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PARTEIEN/181: Die SPD lässt die Fahne der Solidarität wieder wehen (spw)


spw - Ausgabe 2/2019 - Heft 231
Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft

Die SPD lässt die Fahne der Solidarität wieder wehen

von Stefanie Börner(1)


Einleitung

Auf der Jahresauftaktklausur im Februar dieses Jahres stimmte der Parteivorstand der SPD einstimmig für das sozialpolitische Zukunftsprogramm "Arbeit - Solidarität - Menschlichkeit. Ein neuer Sozialstaat für eine neue Zeit"(2) (SPD 2019) und beschloss damit zur offensichtlichen Freude von Parteichefin Andrea Nahles und anderen Parteilinken die Abkehr von der 2005 eingeführten Grundsicherung für Arbeitsuchende (SGB II), umgangssprachlich Hartz IV. Während der vergangenen Wochen wurde das Reformprogramm unter höchst unterschiedlichen Perspektiven diskutiert und kommentiert, wobei insbesondere Fragen der Finanzierbarkeit und Zukunftsfähigkeit des Sozialstaates im Zentrum standen. Die von der SPD erhoffte gesellschaftspolitische Debatte ist jedoch ausgeblieben. Das mag nicht zuletzt auch daran liegen, dass das Zukunftsprogramm in beiden Fragen erstaunlich stumm bleibt, was angesichts des Interesses der SPD, die Arbeitswelt der Zukunft mitzugestalten, überrascht. Im Programm findet sich zur Frage, wie die angedachten Programme zukünftig finanziert werden sollen, lediglich ein Satz: "[Der neue Sozialstaat] schafft es, alle angemessen an seiner Finanzierung zu beteiligen - auch im Zeitalter der digitalen Konzerne" (SPD 2019: 4). Insbesondere in der Verbindung beider Fragen fehlt es dem Programm an Phantasie und Mut. Dieser Beitrag bespricht das Reformprogramm daher als das, was es ist: der Versuch, in einem Kontext ökonomischer Hochstimmung und parteipolitischer Untergangsstimmung eine arbeitsmarktpolitischen Trendwende herbeizuführen, die es der SPD ermöglicht, endlich das schwere Erbe der Agenda 2010 (insbesondere des vierten Hartz-Gesetzes) hinter sich zu lassen.

Das Rezept, das die Parteispitze hierzu vorlegt, ist zunächst mal ein semantisches Ereignis, das sich um die zentralen Prinzipien (Lebens)Leistung, Solidarität, Bürgerfreundlichkeit und soziale Rechte entfaltet: "ein neuer Sozialstaat", der die "Anerkennung der Lebensleistung" mittels "sozialer Rechte" garantiert und durchzusetzen trachtete und der eine "neue solidarische Gesellschaft" hervorbringt.

Hatte sich der Fokus der Sozial- und Arbeitsmarktpolitik während der vergangenen Jahre vor dem Hintergrund der vergleichsweise guten wirtschaftlichen Lage bereits verschoben, liegt hiermit nun der endgültige Versuch vor, einen neuerlichen Paradigmenwechsel herbeizuführen. Standen seit den 1990er Jahren konjunkturfördernde arbeitgeberseitige Instrumente und Sparmaßnahmen im Vordergrund, bemühte sich die SPD während der vergangenen Jahre zunehmend, die Qualität der Arbeit zu verbessern. Die Einführung des Mindestlohns im Jahr 2015 stellte hier nur den wichtigsten Meilenstein dar; Entgelttransparenz, Tarifeinheit und die Erhöhung der Arbeitszeitautonomie (Brückenteilzeit, aber auch ElterngeldPlus) sind weitere Stichwörter. Auch eine vorsichtige Revision der Agenda 2010 war bereits vorher in der Re-Regulierung der atypischen Beschäftigungsverhältnisse zu beobachten und im eher schlanken Kapitel zum Thema "Gute Arbeit" treibt der aktuelle Koalitionsvertrag diese Tendenzen ebenfalls voran.

