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PARTEIEN/136: Politik im neuen Rahmen? - Anmerkungen zur gegenwärtigen Lage der SPD (spw)


spw - Ausgabe 6/2014 - Heft 205
Zeitschrift für Sozialistische Politik und Wirtschaft

Politik im neuen Rahmen?

Anmerkungen zur gegenwärtigen Lage der SPD.

von Gerd Mielke



Erstens

Auch rund ein Jahr nach der Aufnahme der Amtsgeschäfte der großen Koalition aus CDU, CSU und SPD unter der Führung von Angela Merkel, Horst Seehofer und Sigmar Gabriel hat sich noch keine strategische Ausrichtung der Sozialdemokratie über die Fortführung des gegenwärtigen Bündnisses hinaus abgezeichnet. Nach den zwei ratlosen Bundestagswahlkämpfen 2009 und 2013 vermitteln auch derzeit die Befunde zum Stand des Parteienwettbewerbs keine Mehrheitsperspektiven für die SPD. Die Lage erscheint unübersichtlich und widersprüchlich.

In den Koalitionsverhandlungen nach der Bundestagswahl waren die Sozialdemokraten erfolgreich. Sowohl in programmatischer Sicht als auch bei der Vergabe der Ressorts konnten sie durch Geschick und Geschlossenheit, vor allem jedoch durch das Druckmittel des Mitgliederentscheids über den Koalitionsvertrag, der Union einiges abringen, nicht zuletzt den mittlerweile auch schon gewissermaßen als Trumpfas ausgespielten Mindestlohn. Auf der politischen Bühne in Berlin und in der medialen Resonanz machen die sozialdemokratischen Protagonisten im Kabinett eine gute Figur. Vor allem Sigmar Gabriel und Andrea Nahles haben sich im ersten Amtsjahr deutlich profiliert. Außenminister Frank-Walter Steinmeier ist in den verworrenen außenpolitischen Verhältnissen drauf und dran, die legendäre Allgegenwart Hans-Dietrich Genschers zu übertreffen. Dieser starken Präsenz der sozialdemokratischen Regierungsmitglieder stehen - sieht man von der zumeist präsidial-entrückten Bundeskanzlerin ab - auf christdemokratischer Seite lediglich Ursula von der Leyen mit ihrer Neigung zur fotogenen Betriebsamkeit und Wolfgang Schäuble mit seiner Schwarzen Null gegenüber.

Freilich: Die sozialdemokratische Regierungsperformanz auf der Bundesebene findet bislang keinen nennenswerten Niederschlag bei den Wählerinnern und Wählern. Alle Umfragen des vergangenen Jahres vermitteln für die SPD denselben tristen Befund: Die Partei verharrt bei der Sonntagsfrage in einem schmalen Korridor um etwa 25 Prozent. Damit liegt sie dicht bei ihrem Bundestagswahlergebnis von 25,7 Prozent, welches wiederum nur unwesentlich über dem katastrophalen Resultat von 2009 mit 23,0 Prozent lag und das zweitschlechteste Wahlergebnis der SPD in der Geschichte der Bundesrepublik ist. Das hartnäckige Tief in den Umfragen während des zurückliegenden Jahres schließt zudem an die längerfristigen Trends der Umfrage- und Wahlergebnisse auf der Bundesebene an. Fast immer erlangte die Union höhere Werte als die SPD. Zumeist und vor allem im letzten Jahr, und mit der Ausnahme des zwischenzeitlichen Höhenflugs der Grünen im Fukushima-Jahr verfehlten die kumulierten Ergebnisse von Rot-Grün auch immer deutlich die hypothetischen Umfragemehrheiten wie auch die letzten beiden Bundestagsmehrheiten.

