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PARTEIEN/128: 15 Jahre von 150 - Die Misere der SPD (Blätter)


Blätter für deutsche und internationale Politik 4/2013

15 Jahre von 150: Die Misere der SPD

von Albrecht von Lucke



Eines kann man dem Kanzlerkandidaten der SPD nicht nachsagen: dass er nicht alles unternähme, um Angela Merkel zu einer dritten Kanzlerschaft zu verhelfen - angefangen von der verspäteten Offenlegung seiner Vortragshonorare, über Pinot Grigio nicht unter fünf Euro pro Glas und die Klage über ein zu geringes Kanzlergehalt, bis hin zu halbstarken "Clowns"-Vergleichen. Mancher Beobachter zweifelt inzwischen ernsthaft daran, ob Peer Steinbrück die Wahl überhaupt gewinnen will.

Doch obwohl Steinbrück alles unternimmt, Merkel stark zu machen: Das Momentum für einen Machtwechsel scheint gegeben. Nicht der SPD-Kandidat, sondern die politische Lage zwingt dem Land förmlich eine Gerechtigkeitsdebatte auf. Zwei entscheidende linke Themen stehen ganz oben auf der Agenda, nämlich die Lohngrenzen nach oben wie nach unten, sprich: Mindestlohn und Maximallohn.

Ein unerwartetes Signal machte den Anfang: Dass sich zwei Drittel der Schweizer in einer Volksabstimmung dafür entschieden, Managergehälter zukünftig durch die Aktionäre und nicht mehr durch den Aufsichtsrat festzulegen, hat die Debatte um gerechten Lohn ganz nach vorne katapultiert. Selbst in der FAZ ist die Debatte inzwischen aus Schirrmachers Feuilleton, das ohnehin Narrenfreiheit genießt, auf die erste Seite vorgestoßen. Dort wettert der marktliberale Herausgeber Holger Steltzner gegen jene Manager, die "so gern von der Selbstregulierung der Wirtschaft reden. Doch je mehr sie den Kulturwandel predigen und je länger der auf sich warten lässt, desto weniger glaubt man ihnen." Der Grund für den erstaunlichen Wutausbruch gegen die grassierende "Abzocke": Steltzner fürchtet europaweite Tumulte durch die Manager. "Sie haben damit eine Lawine losgetreten, die Europa überrollen könnte."[1]

Inzwischen hat sich auch die CDU das Schweizer Vorbild zu eigen gemacht. Zur gleichen Zeit zeigen die Wahlniederlage des Ex-Goldman-Sachs-Mannes Mario Monti in Italien und das Debakel in Zypern, dass das vor allem von Angela Merkel forcierte Durchregieren mittels einer europaweiten Fiskal-Expertokratie an seine Grenzen stößt. Und während in Europa die Frage der Boni und der Begrenzung der Bankenmacht virulent wird, kommt in der deutschen Innenpolitik inzwischen keine Partei mehr an einem Bekenntnis zu Mindestlöhnen vorbei. Selbst die FDP rang sich vor ihrem letzten Bundesparteitag zu einer Regelung durch, wenn auch ausdrücklich zu keiner flächendeckenden. Kurzum: Der Zustand der Republik, man denke nur an den jüngsten Armuts- und Reichtumsbericht, kommt im Jahr der Bundestagswahl eindeutig der Linken entgegen. Das von Ralf Dahrendorf schon vor 15 Jahren beschworene Ende des sozialdemokratischen Zeitalters samt der sozialen Frage ist offenbar doch nicht gekommen. Im Gegenteil: In ganz Europa erleben wir eine Renaissance kapitalismuskritischen Denkens, das förmlich zu einer neuen politischen Mehrheit linker Parteien drängt.

Was für enorme Chancen könnte, ja müsste dies für die deutsche Sozialdemokratie bedeuten. Tatsächlich aber kann davon nicht die Rede sein, dümpelt die SPD weiter bei deutlich unter 30 Prozent herum. Noch immer hat sich die Partei nicht nennenswert von ihrem historisch schlechtesten Ergebnis, den 23 Prozent von 2009, erholt. Gemessen an ihrer großen, am kommenden 23. Mai 150 Jahre alten Geschichte ist die SPD nur noch ein Schatten ihrer selbst. Die Vergangenheit der Partei ist heute weit größer als ihre Gegenwart.