Das nun vorgelegte sozialpolitische Zukunftsprogramm scheint diese Trendwende hin zu einer arbeitnehmerfreundlichen Arbeitsmarktpolitik endgültig besiegeln zu wollen. Dass es dabei stärker auf die Vergangenheit gerichtet zu sein scheint als auf die Zukunft, erklärt sich aus dessen Ursprung, den es nun bemüht ist, vor dem Hintergrund einer gänzlich veränderten Arbeitsmarktsituation zu korrigieren: der Anfang der 2000er Jahre unter der Schröder-Regierung herbeigeführte arbeitsmarktpolitische Paradigmenwechsel von der passiven hin zur aktivierenden Arbeitsmarktpolitik. Gleich mehrfach betonte Nahles in der Pressekonferenz zur Jahresauftaktklausur Anfang Februar "Wir lassen Hartz IV hinter uns." und zeigte damit, wie stark die Hoffnungen auf den versprochenen sozialpolitischen Neuanfang mit dem von der SPD erhofften parteipolitischen Neuanfang verknüpft sind. Denn das vorgelegte Konzept zielt darauf ab, den durch die Harzt-IV-Gesetzgebung verordneten Solidaritätsabbau und den damit einhergehenden Autonomieverlust für die Adressatinnen und Adressaten zu kompensieren. Im Folgenden wird zunächst aufgezeigt, was unter Solidarität überhaupt zu verstehen ist und worin dieser Solidaritätsbruch bestand, bevor dann die Diskussion der anvisierten neuen sozialstaatlichen Solidarität in den Mittelpunkt rückt.

Fahnenwort Solidarität

Im öffentlichen Diskurs ist Solidarität meistens als mangelnde Ressource oder dringlicher Appell im Gespräch. Dieses Fahnenwort, wie es in der Linguistik heißt, wird häufig als Anklage, um auf einen Mangel an Solidarität hinzuweisen, verwendet. Es nimmt hierbei den Rang eines schwer erreichbaren Ideals ein. Diese Rhetorikanfälligkeit macht den Begriff nicht selten zu einem leeren Signifikanten.

Demgegenüber ist in sozialwissenschaftlichen Betrachtungen von Solidarität häufig metaphernreich als "vielschichtigem Kitt sozialen Zusammenlebens" (Prisching 2003: 157) oder "sozialem Zement" (Bayertz 1998: 11) die Rede. Analytisch beinhaltet dieser soziologische Solidaritätsbegriff einen Hinweis auf die Art und Weise, wie soziale Beziehungen in einer Gesellschaft gestaltet sind. Denn anders als häufig angenommen, handelt es sich bei Solidarität nicht um Almosen oder freigiebige Wohltätigkeiten, sondern um reziproke Unterstützungsbeziehungen, die auf der Erkenntnis der menschlichen "Ergänzungsbedürftigkeit" (Hillmann 1994: 793) und gemeinsam bzw. gesellschaftlich verursachter Problemstellungen beruhen. Paradoxerweise muss gemeinschaftsorientiertes, also uneigennütziges Handeln hierbei nicht im Vordergrund stehen. Stabilität und Gemeinwohl entstehen vielmehr aufgrund der ausgeübten Praxis und dem Bewusstsein über die "wechselseitige Abhängigkeit im Dienste der gemeinsamen Zielverfolgung" (Bude 2019: 101). Das schließt die Verfolgung eigener Interessen nicht aus (Börner 2018).

Für staatliche Sozialpolitik erwies sich diese Konstruktion als äußerst tragfähig. Gerade die abstrakte Reziprozität der sich über lange Zeithorizonte erstreckenden sozialen Beziehungen, die sich bspw. im Rahmen der Sozialversicherungen etabliert hatten, haben die Funktionsfähigkeit und öffentliche Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates langfristig gesichert. Für die Wohlfahrtsstaatsforschung verkörpert der Sozialstaat damit eine moderne Form institutionalisierter Solidarität (Prisching 2003: 157). Durch die Institutionalisierung können soziale Rechte garantiert werden, dank derer die für die individuelle Lebensplanung zentrale Erwartungssicherheit auf Seiten der sozialstaatlichen Adressat_innen möglich wurde. Ein gewisses Maß an Mitwirkungspflichten (Beitragszahlung, Einhaltung bestimmter Fristen u. Ä.) ermöglicht zudem das gegenseitige Vertrauen zwischen völlig Unbekannten.

