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REDE/768: Steinbrück in der Debatte zur Situation in Deutschland, 08.09.09 (BPA)


Presse- und Informationsamt der Bundesregierung
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Rede des Bundesministers der Finanzen, Peer Steinbrück, in der Debatte zur Situation in Deutschland vor dem Deutschen Bundestag am 8. September 2009 in Berlin:


Wenn Sie das doch in Ihren Beziehungen zu Schweizer Bankern sowie zu Vertretern der Schweizer Regierung einmal ausgesprochen und auf den Punkt gebracht hätten! Sie haben hier "Kavallerie" gerufen, um mich gleich einzunorden.

Ich überlege noch, ob ich jetzt eine Wahlkampfrede halte oder eine Parlamentsrede. Was ich definitiv nicht machen werde, ist, das Parlament mit einer Talkshow zu verwechseln, Herr Westerwelle. Der Fehler wird mir nicht passieren.

Heute in sieben Tagen ist es ein Jahr her, dass sich - die Pleite von Lehman Brothers war das Epizentrum - das Beben weltweit ausbreitete. Zwei Tage später hätten wir es mit dem Fall von AIG mit einer Situation zu tun gehabt, die in der Tat nicht nur in der Bundesrepublik Deutschland, sondern weltweit zu einer Kernschmelze der gesamten Finanzmarktarchitektur hätte führen können. Weltweit hat es entsprechende Erschütterungen gegeben. Es kam zu Übersprungeffekten.

Ich habe damals sehr früh zwei Sätze gesagt:

Erstens. Nach dieser Krise wird die Welt nicht mehr so aussehen wie vor der Krise. Diejenigen, die das bis heute nicht gelernt haben, sollten es durch die Beiträge des Deutschen Bundestages langsam lernen.

Zweitens. Das ist nicht nur eine Krise, sondern eine Zäsur. Wir haben es nicht nur mit einer enormen ökonomischen Wertvernichtung zu tun, sondern wir haben es auch mit erheblichen sozialen, ja mit gesellschaftlichen Konsequenzen zu tun. Darüber will ich gerne einige Worte verlieren.

Wichtig ist gewesen - das war die Leitschnur dieser Regierung, die wir gut eingehalten haben -, dabei vier Gedanken nicht nur zu verfolgen, sondern uns auch in der konkreten Politik daran zu halten.

Erstens. Wir wollten keine Schlangen von Menschen vor der Filiale eines deutschen Kreditinstitutes sehen. Das diesbezügliche Bild, dass sich vor der Filiale einer englischen Bank Schlangen von Menschen bildeten, die aus Verunsicherung und Angst ihr Geld abhoben, hat diese Politik sehr geprägt, weil wir gleichzeitig wussten, dass solche Bilder in Deutschland vor dem Hintergrund einer historischen Traumatisierung aus dem 20. Jahrhundert eine völlig andere Wirkung haben als im Vereinigten Königreich mit einer sehr viel kontinuierlicheren und weniger tragisch entwickelten Geschichte des 20. Jahrhunderts.

Zweitens. Wir wollten verhindern - dabei standen wir im Obligo auch internationaler Zusagen -, dass eine deutsche Bank, egal welcher Säule zugehörig, möglicherweise einen Dominosteineffekt auslöst, sodass andere Banken betroffen sind und plötzlich eine systematische Erschütterung erfolgt, die weit über Deutschland hätte hinausgehen können.

Drittens. Wir wollten verhindern, dass sich eine solche Krise wiederholt. Anders als manche Oppositionspolitiker behaupten, lässt sich belegen, was uns in diesen letzten zwölf Monaten an Regulierungsmaßnahmen und der Umsetzung des Prinzips, dass kein Finanzmarktteilnehmer, kein Finanzmarktprodukt, kein einzelner Finanzmarkt ohne Aufsicht und ohne Regelung sein soll, gelungen ist.

Viertens. Wir wollten nicht tatenlos zusehen, dass Millionen von Menschen unverschuldet in die Arbeitslosigkeit hineingeraten. Das ist der Sinn der Konjunkturpakete I und II gewesen. In diesem Sinne, glaube ich, dass die Große Koalition in diesen zwölf Monaten ein gutes Krisenmanagement geleistet hat.