Die fatale Tradition der Spaltung

Das aber ist bei weitem nicht nur die Schuld Peer Steinbrücks, auch wenn die Lage mit einem anderen Kandidaten, respektive einer anderen Kandidatin, besser aussehen könnte. Der eigentliche Grund der Krise liegt in den letzten 15 Jahren, also dem letzten Zehntel der großen SPD-Geschichte. In der Ära Schröder hat die SPD ihren roten Faden, ihre historische Mission, den Kampf für gesellschaftliche Emanzipation und soziale Gerechtigkeit, verloren. Bis heute steckt sie ideell und konzeptionell in einer tiefen Krise.

Erfolgreich war die Sozialdemokratie in ihrer Geschichte immer dann, wenn sie über eine große Idee und über direkten Kontakt zur Bevölkerung verfügte. Unter Schröder ist ihr beides abhanden gekommen, wie die seither halbierten Wähler- und Mitgliederzahlen belegen. Nirgends wurde dies deutlicher als im Fall der Agenda 2010: Betrieben mit dem Anspruch, Menschen aus der staatlichen Alimentierung in Arbeit zu bringen und ihnen damit ihre Würde zurückzugeben, hat sie das Gegenteil erreicht - die Entwürdigung von Hunderttausenden, die entweder als Minilöhner von ihrer Hände Arbeit nicht mehr leben können oder als Hartz-IV-Empfänger stigmatisiert werden.[2] Bei alledem war die Partei getrieben von einem neoliberalen Zeitgeist, dem sie am Ende selbst anheimfiel. Zur Erinnerung: Vor zehn Jahren forderte die SPD-Führung nicht den Abbau der schon damals dramatischen Ungleichheit, sondern Bundeswirtschaftsminister Wolfgang Clement propagierte in seinem Konzept der "produktiven Ungleichheit" exakt das Gegenteil: Gerechtigkeit dürfe nicht länger die Verringerung von Ungleichheit bedeuten.[3]

Am Ende dieser Entwicklung stand, in fataler historischer Tradition, die Spaltung der Sozialdemokratie. Ihr ironisches Ergebnis: Oskar Lafontaine, vormals nicht unbedingt der größte Befürworter der deutschen Einheit, wurde zur neuen Lichtgestalt der einstigen Ost-Partei PDS. Doch anders als die Grünen in den 80er Jahren besetzt die Linkspartei kein neues Thema, sondern ist in weiten Teilen Fleisch vom Fleische der Sozialdemokratie. Heute wird das infame "Wer hat uns verraten, Sozialdemokraten" daher von zwei Seiten intoniert: einmal gegen die SPD seitens der ehemaligen Genossen, die nun die Linkspartei stellen, aber auch von Seiten der SPD gegen den einstigen Parteivorsitzenden, der gegen niemanden schärfer schießt als gegen die vormals eigene Partei.

Diese radikale Spaltung in angebliche Idealisten und Pragmatiker ist das schlechte Erbe der linken Geschichte. Die Geschichte der SPD versteht man nur aus dem Spannungsverhältnis von großer Erwartung und noch größerer Enttäuschung, die immer wieder die Spaltung zur Folge hatte. Denn von Beginn an lebte die SPD, ja die linke Bewegung insgesamt, aus der durchaus produktiven Spannung zwischen Idealismus und Pragmatismus, Utopie und Macht. Nur wenn der Pragmatismus der Partei auf einer gesellschaftlichen Vision basierte, hatte sie überhaupt eine wirkliche Chance. Umgekehrt gerät sie immer dann in schwere See, wenn sie ohne Idee an der Regierung ist: Anders als die Konservativen, die sich primär dem Machterhalt verpflichtet fühlen, wird die SPD sofort von ihren Anhängern an den eigenen Ansprüchen gemessen. Sobald die Parteiführung diesen in der Realpolitik nicht gerecht werden kann, war und ist ihr Gegnerschaft aus den eigenen Reihen gewiss.