Neben zahlreichen anderen Solidaritätspraktiken ist staatliche Sozialpolitik somit zu einer Möglichkeit geworden, welche die auf Gegenseitigkeit eingestellten sozialen Beziehungen in modernen Gesellschaften großflächig zu steuern und bei Bedarf ausgleichend einzugreifen vermag, so dass auch Solidarität unter Fremden möglich wurde. Dieses "Solidaritätsmanagement" (Fehmel 2019) erlaubt es nicht nur, horizontal Beziehungen zwischen den Bürgerinnen und Bürgern zu knüpfen, sondern ebenso vertikale Beziehungen zwischen der Bürgerschaft und dem Staat (bzw. den ihn vertretenden Sozialverwaltungen etc.). Die 2005 eingeführte Grundsicherung für Langzeitarbeitslose brach in mehrfacher Hinsicht mit diesem Arrangement.

Vom folgenreichen Solidaritätsbruch ....

Die Einführung des neuen Arbeitslosengeldes für Langzeitarbeitslose (ALG II) 2005 im Rahmen der Agenda 2010 bedeutete nicht nur eine Kürzung der Leistungen an Arbeitsuchende, die fortan als mindestsichernder Pauschalbetrag statt als Versicherungsleistung ausgezahlt wurden, sondern brachte auch auf der Ebene der sozialstaatlichen Leitprinzipien eine Reihe von Veränderungen mit sich, die einhellig als Paradigmenwechsel bezeichnet werden. Zeichnete sich der klassisch fürsorgende Sozialstaat durch umfassende arbeitsrechtliche Regulierungen und überwiegend kompensatorische Maßnahmenbündel aus, zielt der sogenannte aktivierende Wohlfahrtsstaat auf die präventive Mobilisierung eigenverantwortlicher Subjekte (Dingeldey 2006; Lessenich 2008). Auch wenn sich das Aktivierungsparadigma längst nicht auf die Arbeitsmarktpolitik beschränkt, so lassen sich die aktivierenden Maßnahmen doch am besten an ihrer Reformierung nachvollziehen. Auf der Instrumentenebene ist der eingeschlagene Pfad der Aktivierungspolitik durch eine bis in die Kohl-Ära zurückreichende Flexibilisierung des Arbeitsmarktes und der Beschäftigungsverhältnisse, die Einführung arbeitsfördernder Maßnahmen und die Konditionalisierung des Sozialleistungsbezugs gekennzeichnet. Erwerbsarbeit wird damit für alle nicht Erwerbstätigen zum wichtigsten und einzigen legitimen Mittel gesellschaftlicher Teilhabe (vgl. auch Bothfeld/Betzelt 2011).

Konkret modifizierte ALG II erstens die Zugangsvoraussetzung für Langzeitarbeitslose zu Arbeitslosenhilfeleistungen. Unter der Maxime des "Förderns und Forderns" werden Arbeitsuchende, die länger als ein Jahr erwerbslos sind oder keinerlei Ansprüche in der Arbeitslosenversicherung erworben haben, dazu angehalten, sich selbst um die Vermarktung, Wiederherstellung oder Aufrechterhaltung ihrer Arbeitskraft zu bemühen. Zu diesem Zweck wurden die Kriterien, die festlegen, ab wann die Aufnahme einer Tätigkeit zumutbar ist, grundlegend verschärft und von dem Vergleich mit der vorherigen Tätigkeit, der eigenen Qualifikation und dem Wohnort abgekoppelt. Zweitens brachte die Reform eine Leistungskürzung mit sich, die sich einerseits aus der Kürzung der Bezugsdauer von Arbeitslosengeld I im Rahmen der Sozialversicherung auf ein Jahr ergab und andererseits aus der Einführung einer neuen grundsichernden (statt wie zuvor lebensstandardsichernden) Regelleistung, dem Arbeitslosengeld II bestand.(3) Die Einführung von ALG II wurde drittens von einer Reihe restriktiver Kontroll- und Sanktionsmechanismen flankiert, die im scharfen Widerspruch zu dem Imperativ der Eigenverantwortung (dem 'Fordern' also) stehen, da sie eigenverantwortliche Bemühungen jenseits der als gesetzlich legitim erachteten Strategien nahezu unmöglich machten. Neben der umstrittenen Frage nach der angemessenen Höhe des ALG II-Regelsatzes stellt bis heute insbesondere die Praxis der Sanktionierung, also der Leistungskürzung bis hin zu -streichung im Falle einer Pflichtverletzung, die größte Kontroverse dar.(4)