Im internationalen Vergleich sind wir bisher nicht schlecht durch diese Krise gekommen. Die Konjunkturprogramme bekommen intern und vor allen Dingen auch von ausländischen Beobachtern sehr viel bessere Zensuren als von der Opposition. Es gibt eine Studie, die selten zitiert wird - ich glaube von der Boston Consulting Group -, die insbesondere dem Konjunkturpaket II im internationalen Vergleich Bestnoten gibt. Diese Studie spielt im politischen Schlagabtausch aber nur sehr selten eine Rolle.

Die von Herrn Westerwelle so kritisierte Abwrackprämie ist inzwischen von mehreren Staaten, nicht zuletzt in den USA, ebenfalls eingeführt worden. Wenn er denn die Rolle bekommt, in die er gerne hinein möchte, dann kann er der amerikanischen Regierung ja vorhalten, welchen Mist sie gerade mit der Abwrackprämie gebaut hat.

Der allerletzte Kronzeuge für eine analytische Aufarbeitung dieser Krise, die allerletzte Instanz, die uns raten kann, wie wir über Leitplanken und Verkehrsregeln aus dieser Krise herauskommen, ist nun wirklich die FDP. Ich kenne keine andere politische Kraft, auch in diesem Haus, die die Monstranz der entfesselten Märkte in der Zeit nach Reagan und Thatcher so hochgehalten hat wie die FDP. Ich kenne keine andere Partei und keine andere Fraktion, die in den letzten zehn Jahren drögere Predigten einer Markttheologie gehalten haben als Ihre Partei.

Deshalb haben Sie bis heute auch kein Verhältnis zur Finanzmarktkrise. Ich kenne von Ihrer Fraktion, Ihrer Partei keinerlei Beiträge zur Aufarbeitung, die in irgendeiner Form von nennenswerter Bedeutung sind. Ich kenne entsprechende Beiträge von anderen Parteien, aber von der FDP kenne ich keine. Ich kenne keine einzige analytische Aufarbeitung, nur ein Stichwort, auf das ich später zu sprechen komme. Ich kenne kein konzises Papier, keine konzise Position von Ihnen über das, was Sie konkret an Finanzmarktregulierung in Zukunft für notwendig halten. Da ist nichts.

In Ihren Reden verirren Sie sich immer wieder in dem Thema Bankenaufsicht. Darüber kann man reden; ich komme gleich darauf zu sprechen. Aber mit diesem Seitenschritt lenken Sie in Wirklichkeit davon ab, dass Ihr ordnungspolitischer Faden gerissen ist.

Sie lenken davon ab, dass Ihre ideologische Markttheologie gescheitert ist, sonst müssten Sie sich auf mehr einlassen, als nur diesen Hinweis zur Bankenaufsicht zu geben. Im Übrigen verschweigen Sie dabei regelmäßig in fast allen Ihren Beiträgen, Herr Westerwelle, dass es vier oder fünf gesetzliche Initiativen der Großen Koalition zur Verbesserung der Bankenaufsicht gegeben hat. Zuletzt wurde übrigens im Juni ein Banken- und Versicherungsaufsichtsgesetz mit überwältigender Mehrheit des Parlamentes beschlossen.

Sie verschweigen auch regelmäßig in den Parlamentsdebatten, dass wir es längst mit einer neuen Aufsichtsrichtlinie zur Zusammenarbeit von BaFin und Bundesbank zu tun haben, unbenommen der Tatsache, dass national wie international selbstverständlich weitere Themen zur Verbesserung der Bankenaufsicht anstehen.

Das, was ich faszinierend an dem finde, was Sie hier betreiben, Herr Westerwelle, möchte ich anhand eines Zitats des Journalisten Nils Minkmar verdeutlichen. Er nennt das die akustische Möblierung des öffentlichen Raumes. Sie verwenden immer dieselben Stichworte, aber immer mit einer selbst verordneten Begrenzung Ihres Blickwinkels.

