Agenda-2010-"Reformen", sondern als Um- und Ausbaukonzept, dass insbesondere jungen Frauen selbstbestimmte Lebenswege eröffnet (bei uns dann in der Losung der "biographischen Selbstbestimmung" zugespitzt).
      In der Ökologie kam es zum Übergang von der "AKW-Nein-Haltung" zu Konzepten des ökologisch-solidarischen Umbaus der Industriegesellschaft, einer Politik "ausgewählter Wachstumsfelder" und darauf ausgerichteter Zukunftsinvestitionen und Rahmenplanungen (aus dieser Zeit stammt auch der solarwirtschaftliche Ansatz).
     
  • Dies wurde auch von wachsenden Teilen der Gewerkschaften mitgetragen, die die "Zukunft der Arbeit" auch in Verbindung mit deren Nutzen für Umwelt und Lebensweise diskutierten (sichtbar etwa an den damaligen Kongressen der IG Metall zur Zukunft der Verkehrswirtschaft).

Diese Tendenzen fanden auch Eingang in das 1989 verabschiedete Berliner Grundsatzprogramm der SPD, in dessen Gestaltung die verschiedenen linken Strömungen der SPD maßgeblich zusammenwirkten und das in vielerlei Hinsicht aktueller und zukunftsweisender war als das heute geltende Programm.

Die Neuformierung des HK war aber kein rein strategisch-programmatischer Vorgang, sondern ich denke, dass sich auch das verbandspolitische Selbstverständnis des HK - zumindest weiter Teile - in der zweiten Hälfte der 80er Jahre grundlegend veränderte. So war man einerseits nicht mehr in der innerverbandlichen "Opposition", sondern maßgeblicher Träger der Verbandspolitik, wobei der HK 1988 mit Susi Möbbeck auch den Bundesvorsitz stellte. Andererseits war man - angesichts der globalen und gesellschaftlichen Herausforderungen - mit der eigenen Neuaufstellung zu sehr beschäftigt, als dass man noch sonderlichen Gefallen an den Fraktionskämpfen fand. Vielmehr wuchs die Neigung, sich als das integrierende sozialistische Zentrum des Verbandes zu verstehen - nicht auf Basis programmatischer Beliebigkeit, sondern fundierter inhaltlicher Neubestimmungen als sozialistischer Jugend- und Richtungsverband.

Komplementär zur Vorbereitung der "53 Thesen" wurde im Verband die programmatische Diskussion unter das Motto "anders arbeiten - anders leben" gestellt. Mit der sog. jugendpolitischen Orientierung sollten die Bedürfnislagen und Ansprüche der eigenen "Zielgruppe" ins Blickfeld der Verbandspolitik rücken. Mit dem Diskurs über das Verhältnis von Feminismus und Sozialismus und davon ausgehenden Projekten und Kampagnen wurde der Anspruch eines grundlegenden politisch-kulturellen Wandels am nachhaltigsten unterstrichen. Nicht zuletzt versuchten wir in unseren Diskursen und - viel schwieriger - auch in unserer politischen Praxis unser eigenes "subjektives Bedürfnis nach Sozialismus" zu thematisieren: Einer der großen Unterschiede zu den vorhergehenden programmatischen Dokumenten besteht auch darin, wie sehr in den "53 Thesen" immer wieder die Verortung von Individualität und Persönlichkeit im "Weltgeschehen", im gesellschaftlichen Kontext und politischen Prozess angesprochen wird.

Der integrative Kurs wurde auch gegenüber anderen sozialistischen Teilen der Parteilinken in der Vorbereitung des Berliner Grundsatzprogramms und Anfang der 90er Jahre auch bei der Umwandlung maßgeblich aus dem HK getragenen Zeitschrift spw in ein Gemeinschaftsprojekt mit Peter von Oertzen, Horst Peter und anderen prominenten Linken verfolgt (und zwar erfolgreicher als dies zunächst bei den Jusos der Fall war). Auf dieser Basis versuchten wir zwar, die mit den "53 Thesen" begonnenen Diskurse in den 90er Jahren bei den Jusos, in der Zeitschrift "spw" und im sog. Crossover-Projekt von linken Grünen, sozialistischen SPD-Linken und PDS-Reformern fortzuführen. Allerdings gingen die gesellschaftlichen wie auch innerparteilichen Ansätze einer "post-fordistischen" Linken oder sogar sozialistischen Alternative im Laufe der 90er Jahre allmählich unter - angesichts des Zusammenbruchs des sowjetischen Systems (der auch seine sozialistischen Kritiker in Mitleidenschaft zog), angesichts der zunehmenden Bedeutung von reinen Abwehrkämpfen und Bestandssicherungen (spürbar v.a. in den Gewerkschaften) und angesichts einer zweiten neoliberalen Offensive, in der Teile nunmehr der internationalen Sozialdemokratie eine maßgebliche Rolle spielten.