Die neue arbeitsmarktpolitische Anreizstruktur führte so zu einer "Individualisierung der Verantwortung für das eigene Arbeitsmarktschicksal" (Marquardsen 2007: 263), die eine folgenreiche Neuordnung der sozialen Beziehungen im Sozialstaat herbeiführte und die sozialstaatliche Rechtfertigungsordnung von Grund auf veränderte (Lessenich 2008: 76f.). In dieser neuen gesellschaftlichen Grundordnung tritt der Staat als sorgender Garant sozialer Rechte in den Hintergrund. An die Stelle des Versorgungsversprechens tritt ein ambivalentes Freiheitsversprechen, das für zahlreiche Betroffene dem Ende der sozialpolitischen Erwartungssicherheit gleichkommt und für so manchen zum Zwang wird (Marquardsen 2007). Gewissermaßen hat sich die Erwartungssicherheit, die im damaligen Diskurs als illegitime Erwartungshaltung gegenüber dem Staat betrachtet wurde, sogar umgekehrt. Denn die neue Arbeitsmarktpolitik drückte sich in der "Erwartungshaltung des Versicherers an den Versicherten, den materiellen und nichtmateriellen Leistungen des Arbeitsamtes im Sinne der Schadensminderungspflicht durch ein angemessenes, zielführendes Verhalten zu begegnen", aus (Hartz et al. 2002: 45). Damit kam es aber auch zu Umkehrung der Schuldfrage: wer arbeitslos ist oder bleibt hat sich nicht ausreichend bemüht. Sogenannten sozialen Randgruppen, die zuvor legitimer Bestandteil der Solidargemeinschaft waren, drohte nun die soziale Exklusion.

Die Sozialreform von 2005 stellte also insofern eine Verletzung sozialstaatlicher Solidarität dar, als dass die staatlich moderierten und gesetzlich formalisierten gegenseitigen Hilfebeziehungen zugunsten eines marktorientierten Selbstunternehmertums aufgelöst wurden (Bröckling 2007). In der Konsequenz setzte der eingeschlagene Pfad gleich mehrere Entsolidarisierungsprozesse in Gang (politisch, medial und zwischenmenschlich), im Rahmen derer die in einem Sozialversicherungsstaat wie dem deutschen ohnehin wirkmächtigen gesellschaftlichen Anforderungen an den Normalarbeitsbürger verallgemeinert und auch auf die Schwächsten der Gesellschaft übertragen wurden (Promberger/Ramos Lobato 2016: 325). Solidarität gegenüber Langzeitarbeitslosen, Geringqualifizierten etc. hat sich damit auf ein Mindestmaß reduziert, sowohl in zeitlich als auch in finanzieller Hinsicht.

Für die Adressatinnen und Adressaten des Sozialstaates brachte der arbeitsmarktpolitische Paradigmenwechsel ein Klima der Verunsicherung mit sich, das nicht nur für Erwerbslose, sondern auch für die große Zahl atypisch Beschäftigter einen Bewusstseinswandel herbeigeführt hat (Grimm et al. 2006). Von allen Wirkungen der Hartz-Gesetze sollte sich dieser Vertrauensverlust in Folge der Solidaritätsbrüche für die Sozialdemokratie als besonders schwerwiegend herausstellen. Folglich zielt ein Großteil des Reformprogramms der SPD auf die Wiederherstellung von Vertrauen durch die Neuknüpfung solidarischer Bande ab.