Ich will Ihnen drei Beispiele aus Ihrer Rede geben. Sie behaupten mit großem Affront, großem Temperament und auch in einer erheblichen Lautstärke: Wir tragen dafür Sorge, dass Familien - verheiratet, zwei Kinder - mit einem Jahreseinkommen von bis zu 40.000 Euro keine Steuern bezahlen müssen. Dabei ist dies längst Fakt! Die genaue Zahl beträgt nicht 40.000 Euro, sondern 39.000 und ein paar Zerquetschte, und zwar dank einer Steuerpolitik, die schon unter Schröder und später in der Großen Koalition gemacht worden ist. All diese Familien - verheiratet, zwei Kinder - zahlen, unter Anrechnung des Kindergeldes, in Deutschland keine Steuern. Sie zahlen Sozialversicherungsabgaben. Da Sie sich immer auf dem Gebiet der Steuerpolitik verirren, gilt: Vorsicht an der Bahnsteigkante! Das geht meistens schief.

- Sie versuchen, einen Nerv zu treffen: die größte Steuerhöhe in der Geschichte der Republik. Ich stehe gar nicht lange an, um zu bestätigen, dass das mit der Mehrwertsteuer so gelaufen ist und dass das im Kurzzeitgedächtnis der Menschen drin ist; da gebe ich Ihnen recht. Das ist, wie ich glaube, einer der Gründe, warum sich CDU/CSU und SPD darauf geeinigt haben, an dem Regelsatz der Mehrwertsteuer nicht herumzufummeln. Was Sie aber regelmäßig verschweigen, ist, dass in der Zeit dieser Großen Koalition, wenn man die Gesamtheit aller steuer- und abgabenpolitischen Beschlüsse betrachtet, eine Nettoentlastung für die Bürgerinnen und Bürger herausgekommen ist. Das kommt bei Ihnen nicht vor.

So ähnlich ist es auch dann, wenn Sie sich auf andere Felder begeben, insbesondere, wenn Sie über Tatbestände der Unternehmensbesteuerung reden, zum Beispiel über die exorbitant hohe Substanzbesteuerung in Deutschland. Wissen Sie eigentlich, dass die Substanzbesteuerung in Deutschland im Vergleich mit anderen OECD- und EU-Staaten eine der niedrigsten ist?

Das wissen Sie nicht, aber Sie stellen sich trotzdem mit Aplomb hier hin und reden in einer Form über die Staatsverschuldung, dass man glauben könnte, wir hätten zurzeit nicht die größte Wirtschaftskrise seit Gründung der Republik. Mein Vorgänger in Sachen "größte Rekordschuldenzahl" hatte wirtschaftlich gute Zeiten. Damals betrug das Wachstum gut eins Prozent. Das ist aber ein Unterschied zu minus fünf oder minus sechs Prozent. Insofern ist der Hinweis auf den Schuldenstand unzweifelhaft richtig. Ich werde darauf zurückkommen, wenn es um Ihre Steuersenkungsarien geht. Wenn Sie Ihre Analyse in die Tatsache eingebettet hätten, dass wir nach einem Wirtschaftswachstum von minus 0,9 Prozent im Jahre 1975 jetzt mit minus fünf bis minus sechs Prozent die schärfste Wirtschaftskrise in der Geschichte der Bundesrepublik haben, die alle Haushaltskennzahlen wegfegt, und zwar bei Kommunen, Ländern und beim Bund, hätten Sie sich wenigstens intellektuell redlich verhalten; von politischer Redlichkeit will ich gar nicht reden.

Ihre Hinweise zur Abwrackprämie hatten Talkshowcharakter. Darüber kann ich lange reden. Im Übrigen gilt: Die Logik der Bundesregierung ist in diesem Zusammenhang völlig richtig gewesen. Eine Leitindustrie in Deutschland, an der nach wie vor ungefähr 700.000 bis 800.000 Arbeitsplätze hängen, vor dem Hintergrund eines der größten Einbrüche, die es je gegeben hat, zu stabilisieren, war völlig richtig. Ich möchte mir gar nicht vorstellen, was passiert wäre, wenn man Ihren Empfehlungen gefolgt wäre und diese Abwrackprämie nicht eingeführt hätte. Der Hinweis, das sei ein reiner Vorzieheffekt, ist richtig. Es ging ja gerade darum, die Automobilindustrie in dem sehr ungünstigen Jahr 2009/ 2010 zu stabilisieren, um den möglichen negativen Effekt in den Jahren 2010, 2011 und folgende in einem hoffentlich besseren konjunkturellen Umfeld zu haben.