Umso wichtiger aber, dass sich seitdem - unter welcher Bezeichnung auch immer - nachfolgende Juso-Generationen um eine Aneignung, Reflektion und Aktualisierung der zuvor skizzierten Diskurse bemüht haben. Was m.E. als Markenzeichen des HK bleibt: Die nunmehr systematisch reflektierten und ernst genommenen Veränderungen in den Arbeits- und Lebensweisen, in den Ansprüchen und Bedürfnissen und die entsprechenden Anforderungen an das politische Handeln nicht von "der" (von vielen heutzutage als unumstößlich kapitalistisch angesehenen) "Wirtschaft" abzukoppeln, sondern sie als Gegenstand und Zweck einer veränderten ökonomischen Logik in Unternehmen, Branchen und Volkswirtschaft anzunehmen und umgekehrt jede wirtschaftsdemokratische und sozialistische Wirtschaftskonzeption daran auszuweisen


Uwe Kremer, Dr. rer.pol., geb. 1956, lebt in Bochum. Er ist seit 1972 Mitglied der SPD, 1978 bis 1984 im Bezirksvorstand der Jusos Hannover, 1984 bis 1990 im Bundesvorstand der Jusos, danach mehrere Jahre zunächst Redaktionsleiter, später Mitherausgeber der Zeitschrift spw. Seine berufliche Tätigkeit war zunächst in der industrie- und strukturpolitischen Forschung und Beratung, heute mit Schwerpunkt im Management der Life Sciences und der Gesundheitswirtschaft.


Anmerkung und Literaturhinweise:

Dieser Artikel stützt sich in Teilen auf meinen in der spw (spw 98, 1997) erschienenen Artikel zum 25-jährigen HK-Jubiläum ("Geschichten aus dem Hannoveraner Kreis"). Der damalige Artikel versuchte, den Hannoveraner Kreis und seinen Werdegang in den 70er und 80er Jahren vor allem im Spannungsverhältnis zwischen Sozialdemokratie und Kommunismus verständlich zu machen. Dieses Spannungsverhältnis - inkl. der Beziehungen zum Sozialismus sowjetischer Prägung - war für den HK von ebenso zentraler Bedeutung wie dessen Auflösung durch den Untergang (und nicht durch die erhoffte Demokratisierung und Öffnung) des "sozialistischen Lagers" Ende der 80er Jahre. Aus Sicht heutiger Juso-Generationen dürfte dieser Aspekt nicht mehr von so großer Bedeutung sein, weswegen das Schwergewicht des aktuellen Artikels eher auf programmatischen und strategischen Entwicklungen liegt, die auch mit Blick auf die nachfolgenden Juso-Generationen und heutige Politikkonzepte ein gewisses Interesse finden dürften.

Die wesentlichen Dokumente, auf die ich mich beziehe, sind:

• Das "Hamburger Strategiepapier" (des Juso-Landesverbandes Hamburg) von 1971, zusammen mit anderen Dokumenten 1973 veröffentlicht in dem legendären Rowohlt-Taschenbuch "Der Thesenstreit um "Stamokap".
• Die "Herforder Thesen - Zur Arbeit von Marxisten in der SPD", hier die überarbeitete und erweitere Ausgabe, die - herausgegeben vom Juso-Bezirk Ostwestfalen-Lippe, 1980 im spw-Verlage veröffentlicht wurden.
• Das "Projekt Moderner Sozialismus - 53 Thesen", gewissermaßen stellvertretend für den HK herausgegeben von Susi Möbbeck, Fiete Saß und Birgit Zoerner, erschien 1989 im spw-Verlag.

Der Artikel ist eine Zweitveröffentlichung aus dem Sammelband Sascha Vogt (Hg.): JusoLinke. 40 Jahre theoretische Orientierung der Jusos - Vom Hannoveraner Kreis zum Netzwerk linkes Zentrum, spw-Verlag Dortmund 2011.

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Quelle:
spw - Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft
Ausgabe 1/2013, Heft 194, Seite 36-43
mit freundlicher Genehmigung der HerausgeberInnen
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Internet: www.spw.de
 
Die spw erscheint mit 6 Heften im Jahr.
Einzelheft: Euro 5,-
Jahresabonnement Euro 39,-
Auslandsabonnement Euro 42,-


veröffentlicht im Schattenblick zum 13. März 2013