... zum hoffnungsvollen Solidaritätsversprechen

Die im Reformkonzept anvisierten arbeitsmarktpolitischen Neuerungen (weitere Reformvorschläge für die Bereiche Alterssicherung, Gesundheit, Pflege und Wohngeld sollen folgen) zielen auf eine Neuordnung und in Teilen Wiederherstellung der Solidarbeziehungen unter den aktuellen Vorzeichen der Wirtschafts- und Arbeitswelt ab. Der Reformbedarf ergibt sich laut Konzept durch die strukturellen Veränderungen am Arbeitsmarkt, genauer den Wandel von "Berufsbildern, Arbeitszeitmodellen und Qualifikationsanforderungen", [3] die eine nachholende Modernisierung des Sozialstaates erforderlich machen. Das Konzept bekennt sich zur Arbeitsgesellschaft, aus der ein Recht auf Arbeit abgeleitet wird. Entsprechend sei "die Solidargemeinschaft dazu verpflichtet, sich um jeden Einzelnen zu kümmern und jedem Arbeit und Teilhabe zu ermöglichen" [3]. Das kurz und knapp vorgetragene Selbstverständnis stellt die Handlungsgrundlage des neuen Sozialstaates dar, markiert aber auch dessen Grenzen (die bspw. in einer Absage an ein bedingungsloses Grundeinkommen bestehen).

Einer der Schlüsselsätze des Papiers verrät, dass es sich bei der Zukunftsgestaltung des Sozialstaates für die SPD v.a. um Vergangenheitsbewältigung handelt. Denn mit den kritisch zu hinterfragenden "Gewissheiten der vergangenen 20 Jahre" sind die Fakten, die der aktivierende Sozialstaat geschaffen hat, gemeint: soziale Exklusion, Abstiegs- bzw. Existenzängste für viele Arbeitnehmer_innen, eine zunehmende Bandbreite prekärer Beschäftigungsverhältnisse und menschenunwürdige Sanktionspraktiken.(5) Gewissheiten, deren Daseinsberechtigung sich in den diskursiven Anrufungen der vergangenen Jahre in weiten Teilen erfolgreich durchgesetzt hat.

Das Herzstück der Solidargemeinschaft bilden drei Instrumente, die weit über den Regelungsbereich des SGB II hinausreichen: eine solidarische Arbeitsversicherung, das ALG II ersetzende Bürgergeld und eine sozialdemokratische Kindergrundsicherung. Sie sollen dem Anspruch nach nicht nur soziale Exklusion verhindern, sondern auch die Lebensleistung der Bürger_innen anerkennen sowie den Anforderungen der sich wandelnden Arbeitswelt gerecht werden. Auch wenn semantisch ein anderer Eindruck erweckt wird, bewegen sich die vorgeschlagenen Maßnahmen zum Solidaritätsmanagement im Rahmen der existierenden arbeitsmarktpolitischen Instrumente:

Die solidarische Arbeitsversicherung: In der bestehenden gesetzlichen Arbeitslosenversicherung (SGB III) sieht das Konzept eine Erweiterung des Leistungskatalogs sowohl auf der Ebene der aktiven Arbeitsförderung als auch der Lohnersatzleistung vor. Der Anspruch von Arbeitslosengeld I soll altersunabhängig so verlängert werden, dass langjährig Versicherte auch einen längeren ALG-I-Anspruch haben. Die Antwort der SPD auf die arbeitsmarktpolitischen Herausforderungen der Digitalisierung lautet Qualifizierung. Strukturell bedingten Arbeitsmarktflauten will die Partei zukünftig mit dem Ausbau der Arbeitsförderungsund Qualifizierungsmaßnahmen zum Arbeitslosengeld-Q entgegenwirken, mit Hilfe dessen eine Verschiebung hin zur Prävention von Erwerbslosigkeit angestrebt wird. Bei Teilnahme an einer Weiterbildungsmaßnahme kann damit der ALG I und Q-Bezug auf insgesamt maximal drei Jahre ausgedehnt und damit der häufig als sozialer Abstieg empfundene Wechsel der Rechtskreise vom SGB III ins SGB II im Fall anhaltender Erwerbslosigkeit hinausgezögert werden.