Den Einwand der Grünen lasse ich nicht gelten. Es hat keine dezidierte ökologische Lenkungsüberlegung dabei gegeben. Der konjunktur- und arbeitsmarktpolitische Effekt stand im Vordergrund. Abgesehen davon hat die Abwrackprämie natürlich einen ökologischen Lenkungseffekt. Wenn Sie zehn Jahre alte Klitschen durch neue Autos mit einem anderen Emissionswert ersetzen, hat das einen Umwelteffekt.

Ich sprach vorhin davon, dass wir nicht nur über die ökonomischen Folgen dieser Krise zu reden haben. Das, was Sie und ich im Wahlkampf erleben, sind die sozialen Auswirkungen. Etwas komplizierter ausgedrückt, heißt das: Viele Leute zweifeln an der Balance dieser sozialen Marktwirtschaft. Man kann auch sagen: Diese Krise hat die legitimatorischen Grundlagen dieses Ordnungs- und Wirtschaftsmodells auf die Tagesordnung gehoben. Genau darum geht es in diesem Bundestagswahlkampf und bei der Bildung einer neuen Regierung: Es geht um den Spannungsbogen zwischen dem, was Franz Müntefering sittenwidrig niedrige Löhne nennt, und der Frage, wie wir zukünftig mit Mindestlöhnen umgehen - Sie wollen sie wieder abschaffen - auf der einen Seite und den sittenwidrig hohen Abfindungen und Boni und der Frage, wie wir diese eingrenzen können, auf der anderen Seite. Da ist uns vieles gelungen. Wir haben ein Gesetz zur Angemessenheit von Vorstandsvergütungen verabschiedet, das derzeit unter Wert verkauft wird. Wir hätten gerne mehr.

Es wird sehr stark darauf ankommen, auf internationaler Ebene andere Länder zu motivieren, die Boni stärker zu begrenzen, damit dieser Wettlauf von Land zu Land - Ähnliches gibt es bei Bundesligaspielern - aufhört. In London ist etwas Wichtiges beschlossen worden: Zum ersten Mal haben wir eine Limitierung beschlossen, keine Limitierung auf absolute Zahlen - das können Sie nicht machen -, aber eine Limitierung im Verhältnis der fixen Bestandteile zu den variablen Bestandteilen. Es wird sehr stark darauf ankommen, dass wir in Pittsburgh, nachdem das weiter aufgearbeitet worden ist, dazu kommen, dieses Verhältnis zu definieren, zum Beispiel drei zu eins, um ein Beispiel zu nennen. Diese internationale Festlegung müssen wir dann durch die jeweils nationalen Bankenaufsichten durchsetzen.

Wir haben auch eine Mindestanforderung im Bereich des Risikomanagements durchgesetzt. Dadurch wird zum ersten Mal die Bankenaufsicht in die Lage versetzt, Vergütungssysteme dahin gehend zu überprüfen, ob sie an dem nachhaltigen Unternehmenszweck orientiert sind und nicht infolge einer Quartalsbilanzorientierung in Gang gesetzt werden.

Eine drängende Frage, die die Menschen beschäftigt, lautet: Wer zahlt die Zeche? Die zweite große Frage, die sie stellen, lautet: Ziehen wir die richtigen Lehren aus dem, was in diesen Irrsinn geführt hat? Sie repräsentieren die Denke, die in diese Krise geführt hat. Genau die wollen wir nicht mehr.

Ich will zwei, drei Bemerkungen zu den vollmundigen Steuerversprechungen, die vorgetragen werden, machen. Ich werde wahrscheinlich auch in die Beete der Empfindlichkeiten der Union hineintreten. Die Nettokreditaufnahme des Bundes im nächsten Jahr wird wahrscheinlich bei 100 Milliarden Euro liegen statt geplanter sechs Milliarden Euro. In der mittelfristigen Finanzplanung haben wir als Bund bereits jetzt durch Steuerausfälle 150 Milliarden Euro weniger. Die Staatsverschuldung wird von 1,6 Billionen auf wahrscheinlich 1,7 oder 1,8 Billionen Euro steigen. Die damit verbundenen Zinslasten werden steigen. Die Spielräume, über die Sie als Souverän zu entscheiden haben mit Blick auf die wichtigen Zukunftsfelder Bildung, Infrastruktur, Forschung und Entwicklung sowie Mittelstand werden dadurch immer weiter eingeengt. Wie man angesichts dieser Lage trotz Wahlkampfes vollmundig Steuerversprechungen machen kann, die sowohl die Einnahmesituation der Kommunen und damit die Daseinsvorsorge vor Ort als auch die der Länder und des Bundes buchstäblich aushebeln würden, ist mir ein absolutes Rätsel.