Dem Bild einer langfristigen Stagnation der SPD auf der Bundesebene steht in den vergangenen Jahren eine Serie von sozialdemokratischen Erfolgen und Regierungsbeteiligungen auf der Länderebene gegenüber. Die Vormachtstellung der Union aus den Anfangsjahren des neuen Jahrtausends hat sich ins Gegenteil verkehrt. Sie besetzt nur noch in Bayern, Sachsen, Sachsen-Anhalt, Hessen und im Saarland das Amt des Ministerpräsidenten. Hier finden sich rein rechnerisch in immerhin drei Ländern - nämlich im Saarland, in Hessen und Sachsen-Anhalt - Mehrheiten für Linksbündnisse. Nur noch Bayern und Hessen werden von der Union ohne tätige Mithilfe der SPD regiert. Demgegenüber stellen die Sozialdemokraten mittlerweile in neun Ländern die Ministerpräsidentinnen bzw. Ministerpräsidenten. In zweien stützen sie zudem jeweils Ministerpräsidenten aus dem linken Lager, seit 2011 den Grünen Winfried Kretschmann in Baden-Württemberg und seit kurzem den Linken Bodo Ramelow in der hitzig diskutierten rot-rot-grünen Koalition in Thüringen.

Aber auch diese Dominanz der SPD auf der Länderebene lässt nicht den Schluss auf einen strategischen Vormarsch der Sozialdemokraten zu. Weder wurde in den Landtagswahlen der letzten Jahren eine systematisch ins Spiel gebrachte, übergeordnete politisch-ideologische Ausrichtung der SPD erkennbar noch kann man aus den vielen Regierungsbeteiligungen folgern, die Sozialdemokratie bewege sich auf einer unspezifischen Popularitätswelle und hätte eben "einen Lauf", wie es so schön bei siegreichen Fußballmannschaften heißt. Beeindruckenden Wahlsiegen der SPD in Hamburg, Nordrhein-Westfalen oder Brandenburg stehen starke Verluste wie in Rheinland-Pfalz oder fortwährendes Siechtum wie in Baden-Württemberg, Thüringen oder Sachsen gegenüber. Auch den Koalitionskonstellationen auf Länderebene liegt kein erkennbares politisches Kalkül zugrunde, das sich über die unmittelbaren jeweiligen Landesbezüge hinaus auf eine verallgemeinerbare Zuspitzung oder Marschrichtung der Partei verdichten ließe, wie das bei der SPD seinerzeit in der Sequenz erfolgreicher Landtagswahlen am Ende der Ära Kohl vor der dann so siegreichen Bundestagswahl 1998 der Fall war.

Schließlich hat auch die SPD selbst bislang keine strategischen Interpretationen ihrer Lage angeboten, aus denen sich eine zukünftige Marschrichtung herauslesen ließe. Zwar hat der Vorsitzende Sigmar Gabriel noch unter dem Schock des miserablen Bundestagswahlergebnisses die Option eines rot-rot-grünen Bündnisses nicht mehr kategorisch ausgeschlossen, aber wie sich seither zeigt, folgt diese Konzession der brüchigen Logik der früher so beliebten Radio-Eriwan-Witze. Gefragt, ob denn eine derartig erweiterte Koalition denkbar sei, lautet die Antwort der SPD-Spitze nun: "Im Prinzip ja". Allerdings wurde im weiteren Verlauf der Legislaturperiode kaum eine Gelegenheit ausgelassen, diese Option zu relativieren und mit hohen Hürden zu umstellen. Zuletzt erst unterstrich der Vorsitzende der Bundestagsfraktion Thomas Oppermann noch am Tage des Amtsantritts der rot-rot-grünen Koalition in Thüringen, eine Koalition mit der Linken sei auf der Bundesebene in diesen außenpolitisch so angespannten Umständen auf keinen Fall denkbar. Ähnliche Ambivalenzen finden sich auch hinsichtlich der inhaltlichen Schwerpunkte. Immer wenn sich in der Partei erste Zweifel am politischen Kurs artikulieren, werden sie mit dem Hinweis auf die Notwendigkeit gekontert, die SPD müsse sich stärker auf die Mitte ausrichten und diese Ausrichtung auf die Mitte erfordere einen wirtschaftsfreundlicheren Kurs.