Die sozialdemokratische Kindergrundsicherung: Mit dem Ziel, die Teilhabechancen von Kindern, die in ALG II-Haushalten aufwachsen, zu verbessern, wird in dem Konzept eine von Sozialverbänden schon länger geforderte eigenständige Kindergrundsicherung vorgeschlagen. Die individuelle Förderung durch den Kinderzuschlag in Höhe von monatlich 408 Euro soll durch den Ausbau der öffentlichen Infrastruktur im Bereich Bildung, Betreuung und Förderung ergänzt werden.

Das Bürgergeld: Das seit 2005 unter dem Reizwort Hartz IV kursierende ALG II möchte die SPD in ein Bürgergeld umwandeln, das den Bezieherinnen und Beziehern wieder mehr Selbstbestimmung im Rahmen des SGB II gewährt. Während der ersten zwei Jahre des Leistungsbezugs soll bspw. Vermögen nicht mehr berücksichtigt und auf die Überprüfung der Angemessenheit des Wohnraums verzichtet werden. Eine weitere Akzentverschiebung des bisherigen Ansatzes verfolgt die Partei mit dem Ausbau des dritten Arbeitsmarktes, der langjährig Arbeitsuchenden die Rückkehr auf den Arbeitsmarkt ermöglichen soll und der mit dem zu Beginn des Jahres in Kraft getretenen Teilhabechancengesetz bereits begonnen wurde. Auch wenn in dem Zukunftskonzept grundlegend für eine Neuausrichtung der Anreizstruktur von negativen hin zu positiven Anreizen plädiert wird, scheint sich die Partei bei der Frage des zukünftigen Umgangs mit Sanktionen schwer zu tun und schlägt einen Mittelweg vor: Nicht der komplette Verzicht auf Sanktionen, sondern die Abschaffung "sinnwidriger und unwürdiger Sanktionen" ist vorgesehen (S. 16). Damit sind scheinbar strengere Sanktionen für unter 25jährige, die Kürzung der Wohnkosten sowie die vollständige Leistungskürzung gemeint. Das Bürgergeld zielt aber auch auf eine Korrektur der weichen Faktoren des Hartz IV-Regimes ab, die den ALG IIBezug für viele zu einer unwürdigen Erfahrung gemacht haben: einen würdevolleren Umgang miteinander, eine "Partnerschaft auf Augenhöhe" ohne Bevormundung (S. 16), die Vereinfachung der Verfahren und verbesserte Kommunikationsprozesse.

Nach diesem Konzept löst der neue Sozialstaat seine Vorstellung von Solidarität dahingehend ein, dass v.a. langfristig Erwerbstätige in Zeiten der Bedürftigkeit unterstützt werden. Wobei sich nicht die Höhe der Unterstützungsleistungen verändern soll, sondern die Dauer. Daneben wird auch den schwächsten Mitgliedern der Gesellschaft - Kindern in einkommensschwachen Haushalten sowie langjährigen Erwerbslosen, denen der Arbeitsmarktzugang aus eigenen Kräften nicht mehr gelingt - ein Recht auf Förderung zugesprochen. Die so geplante Neugestaltung der gesellschaftlichen Solidarbeziehungen zielt langfristig auch darauf ab, so die Hoffnung, das Vertrauen in den sozial- und arbeitsmarktpolitischen Gestaltungswillen der SPD wiederherzustellen. Im Umkehrschluss bedeutet das keineswegs, dass die Mitwirkungspflichten und Beweislast völlig auf Seiten des Sozialstaates wandern. Die auf Gegenseitigkeit beruhenden Rechte und Pflichten sind vielmehr in dem Verständnis sozialer Rechte und sozialstaatlicher Solidarität angelegt und sollten im Idealfall ausgewogener sein als in der bisherigen Praxis des "Förderns und Forderns".

Während die Reformvorschläge auf positive statt negative Anreize abzielen, bleibt die Höhe der Grundsicherung unverändert. Insbesondere daran zeigt sich, dass es der Partei v.a. um die Überarbeitung der dem SGB II impliziten Leitprinzipien und die Korrektur des hierzulande eingeschlagenen aktivierungspolitischen Weges und nicht um die Vermeidung von Bedürftigkeit im eigentlichen Sinne geht.