Der Hinweis von Herrn Kauder ist nicht tragfähig mit Blick auf die Umsetzung einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes, die sich im Bürgerentlastungsgesetz niederschlägt. Dies bewirkt ab 1. Januar 2010 eine Entlastung in Höhe von neun Milliarden Euro. Aber Sie reden über den Faktor zwei oder drei; von der FDP will ich gar nicht reden. Das Simulationsmodell, das wir im Ministerium allein bezogen auf die Lohn- und Einkommensteuer plus Kinderfreibetrag gemacht haben, hat als Ergebnis 90 Milliarden Euro bei voller Jahreswirksamkeit. Das ist kein Witz. Das ist nicht die Abteilung "Agitation und Propaganda". Insbesondere mit Blick auf die Absenkung des Spitzensteuersatzes in Ihrem Dreistufenmodell aus verteilungspolitischen Gesichts-punkten muss man hervorheben, dass die FDP etwas vorschlägt, das im oberen Bereich achtmal so viel Entlastung wie im unteren Bereich bringt.

Das Bemerkenswerte ist, dass Sie nicht einmal dabei stehen bleiben. Die nächsten Nummern kommen. Sie wollen die Refinanzierungsmöglichkeiten bei der Unternehmensteuer rückgängig machen. Gute Reise, Herr Thiele! Wie machen wir das denn bezogen auf den Haushalt? Sie wollen die Gewerbesteuer abschaffen. Was halten denn CDU- und CSU-Kommunalpolitiker davon? Das, was Sie kompensatorisch einführen wollen, ist ziemlich unsicher und nimmt jedenfalls den Kommunen das Interesse, über eine eigene wirtschaftskraftbezogene Einnahmequelle das zu tun, wofür alle Sonntagsreden halten: Pflege von Handwerk und Gewerbe in dem eigenen Gemeindegebiet, weil man eine Rendite davon hat. Das kommt bei denen nicht mehr vor. Die Erbschaftsteuer - schön und sauber - wird in Zweifel gezogen. Die steuerpolitischen Vorstellungen, die da deutlich werden, würden bei ihrer Umsetzung die Achse dieser Republik definitiv aushebeln. Teile Ihrer Vorstellungen sind leider Gottes nicht weit davon entfernt. Ich mache Ihnen eine Prophezeiung: Egal, wie die nächste Zusammensetzung der Regierung ist, keines dieser Versprechen wird erkennbar in der nächsten Legislaturperiode realisiert werden können, kein einziges.

Das sollten wir aus der letzten Operation Mehrwertsteuer als Lerneffekt mitnehmen; das richtet sich nicht an Sie von der FDP, sondern an uns alle. Abgesehen davon sollte man darauf hinweisen, dass ein Teil der Mehrwertsteuererhöhung an anderer Stelle zu Entlastungen geführt hat, und zwar bei den Arbeitslosenversicherungsbeiträgen. Das wird immer verschwiegen.

Am 27. September dieses Jahres wird, wie ich glaube, über drei wichtige Grundsatzfragen entschieden:

Erstens. Ziehen wir Lehren aus dem Irrsinn, und zwar national und - indem wir uns entsprechend einbringen - auch international?

Zweitens. Sorgen wir für einen handlungsfähigen Staat, der wichtige öffentliche Dienstleistungen bezahlbar hält, auch für diejenigen, die dies privat sonst sehr viel teurer bezahlen müssten? Das gilt insbesondere für Bildung und die Frage der kostenlosen Zugänge zu Bildung.

Drittens. Halten wir diese Gesellschaft weltoffen, tolerant und so zusammen, dass die innere, die soziale Stabilität, die soziale Kohäsion nicht aufgegeben wird im Zuge dieser Wirtschafts- und Finanzkrise?