Wie lassen sich diese eigenartigen Befunde interpretieren: die medial durchaus gelobte Regierungsarbeit in der großen Koalition, das dennoch dauerhafte Umfragetief auf Bundesebene; die Regierungs- und Gestaltungsmöglichkeiten der SPD auf Länderebene, die bis jetzt jedoch ebenfalls keine breite, wenigstens landespolitische Aufbruchstimmung erzeugen konnten? Oder anders gefragt: Warum erzeugt sozialdemokratisches Regieren so wenig Zustimmung in der Wählerschaft?


Zweitens

Versuchen wir eine Antwort mit dieser These: Der Schlüssel zum Verständnis dieser eigenartigen Inkompatibilität von sozialdemokratischen Politikangeboten und einer nur zögerlichen Wählernachfrage liegt darin, dass viele Vorstöße der SPD einen Teil ihrer Wirkung verfehlen, weil sie sich nicht glaubhaft in einen politischen Deutungsrahmen einfügen lassen oder - umgekehrt - weil der von den Sozialdemokraten während des letzten Jahrzehnts entwickelte neue Deutungsrahmen von vornherein Misstrauen gegen zahlreiche politische Initiativen der SPD erzeugt hat.

Der hierbei verwendete Begriff des Deutungsrahmens spielt auf ein theoretisches Konzept der Kommunikationswissenschaften an, das sich auch für die Analyse von Parteien in der modernen Mediendemokratie anbietet. Die Rede ist vom so genannten "framing", also der Einrahmung und Einbettung einzelner politischer Botschaften und Vorkommnisse, aber auch bestimmter Akteure in ein umfassendes Bedeutungsumfeld. So galt etwa die Berufung von Gewerkschaftern in sozialdemokratische Schattenkabinette lange Zeit nicht nur als Zeichen der engen Zusammenarbeit zwischen der SPD und den Gewerkschaften. Sie entsprach zugleich durch den historisch gewachsenen Deutungsrahmen einer am Arbeitnehmerwohl ausgerichteten sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaatspolitik den Erwartungen der Anhänger und aktualisierte als kommunikatives Symbol die Gewissheit, die SPD würde diesen Kurs auch weiterhin fortsetzen.

Im Sinne dieser Deutungsrahmen operieren die Parteien auf zahlreichen Politikfeldern in einem System von recht stabilen Basisvorstellungen in der Wählerschaft. Diese Vorstellungen prägen ihrerseits wiederum die Images von Parteien und ihren Repräsentanten, aber sie können auch mehr oder minder eindeutige Identifikationen beeinflussen und politische Erwartungshaltungen in der Anhängerschaft hervorbringen. Auch für die Parteien gilt also die alte Weisheit: Man fängt nie wirklich neu an, wie es manche ökonomischen Modelle des politischen Wettbewerbs suggerieren; stets trägt man historische Lasten mit sich herum.

Vor dieser knappen theoretischen Skizze spricht einiges dafür, dass auch mehr als ein Jahrzehnt nach dem großen Schwenk der SPD zur Agenda-Politik unter Gerhard Schröder und Franz Müntefering der tiefe Einschnitt wirksam bleibt, den der damalige Kurswechsel für die Partei, ihre Führungsgruppen, die Mitglieder und für die Möglichkeiten einer sozialdemokratischen Politikformulierung, aber eben auch für das Verhältnis vieler, wenn nicht gar aller Wählergruppen zur SPD hatte. Sinnigerweise wurde diese Zäsur ausgerechnet im Bundestagswahljahr 2013 durch zwei Jubiläen, das 150jährige Bestehen der SPD und den zehnten Jahrestag der Agenda 2010, ins Bewusstsein gerückt. Zwar bemühte sich die Parteiführung in der Schlussphase des Bundestagswahlkampfes, den Traditionsbruch durch die Agenda 2010 zu überdecken und Hartz IV als Fortsetzung des historisch gewachsenen sozialdemokratischen Politikverständnisses zu interpretieren, aber der veränderte Politikansatz war mit bloßem Auge zu erkennen. Um bei der hier vorgeschlagenen Begrifflichkeit zu bleiben: Die Agenda-Politik unter Schröder und Müntefering hat im Sinne des kommunikativen "framing" einen neuen Deutungsrahmen für sozialdemokratische Politik geschaffen bzw. sie hat den traditionellen Deutungsrahmen durch ihre neuen Akzente in wesentlichen Teilen für obsolet erklärt.