Das galt bereits für ihre erste Regierungsphase, in der Weimarer Republik. Die SPD war die einzige Partei, die der "Republik ohne Demokraten" von Beginn an treu war (und schließlich auch dem Ermächtigungsgesetz der Nazis ihre Zustimmung verweigerte). Doch gerade durch ihre Treue zum angeblichen "System" von Weimar geriet sie unter den massiven Druck der Rechten wie auch der von ihr hart bekämpften kommunistischen Linken, von der die Sozialdemokraten bekanntlich als Sozialfaschisten denunziert wurden. Die fatale Dialektik aus heilloser Erwartung und prompter Enttäuschung galt aber auch für den kurzen Honeymoon der SPD unter Willy Brandt. In Teilen der Linken war dieser ganz schnell beendet, als Brandt die Berufsverbote durchsetzte. Doch während sich Brandts Ansehen von dieser Enttäuschung schnell erholte und "Willy" heute fast gläubige Verehrung erfährt, reicht die Enttäuschung durch Gerhard Schröder wesentlich tiefer. Von ihr hat sich die Linke insgesamt, aber auch und vor allem die Sozialdemokratie bis heute nicht erholt.

Der Agenda-Befürworter Peer Steinbrück stellt da alles Andere als einen Neuanfang dar. Anders als es Parteichef Sigmar Gabriel auf dem Leipziger Parteitag 2009 postulierte, hat Steinbrück vor seiner Nominierung keineswegs versucht, die Mitte neu und von links zu besetzen. Auch sein durchschaubarer Versuch, die Agenda 2010 nun zum akzeptablen Gemischtwarenladen umzudefinieren (von der Ökosteuer bis zur Förderung der gleichgeschlechtlichen Lebenspartnerschaft), dürfte kaum verfangen. Denn schon seit der Niederlage von 2005 kann speziell bei den "Stones", den Agenda-Protagonisten Steinmeier und Steinbrück, von einer vorwärtsweisenden Neupositionierung nicht die Rede sein.


Doppelte Demobilisierung

Was der SPD daher heute fehlt, ist nicht nur eine echte Regierungsalternative, sondern auch die Fähigkeit, die eigenen Mitglieder und Wähler zu mobilisieren. Das einfache Parteimitglied stellt sich die Frage, welches größere Ziel diese technokratisch versteinerte SPD noch verfolgt. Offenbar ist das dialektische Verhältnis von angestrebter Macht und verfolgter Vision völlig aus den Fugen geraten. Was wir daher in diesem Wahlkampf erleben, ist eine doppelte Demobilisierung: Während die Kanzlerin trotz ihrer enormen Sympathiewerte inzwischen nicht primär, wie noch 2009, den Gegner demobilisiert, sondern durch ihre systematische Zerkleinerung des christdemokratischen Markenkerns mehr und mehr die eigenen Reihen, steht ihr Peer Steinbrück mit seiner verheerenden Wirkung auch auf die eigenen Genossen in nichts nach. Die Konsequenz: Ungeachtet der linken Stimmung im Lande ist die SPD nach ihrer Absage an die Linkspartei weiter meilenweit von einer eigenen regierungsfähigen Mehrheit und damit von einer Kanzlerperspektive entfernt.

Völlig falsch wäre es jedoch, nun seitens der SPD - in der ohnehin erhebliche Teile bereits auf eine neuerliche große Koalition spekulieren - in das Münteferingsche "Opposition ist Mist" einzustimmen. Das Gegenteil ist der Fall: Die SPD ist die mit Abstand älteste und traditionsreichste Partei Deutschlands. Zugleich ist sie, am Kriterium der Regierungsbeteiligung gemessen, die erfolgloseste: Über weite Strecken ihrer Geschichte geriet die Macht nicht einmal in ihre Sichtweite.

Die geschichtliche Ironie ist aber eine andere: Die SPD war als Partei in der Opposition mindestens so wichtig und wirkmächtig wie an der Regierung. Es waren die sich erhebenden Proletarier, die Bismarck, der ihre Partei verbot, zu dessen Sozialgesetzen veranlassten. Es war, neben den Lehren aus dem Nationalsozialismus, die Angst vor einer starken SPD, welche die junge CDU sogar zu einem Ahlener Programm animierte, das die Vergesellschaftung von Produktionsmitteln vorsah. Es war die starke Neue Linke nach 1968, die in den 70er und 80er Jahren die Union Helmut Kohls dazu motivierte, die "Neue soziale Frage" (Heiner Geißler) erst zu entwickeln und dann an ihr festzuhalten, aus Angst vor einem neuerlichen Machtverlust an die SPD. Und es war schließlich in den letzten zehn Jahre nicht zuletzt die linke Konkurrenz, von SPD und Linkspartei, die die prinzipienschwache CDU Angela Merkels dazu bewegte, immer mehr soziale, ökologische und gesellschaftspolitische Forderungen aufzunehmen, die viele Konservative heute als Sozialdemokratisierung der Union erleiden.