Herr Kollege Solms, vielleicht konnten Sie nicht hier sein; aber selbstverständlich hat sich Herr Steinmeier zu den Vorschlägen der SPD geäußert. Er hat insbesondere darauf hingewiesen, dass wir den Spitzensteuersatz um zwei Prozent erhöhen wollen, um das damit verbundene Steueraufkommen direkt und unmittelbar Bildungszwecken zukommen zu lassen. Von dieser Maßnahme werden Verheiratete ab einem zu versteuernden Einkommen in Höhe von 250.000 Euro betroffen sein. Fragen Sie doch einmal die Zuschauer auf der Tribüne, wer von ihnen verheiratet ist und 250.000 Euro oder mehr verdient! - Wo ist also das Problem, wenn davon nur sehr wenige Menschen in Deutschland betroffen sind?

Für das, was Sie zu Ihren Einsparvorschlägen gesagt haben, bin ich Ihnen sehr dankbar - denn das war ein Steilpass -: Die Vorschläge, die ich in Ihrem Liberalen Sparbuch lese, würden auf einen absoluten Raubbau an unseren sozialen Sicherungssystemen und in der Arbeitsmarktpolitik hinauslaufen. Diese Maßnahmen würden ausgerechnet jene Bereiche treffen, die aufgrund von Absicherung und Sozialpartnerschaft in der Krise die wichtigste stabilisierende Funktion haben.

Diese Vorschläge werden durch Ihre Relativierung des Kündigungsschutzes ergänzt. Das, was Sie wollen, hätte zur Folge, dass 2,4 Millionen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mehr als bisher keinen Kündigungsschutz mehr hätten. Über die Relativierung der paritätischen Mitbestimmung, die Sie in Ihrem Programm fordern, können wir gern diskutieren.

All die Papiere, die Sie zum Thema Finanzmarktkrise vorgelegt haben, sind Weichmacher. Ich hätte gern einmal gewusst, wo sich die FDP konkret geäußert hat: zu Leerverkäufen, zum Eigenbehalt im Zusammenhang mit Risiken, zu Eigenkapitalkennziffern, zum Thema Liquiditätspuffer und - darüber wird nämlich auf internationaler Ebene diskutiert - zur Überwachung bis ins Management hinein durch Colleges of Supervisors. Auch was die Bekämpfung der Steuerhinterziehung angeht, haben Sie nichts vorgelegt. Da haben Sie sich nur mir gegenüber über Stilfragen ausgelassen und meine Wortwahl kritisiert, aber auf die Substanz meiner Vorschläge sind Sie nie eingegangen. Dabei haben Sie auch einmal regiert und übrigens mit Blick auf die Schuldenentwicklung eine keineswegs geringere Verantwortung zu tragen als wir.

Gehen wir auf das, was in den letzten zehn Jahren stattgefunden hat, noch einmal ein: Es hat eine lange Debatte darüber gegeben - übrigens gar nicht im Widerspruch zu Positionen der FDP -, ob wir den Finanzplatz Frankfurt auf Augenhöhe halten können mit Finanzplätzen wie London und New York. Die Alternative wäre gewesen, dass der Finanzplatz Frankfurt in die Kreisklasse absteigt und damit der Finanzplatz Deutschland nicht auf Augenhöhe bleibt - und das bei einer Realökonomie, die nach wie vor die drittgrößte oder viertgrößte der Welt ist und Finanzmarktprodukte und Finanzmarktdienstleistungen möglichst in Deutschland abrufen sollte und nicht etwa in Mailand, in Den Haag, in London oder New York. Darüber ging die Debatte zu Beginn dieses Jahrzehnts.

Selbstkritisch füge ich hinzu, dass sich wahrscheinlich die gesamte Politik den damit verbundenen Deregulierungsmechanismen zu sehr ergeben hat. Aber die FDP ist die allerletzte Partei, die mir vorhalten kann, sie sei ordnungspolitisch auf der anderen Seite gewesen.


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Quelle:
Bulletin Nr. 93-6 vom 08.09.2009
Rede des Bundesministers der Finanzen, Peer Steinbrück, in der Debatte
zur Situation in Deutschland vor dem Deutschen Bundestag am 8. September 2009 in Berlin
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veröffentlicht im Schattenblick zum 11. September 2009