Wie sah der alte Deutungsrahmen aus? Über alle programmatischen Entwicklungsschübe hinweg folgte sozialdemokratische Gesellschaftspolitik 140 Jahre lang demselben Muster: Gesellschaftliche Probleme wurden durch den Einsatz öffentlicher Gelder und (quasi-)staatlicher Strukturen abgemildert oder gelöst. Diese einfache Formel ist selbstverständlich im Lauf der Geschichte einer fortschreitenden Modernisierung in vielfacher Weise differenziert und modifiziert worden. Neue Problemfelder wurden Zug um Zug der politische Regelung unterworfen, neue gesellschaftliche Akteure und Zielgruppen politischer Maßnahmen wurden in die gesellschaftlichen Ordnungsvorstellungen der Sozialdemokratie integriert, neue Formen und Strukturen der Zuwendung und Teilhabe konnten sich etablieren. Dabei wurde die SPD von zwei grundsätzlichen Überzeugungen geleitet. Die erste war die Einsicht, dass jeweils ein erheblicher Teil der Bevölkerung nicht in der Lage ist, sich in der freien Wildbahn moderner Gesellschaften zu behaupten und somit der kollektiv-staatlichen Unterstützung bedarf. Die zweite Grundüberzeugung, eng mit der ersten verbunden, bestand in dem Ziel, durch politische Vorgaben einen wesentlichen Teil der menschlichen Existenz den Risiken der freien Wildbahn moderner Gesellschaften zu entziehen. Der dänische Wohlfahrtsstaatsforscher Esping-Andersen hat diesen Schutz vor Risiken im Zusammenhang mit der Debatte um den modernen Wohlfahrtsstaat "Dekommodifizierung" genannt.

Für die deutschen Sozialdemokraten war dies eine Parteiphilosophie, die sich als tragfähiges Fundament für ihre Ausbreitung als Volkspartei nach dem Zweiten Weltkrieg weit über den eigentlichen Kern der Industriearbeiterschaft hinaus erweisen sollte und auch Brückenschläge in die Anhängerschaften der anderen Parteien möglich machte. Bis in die unmittelbare Gegenwart haben zahlreiche einschlägige Studien einen über alle sozialen Gruppen und über alle Generationen reichenden Konsens über dieses sozialdemokratische Grundmodell gesellschaftspolitischer Ordnung festgestellt, einen Konsens, der mit der deutschen Vereinigung nochmals eine Vertiefung und Verbreiterung erhielt. Allerdings beruhte die Fortschreibung dieses Konsenses auf der Bereitschaft und der Fähigkeit der Parteien, und hier wieder insbesondere der Sozialdemokraten, diesem, im Zuge der gesellschaftlichen Modernisierung tendenziell wachsenden Wohlfahrtsstaat auch entsprechende, tragfähige Haushaltsgrundlagen zu sichern.

Diese so bedeutsame Bereitschaft zur Finanzierung des Wohlfahrtsstaats ist ab den späten siebziger Jahren in den allermeisten westlichen Demokratien unter dem polemischen Ansturm neoliberaler Strömungen zerbröselt. Die spezifisch sozialdemokratische Variante, diesen Konsens aufzukündigen, bediente sich der gesellschaftstheoretischen Konstruktion des so genannten "Dritten Weges", wie ihn Autoren im Umfeld des englischen Soziologen Anthony Giddens entworfen hatten. Auf dem "Dritten Weg" verließen in zahlreichen europäischen Ländern "neue" Sozialdemokraten wie New Labour unter Tony Blair und dann auch wenig später die deutsche SPD unter Gerhard Schröder die Sphäre traditioneller sozialdemokratischer gesellschaftspolitischer Ordnungsvorstellungen. Ein neuer Deutungsrahmen sozialdemokratischer Politik entstand.