Trotz dieser positiven Kontinuität in der Opposition hat sich die SPD als Regierungspartei von ihren Wurzeln und ihrer historischen Mission weit entfernt. Lange Zeit als Zusammenrottung vaterlandsloser Gesellen geächtet, stand die Mitgliedschaft in der SPD anfangs für Widerspenstigkeit und Widerspruch gegen die entstehende feudal-kapitalistische Ordnung mit ihren dramatischen Ungerechtigkeiten. Die Dissidenz der SPD - als einer zeitweilig sogar verbotenen Partei - motivierte zu Protest gegen die herrschenden Verhältnissen, zu Streit, Debatte und großen Visionen. Doch die Gründungszeit hat auch bis heute wirksame negative Konsequenzen: Aus ihrem Ursprungstrauma als nicht geachtete, sondern geächtete Partei speist sich seither das ständige Bemühen der SPD, in der "besseren" Gesellschaft anzukommen, exemplarisch und besonders ausgeprägt in der Ära des Cohiba-Kanzlers Schröder. Die Geschichte der deutschen Sozialdemokratie ist somit auch eine Geschichte der stetigen Umwandlung von Dissidenz zu gesellschaftlicher An- und Überanpassung. Von Ferdinand Lassalle und August Bebel über Herbert Wehner bis Gerhard Schröder, von Leipzig und Eisenach über Godesberg bis Berlin, von der Klassen- zur Volkspartei zur Neuen Mitte: Die Parteigeschichte der Sozialdemokratie lässt sich lesen als Geschichte eines kontinuierlichen Utopieabbaus. In der Schröder-Ära ist die Partei am Ende dieses Prozesses angelangt.

Lange verblieb jedoch in der Parteigeschichte ein Rest an ideell-intellektueller Widerspenstigkeit - im Gegensatz zu heute: Bereits seit geraumer Zeit ist die SPD nicht mehr durch originelle abweichende Meinungen aufgefallen, im Gegenteil. Heute ist die SPD eine halbierte, ihres visionären Überschusses beraubte Linke,[4] eine Partei, in der der 86jährige Erhard Eppler immer noch als Vordenker herhalten muss, eine Partei ohne intellektuelle Ausstrahlung und strategisches Potential. Das jüngste Beispiel dafür bot die Bundeshauptstadt. Selbst in Berlin - einer Stadt mit einer nach links tendierenden Wählerschaft von über 70 Prozent (inklusive Piraten) - war die SPD nicht willens, eine linke Koalition zustande zu bringen. Wenn man schon nicht - ob des geringen Vorsprungs - eine rot-grüne Koalition eingehen wollte, so hätte es doch allemal für Rot-Rot-Grün gereicht, von den Piraten ganz zu schweigen. Stattdessen kam es zu einer großen Koalition. Viel spricht dafür, dass dies bloß das Vorspiel für eine große Koalition im Bund gewesen ist. Doch eines steht heute bereits fest: Als eine Antwort auf die tiefe Krise der SPD wird diese Konstellation auch diesmal nicht taugen.


Anmerkungen:

[1] Holger Steltzner, Der Lohn der Manager, in: "Frankfurter Allgemeine Zeitung" (FAZ), 6.3.2013.

[2] Vgl. Klaus Dörre, Das neue Elend: Zehn Jahre Hartz-Reformen, in: "Blätter" 3/2013, S. 99-108.

[3] Vgl. Albrecht von Lucke, SPD ohne Idee, in: "Blätter" 12/20003, S. 1417-1420, hier: S. 1419; und in diesem Heft Hans-Ulrich Wehler, Explosion der Ungleichheit, S. 47-56.

[4] In der Linkspartei treibt derweil die alte Revolutionsfolklore erstaunliche Blüten, etwa mit der kritiklosen Verehrung des "Comandante Hugo Chavez".

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Quelle:
Blätter für deutsche und internationale Politik 4/2013, S. 5-8
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veröffentlicht im Schattenblick zum 18. April 2013