Bürgernähe und -freundlichkeit betont das Reformprogramm durchweg. In dieser Hinsicht scheint sich die Sozialdemokratie ganz besonders zu bemühen, einen Kontrapunkt zu dem häufig nur einseitig eingelösten Grundsatzes des "Förderns und Forderns" zu setzen. Das wird durch die wiederholte Betonung dreier Prinzipien erreicht: der Respekt vor bzw. die Anerkennung von Lebensleistung; das Recht auf Arbeit (aber auch auf mobiles Arbeiten, Teilzeit, Weiterbildung und sogar auf Nichterreichbarkeit) sowie die Wiederherstellung einer intakten Solidargemeinschaft in der Sicherungsdimension Erwerbslosigkeit. Die geplanten Fördermaßnahmen dürften die im deutschen Sozialstaat eher moderaten Ausgaben für aktive Arbeitsmarktpolitik in die Höhe treiben. Auf dieser Dimension nähert sich das Konzept dem sozialdemokratischen Modell der skandinavischen Länder an.

Dass Anerkennung von Lebensleistung neben Solidarität einen weiteren Leitgedanken des Textes darstellt, ist paradigmatisch für den derzeitigen sozialpolitischen Ansatz der Sozialdemokraten (vgl. auch das von Hubertus Heil zeitgleich präsentierte Konzept einer "RespektRente"). Weil der Begriff der Lebensleistung doch deutlich dem Konzept der Erwerbsarbeit verbunden bleibt, bekennt sich die Partei damit möglicherweise ungewollt zu dem hierzulande vorherrschenden konservativen Verständnis von Sozialstaatlichkeit. Das Modell ist für eher statussichernde statt armutsvermeidende Instrumente und seine meritokratische Anerkennungsordnung bekannt. Der Sozialstaat der Vergangenheit stellt sich so in mancherlei Hinsicht erstaunlich rückwärtsgewandt dar.

Fazit

Mit einer Mischung aus sozialdemokratischen und konservativen Sozialpolitiken baut die SPD auf ein "Sozialstaatsversprechen [, das auf] Arbeit, Solidarität und Menschlichkeit" basiert [3]. Ein betont menschenwürdiges, die Gegenseitigkeit der sozialstaatlichen Beziehungen betonendes Programm macht die angekündigte neue sozialpolitische Haltung aus. Damit erkennen die sozialpolitischen Akteure der SPD an, dass Sozialpolitik kein rein wirtschaftspolitisches Instrument der Konjunkturförderung ist, sondern die Beziehungen zwischen den Bürgerinnen und Bürgern sowie zwischen dem Staat und seinen Bürger_innen maßgeblich mitgestalten kann. Für die Normalarbeitsbürger_innen ginge eine Umsetzung des Reformprogramms für den Sozialstaat der Zukunft mit einer gesellschaftlichen Aufwertung einher, da die Reformvorschläge darauf abzielen, die Zumutungen der Vergangenheit gegen neue sozialrechtliche Erwartungssicherheiten einzutauschen. Damit würden für eine klassische Addressat_innengruppe des aktivierenden Wohlfahrtstaates, die in der Vergangenheit Solidaritätseinbußen hinnehmen musste, neue sozialstaatliche Solidarnormen formuliert, die Solidarität weniger über das Bedarfsprinzip legitimiert als vielmehr über die vorher erbrachte Arbeitsmarktleistung.


Anmerkungen

(1) Prof. Dr. Stefanie Börner ist Juniorprofessorin für die Soziologie europäischer Gesellschaften am Institut für Gesellschaftswissenschaften an der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg.

(2) https://www.spd.de/fileadmin/Bilder/SPDerneuern/201902_PV-Klausur/20190210_Neuer_Sozialstaat.pdf, abgerufen am 24.04.2019.