Wie sieht nun der neue Deutungsrahmen aus? An die Stelle einer möglichst weitgehenden Dekommodifizierung und wohlfahrtsstaatlichen Absicherung, die ein Gegengewicht zur fortwährenden Dynamik und Expansion kapitalistischer Wirtschaftstätigkeit bilden sollte, trat die Übernahme einer Ordnungsvorstellung. Sie setzte unter dem euphemistischen Leitmotiv "fördern und fordern" nunmehr den einzelnen Bürger in weitaus höherem Maße den Anpassungs- und Konkurrenzzwängen der Marktgesellschaft und den damit verbundenen Risiken aus. Das alte Motto der europäischen Sozialdemokraten "politics against markets", mit dem der Kapitalismus durch staatliche Interventionen gebändigt werden sollte, wurde durch den neuen Slogan "politics within markets" ersetzt, der die Prärogative des Marktes betonte. Die jederzeit messbare und in Wahlen politisch einklagbare Zielgröße einer staatlich überwachten und geschützten Verteilungs- und Ergebnisgerechtigkeit wurde von der vagen, stets das individuelle oder Gruppenversagen insinuierenden, das eventuelle politische Versagen der Regierenden jedoch verschleiernden Norm der Chancengerechtigkeit verdrängt.

Die beiden Festlegungen, die den grundlegenden Wandel der sozialdemokratischen Ordnungsvorstellungen in der Bundesrepublik symbolisieren und fortan auf fast alle Bestimmungsfaktoren des Wählerverhaltens im Blick auf die SPD ausstrahlen, sind die Agenda 2010 und die Schuldenbremse. Die Agenda 2010 mit der Hartz IV-Regelung als heiß umstrittenem Kern kann als Chiffre für den auf vielen Politikfeldern erkennbaren Versuch gelten, die Lebens- und Arbeitsrisiken systematisch zu individualisieren. Die Schuldenbremse mit ihrer Verankerung in den Verfassungen ist bislang bei weitem nicht so kontrovers in der Öffentlichkeit diskutiert worden wie seinerzeit die Agenda 2010 und der Politikkomplex aus Regelungen zu vielen Bereichen der Daseinsfürsorge, der gemeinhin als Agendapolitik bezeichnet wird. Allerdings dürfte sich die Schuldenbremse schon bald für die SPD und ihre politischen Gestaltungstraditionen noch verheerender auswirken. Schon jetzt gehen aus den mit der Schuldenbremse verbundenen Haushaltszwängen dramatische Einschränkungen im öffentlichen Finanzgebaren hervor.

Betroffen sind dabei vor allem die Politikbereiche, in denen sich die SPD über lange Jahrzehnte hinweg ihren guten Ruf aufbauen konnte. Zum einen sind dies die infrastrukturellen Bedingungen auf allen Ebenen des politischen Systems, von der Bundesebene bis in den kommunalen Bereich hinein. Überall zeichnen sich schon jetzt Instandhaltungs- und Instandsetzungsnotwendigkeiten mit insgesamt gigantischem Finanzierungsvolumen ab. Deren Vernachlässigung wird nicht nur den Wirtschaftsstandort Deutschland und seine Grundlagen in Mitleidenschaft ziehen, sondern wird darüber hinaus auch bald zu einer Verelendung des öffentlichen Raums in vielen Städten und Dörfern führen. Schon jetzt lassen sich erste Anzeichen dafür in den Großstädten des Ruhrgebietes oder in der Erosion von Strukturen der Jugend- und Sozialarbeit erkennen. Zum andern engen die Schuldenbremse und die mit ihr verknüpften Sparzwänge natürlich die Gestaltungsräume für eine ebenfalls dringend erforderliche Weiterentwicklung wohlfahrtsstaatlicher Systeme dramatisch ein. Wenn man hier an die notwendigen Vorkehrungen etwa im Bereich der Integration von Zuwanderern, an die schnell wachsenden Aufwendungen im Bereich der Pflege oder an die konsequente Umsetzung des Ganztagsschulen-Ansatzes denkt, so ist derzeit nicht erkennbar, wie die zweite Stufe der gesellschaftlichen Modernisierung im 21. Jahrhundert bewerkstelligt werden soll. Auch hier werden die sozialen Gruppen und Schichten besonders von den Sparzwängen betroffen sein, die traditionellerweise eine Neigung zu den Sozialdemokraten haben. Es hat schon etwas Absurdes an sich, dass in den USA die Zeit der Weltwirtschaftskrise mit ihren in Not geratenen neuen Einwandererströmen aus Italien, Polen und Irland in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts den New Deal und damit den verspäteten amerikanischen Wohlfahrtsstaat auslöste, während nun ein Jahrhundert später in Deutschland und vielen anderen Gesellschaften Europas ähnliche soziale Problemlagen mit dem Rückbau wohlfahrtsstaatlicher Standards beantwortet werden.


Drittens

Mit der Ausrichtung auf diesen neuen Deutungsrahmen, die zugleich mit einer weitgehenden innerparteilichen Dominanz des liberalen und wirtschaftsnahen Parteiflügels verbunden war, entstand für die SPD eine neue Lage im Parteienwettbewerb und am Wählermarkt. Sie hat sich seit der Bundestagswahl 2005 herauskristallisiert, ihre Folgen sind bis heute zu beobachten. Im Verhältnis zu Teilen der Wählerschaft, aber auch im Blick auf die innerparteilichen Machtverhältnisse zeichnet sich eine ganze Reihe von neuen Problemen ab. Wir können in diesem Rahmen nur drei zentrale Problemfelder der SPD beim Umgang mit ihrem neuen Deutungsrahmen ansprechen.

Mit dem Schwenk zur Agenda-Politik entstand zunächst eine Entfremdung zwischen der SPD mit ihrer neuen Ausrichtung und einem besonders auf den traditionellen Deutungsrahmen ausgerichteten Teil der sozialdemokratischen Anhängerschaft. Einen Teil dieser "Repräsentationslücke" konnte ab 2005 und bis heute die Linke nutzen; die damit verbundene, partielle Erneuerung und Sozialdemokratisierung der vormaligen ostdeutschen Regionalpartei ist in mehreren Studien der Wahlforschung ausführlich dargestellt und analysiert worden. Ein anderer Teil dieser befremdeten und entfremdeten Wähler scheint sich ziemlich dauerhaft aus der politischen Arena in die Wahlenthaltung und darüber hinaus in eine politische Marginalisierung und Apathie zurückgezogen zu haben. Gerade diese Wählergruppen bzw. Nichtwählergruppen sind erst zu Jahresbeginn 2014 nach dem Erscheinen der Studie der Bertelsmannstiftung "Prekäre Wahlen" intensiv in der Öffentlichkeit diskutiert worden. Sie sind eine zumeist in entsprechenden Stadtquartieren räumlich angesiedelte, recht klar profilierte Bevölkerungsgruppe, durch Arbeitslosigkeit bedroht oder geprägt, mit niedrigem formalen Bildungsstatus und geringen materiellen und beruflichen Ressourcen ausgestattet.

Diese Gruppen waren auch schon in den Jahrzehnten zuvor nur mühsam von der SPD zu mobilisieren. Aber bis zur Bundestagswahl 1998 konnten die Sozialdemokraten ihre politischen Angebote in einem Deutungsrahmen vortragen, der dem Appell nach mehr Gerechtigkeit und gezielten staatlichen Interventionen gerade für diese Gruppen Plausibilität und Glaubwürdigkeit verlieh. In dem neuen Deutungsrahmen der Agenda-Politik, vor allem aber angesichts der sich bereits abzeichnenden Zwänge durch die Schuldenbremsen bewegen sich wohlfahrtsstaatliche Versprechen und Initiativen fast immer im Schatten von vagabundierenden Prekarisierungstendenzen und -ängsten in den verschiedensten Gruppen der Gesellschaft [1]. Sie verlieren somit einen Teil ihrer Wirkungskraft auf die Wähler.