(3) Die neue Regelleistung ALG II wurde im Vierten Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt (2003) beschlossen. Sie führte die bisherigen Leistungen Arbeitslosen- und Sozialhilfe zu einer Grundsicherung für erwerbsfähige Langzeitarbeitslose zusammen.

(4) Über die Verfassungswidrigkeit der Sanktionen nach dem SGB II entscheidet derzeit das Bundesverfassungsgericht. 2014 erklärten BVG-Richter die Höhe der Regelleistung zwar als "derzeit noch vereinbar" mit der Verfassung, sahen aber Anpassungsbedarf bei der Berechnungsgrundlage im Zuge der nächsten Neuermittlung des Pauschalbetrags (BVerfG 2014).

(5) Für Viele mag auch die geringste Arbeitslosenquote seit fast 30 Jahren dazugehören (zum Zusammenhang der Agenda 2010 und dem Arbeitsmarktaufschwung vgl. Bofinger 2017).


Literatur
  • Bayertz, Kurt (1998): Begriff und Problem der Solidarität. In: Bayertz, K. (Hg.): Solidarität. Begriff und Problem. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 11-53.
  • Bofinger, P. (2017): Hartz IV: The Solution to the Unemployment Problems in the Eurozone? ZBW.
  • Bothfeld, S./Betzelt, S. (2011): Introduction. In: Dies. (Hg.): Activation and Labour Market Reforms in Europe. Challenges to Social Citizenship. Basingstoke: Palgrave, 3-14.
  • Bröckling, U. (2007): Das unternehmerische Selbst. Frankfurt/Main: Suhrkamp.
  • Börner, S. (2018): Strittige Solidarität. Zur Elastizität von Solidaritätskonstruktionen in den deutschen und britischen Arbeiterunterstützungskassen des 19. Jahrhunderts. Zeitschrift für Sozialreform 64(1), 23-49.
  • Bude, H, (2019): Solidarität. Die Zukunft einer großen Idee. München: Hanser.
  • BVerfG (2014): Beschluss des Ersten Senats vom 23. Juli 2014. 1 BvL 10/12 - Rn. (1-149),
    http://www.bverfg.de/e/ls20140723_1bvl001012.html.
  • Dingeldey, I. (2006): Aktivierender Wohlfahrtsstaat und sozialpolitische Steuerung. APuZ 8-9/2006, 3-9.
  • Fehmel, T. (2019): Konflikt und Solidarität als Verhältnis dynamischer Vergesellschaftung. Berliner Journal für Soziologie 19(3), im Erscheinen.
  • Grimm, N./Hirseland, A./Vogel, B. (2013): Die Ausweitung der Zwischenzone. Soziale Welt 64, 249-268.
  • Hartz, P. et al. (2002): Moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt. Vorschläge der Kommission zum Abbau der Arbeitslosigkeit und zur Umstrukturierung der Bundesanstalt für Arbeit. Berlin: BMAS.
  • Hillmann, K.-H. (1994): Wörterbuch der Soziologie. Stuttgart: Kröner.
  • Lessenich, S: (2008): Die Neuerfindung des Sozialen. Bielefeld: transcript.
  • In: Lessenich, S. (Hg.): Wohlfahrtsstaatliche Grundbegriffe: Historische und aktuelle Diskurse. Frankfurt a. M.: Campus, 157-190.
  • Marquardsen, K. (2007): Was ist "Aktivierung" in der Arbeitsmarktpolitik? WSI Mitteilungen 5/2007, 259-265.
  • Promberger, M./Ramos Lobato, P. (2016): Zehn Jahre Hartz IV - eine kritische Würdigung. WSI-Mitteilungen 5/2016, 325-333.
  • Prisching, M. (2003): Solidarität. Der vielschichtige Kitt gesellschaftlichen Zusammenlebens.
  • SPD (2019): Arbeit-Solidarität-Menschlichkeit. Ein neuer Sozialstaat für eine neue Zeit. SPD-Parteivorstand, Berlin, Februar 2019.

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Quelle:
spw - Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft
Ausgabe 2/2019, Heft 231, Seite 15-21
mit freundlicher Genehmigung der HerausgeberInnen
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veröffentlicht im Schattenblick zum 21. Mai 2019

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