Auch die Ausstrahlungskraft der sozialdemokratischen Spitzenkandidaten in den letzten beiden Bundestagswahlen, aber auch in einem Teil der Landtagswahlen wird durch den Wandel des Deutungsrahmens beeinträchtigt. Schon seit längerem wird in einigen Studien gezeigt, dass der Einfluss der Spitzenkandidaten von der Kongruenz zwischen Parteitraditionen, Themen und Kandidatenprofil abhängt [2]. Diese Sichtweise macht gleichermaßen ein taktisches und ein strategisches Problem der SPD deutlich. Das taktische Problem liegt darin, dass es eben nicht zum Wahlerfolg führt, wenn "linke" Forderungen in einem Wahlprogramm präsentiert werden, das in seinem Tenor gleichwohl an der Linie der Agenda-Politik festhält. Auf das wahrscheinlich viel bedeutsamere, strategische Problem der Sozialdemokraten bei der Auswahl ihrer Spitzenkandidaten macht eine neuere Untersuchung des Parteienforschers Max Reinhardt aufmerksam. Er hat in einer langen Reihe von aufwendigen qualitativen Interviews mit sozialdemokratischen Spitzenpolitikern einen deutlichen Wandel des Habitus bei den Repräsentanten des SPD-Flügels herausgearbeitet, die sich im innerparteilichen Machtkampf um die Durchsetzung der Agenda-Politik gegen die eher traditionalistischen und "linken" Faktionen bis hin zu einer klaren Dominanz an der Parteispitze durchgesetzt haben. Dies ist bei genauerem Hinsehen ein alarmierender Befund; denn er besagt, dass die eher schwachen sozialdemokratischen Kandidaten bei den letzten beiden Bundestagswahlen nicht nur in den prinzipiell zufälligen Persönlichkeitskonstellationen bei der Kandidatenauswahl begründet waren. Vielmehr legen Reinhardts Befunde zum veränderten Habitus der neuen SPD-Führungselite den Schluss nahe, dass unter den gegebenen innerparteilichen Macht- und Positionskämpfen gewissermaßen systematisch Kandidaten rekrutiert werden, die aufgrund ihres Habitus mit den potentiellen Anhängern der SPD "fremdeln" und somit die Mobilisierungsprobleme in bestimmten Wählersegmenten perpetuieren.

Damit rücken schließlich die innerparteilichen Flügel- und Faktionskämpfe in ein verändertes Licht. Zumeist wird in dieser Beziehung die parteiöffentliche Diskussion von der These beherrscht, dass innerparteiliche Geschlossenheit ein hoher, wenn nicht gar der höchste Wert sei. Allerdings sollte diese simple Einsicht nicht für die mittel- und langfristige Bedeutung eines innerparteilichen Faktionspluralismus unempfänglich machen. Rivalisierende Parteieliten bieten immer auch die Chance, Irrwege bei der Entwicklung des politischen Deutungsrahmens zu korrigieren und personelle, habituelle und programmatische Alternativen bereitzustellen. Parteien lernen durch Elitenkonkurrenz und -verdrängung.

Nach den Erfahrungen der SPD während des vergangenen Jahrzehnts des Niedergangs am Wählermarkt bedeutet dies in erster Linie, Alternativen zu dem gegenwärtig dominanten Deutungsrahmen einer weitgehend marktkonformen Sozialdemokratie zu suchen. Auch hier ist zunächst hilfreich, von den Befunden der Wahlforschung auszugehen; sie sind eindeutig. "Seit den 1980er Jahren hat sich die ideologische Selbstpositionierung der deutschen Bürger kontinuierlich nach links verschoben. Es sind zudem Unterschiede zwischen den Generationen auszumachen: Je jünger die Generation, desto weiter links positionieren sich ihre Vertreter. Die SPD hingegen hat den Kampf um die Vorherrschaft im linken ideologischen Raum unter den jüngeren Wählern, wie es scheint, bereits verloren. Während sie bei Wählern aus der Vorkriegs- und Kriegsgeneration noch den linken Raum dominierte, wählten innerhalb der jüngsten Generation links orientierte Wähler entweder die Grünen oder die Linkspartei, jedoch nicht mehr die SPD" (Roßteutscher, Scherer 2014, S. 222). Der Befund einer deutlichen Mehrheit linker Selbsteinstufungen ergänzt die überwältigende Mehrheit für das traditionelle, sozialdemokratische Verständnis in allen Befragungen zu den Wohlfahrtsstaatstraditionen. Beide Mehrheiten zusammen verleihen dem klassischen, vor nunmehr einem Jahrzehnt verworfenen Deutungsrahmen einer wohlfahrtsstaatlichen und auf Dekommodifizierung bedachten Sozialdemokratie Aktualität und Attraktivität, übrigens auch und gerade für Europa.

Es wird nun darauf ankommen, Zug um Zug die unterbrochene Debatte über den Wohlfahrtsstaat ohne Denkverbote wieder in Gang zu bringen und dem klassischen Deutungsrahmen wieder näher zu kommen. Mit diesem Deutungsrahmen wird eine um lebendige Faktionen bereicherte SPD schon mittelfristig auch wieder die politische Führungsrolle einer pluralisierten Linken in Deutschland erringen können.

Dr. Gerd Mielke ist Professor am Institut für Politikwissenschaft an der Johannes Gutenberg - Universität Mainz.


Endnoten

[1] Für einen Teil der von den neuen Flexibilitäten am Arbeitsmarkt betroffenen Gruppen erzeugt diese erhöhte Mobilitätserfordernis erhebliche Unsicherheiten (Standing 2011, S. 1 - 25, insbes. S. 10).

[2] Siehe hierzu die international vergleichende Studie von Bernhard Weßels und Aiko Wagner (2013); zu einem ähnlichen Ergebnis kommt auch bereits Frank Brettschneider (2002).


Literaturhinweise:

• Brettschneider, Frank (2002): Spitzenkandidaten und Wahlerfolg. Personalisierung - Kompetenz - Parteien. Ein internationaler Vergleich. Westdeutscher Verlag, Wiesbaden.

• Reinhardt, Max (2011): Aufstieg und Krise der SPD: Flügel und Repräsentanten einer pluralistischen Volkspartei. Nomos Verlag, Baden-Baden.

• Roßteutscher, Sigrid; Scherer, Philipp (2014): "Ideologie"; in: Rüdiger Schmitt-Beck, Hans Rattinger, Sigrid Roßteutscher, Bernhard Wessels, Christof Wolf et. al.: Zwischen Fragmentierung und Konzentration: Die Bundestagswahl 2013. Nomos Verlag, Baden-Baden, S. 213 - 223.

• Standing, Guy (2011): The Precariat. The New Dangerous Class. Bloomsbury London, New Delhi, New York, Sidney.

• Weßels, Bernhard; Wagner, Aiko (2013): "Repräsentation durch Parteien und Kandidaten in vergleichender Perspektive - was macht den Unterschied für das Wahlverhalten?", in: Bernhard Weßels, Harald Schoen, Oscar W. Gabriel (Hrsg.): Wahlen und Wähler. Analysen aus Anlass der Bundestagswahl 2009. Springer VS, Wiesbaden, S. 553 - 574.

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Quelle:
spw - Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft
Ausgabe 6/2014, Heft 205, Seite 20 - 27
mit freundlicher Genehmigung der HerausgeberInnen
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veröffentlicht im Schattenblick zum 31. Dezember 2014


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