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REDE/770: Peter Müller - Festakt zum Tag der Deutschen Einheit, 3.10.09 (BPA)


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Tag der Deutschen Einheit
Rede des Präsidenten des Bundesrates und Ministerpräsidenten des Saarlandes, Peter Müller, beim Festakt zum Tag der Deutschen Einheit am 3. Oktober 2009 in Saarbrücken


Sehr geehrter Herr Bundespräsident,
Sehr geehrter Herr Präsident des Bundestages,
Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin,
Sehr geehrter Herr Präsident des Bundesverfassungsgerichtes,
Exzellenzen,
Meine sehr geehrten Damen und Herren!

Ich freue mich sehr, Sie alle hier im Saarland und in der Landeshauptstadt Saarbrücken begrüßen zu können. Es ehrt uns, dass alle obersten Staatsorgane, viele führende Repräsentanten des öffentlichen Lebens in Deutschland und der Großregion Saar-Lor-Lux und Bürgerinnen und Bürger aus allen Bundesländern gekommen sind, um mit uns gemeinsam den diesjährigen Tag der Deutschen Einheit zu feiern.

Einen Mann möchte ich ganz besonders begrüßen: Unter uns ist Dr. Hartmut Ebeling. Er wurde am 14. Juli 1976 vom Bezirksgericht Halle zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten verurteilt. Sein Vergehen bestand darin, von Deutschland nach Deutschland - von der DDR in die Bundesrepublik - übersiedeln zu wollen. Im Urteil wird ihm und seiner Ehefrau insbesondere zur Last gelegt, dass beide - ich zitiere - "für eine Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten sind, die sie in der Einheit als ihr Vaterland betrachten".

Sehr geehrter Herr Dr. Ebeling: Damals wurden Sie wegen Ihres Eintretens für die deutsche Einheit bestraft. Heute sind Sie hier, um mit uns die deutsche Einheit zu feiern. Ihre Teilnahme an diesem Festakt ist für mich eine besondere Freude und - so hoffe ich - für Sie angesichts Ihres Schicksals eine besondere Genugtuung. Schön, dass sie da sind.

Wenn in diesem Jahr der Tag der Deutschen Einheit im Saarland stattfindet, dann findet er in einem neuen Bundesland statt. Denn: Als 1954 in der Bundesrepublik Deutschland erstmals der Tag der Einheit gefeiert wurde - damals in Erinnerung an den Volksaufstand in der DDR noch am 17. Juni - blieb das Saarland unbeflaggt, weil es zum damaligen Zeitpunkt nicht Teil der Bundesrepublik Deutschland war. Als Folge des Zweiten Weltkrieges verfügte das Saarland damals über eine eigene Staatlichkeit; eine eigene Flagge, eine eigene Währung und eine eigene Olympia- und Fußballnationalmannschaft. Erst nachdem die Saarländerinnen und Saarländer in einer Volksabstimmung ihr Selbstbestimmungsrecht ausgeübt und sich klar und eindeutig zur Bundesrepublik Deutschland bekannt hatten, waren die Voraussetzungen für die politische und wirtschaftliche Rückgliederung des Saarlandes nach Deutschland gegeben. Auf dieser Grundlage wurde die "Wiedervereinigung im Kleinen" vollzogen. Das Saarland wurde je nach Betrachtungsweise zehntes beziehungsweise elftes Bundesland der Bundesrepublik Deutschland. Und deshalb kann ich heute sagen: Herzlich Willkommen im ältesten der neuen Bundesländer.

Natürlich ist diese "Wiedervereinigung im Kleinen", auch wenn sie nach einem erbitterten und lange nachwirkenden Abstimmungskampf stattfand, in ihrer Dimension und Dramatik mit den Ereignissen des Jahres 1989 nicht vergleichbar. Der Fall der Berliner Mauer vor 20 Jahren, die Wiedervereinigung auf der Basis einer friedlichen Revolution und die Überwindung des Eisernen Vorhangs - sie stellen eine entscheidende Zäsur nicht nur unserer deutschen, sondern auch der europäischen Geschichte dar.

Mit Deutschland war auch Europa geteilt. Die Überwindung der deutschen Teilung eröffnete daher die Perspektive zur Einigung des gesamten europäischen Kontinents. Deutsche und europäische Geschichte gingen und gehen Hand in Hand - oder, um es mit dem ehemaligen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker zu sagen: "Unsere deutsche Geschichte hat uns Deutschen nie allein gehört". Weil deutsche Einheit und europäische Einigung zwei Seiten der gleichen Medaille sind, begründet die Wiedervereinigung eine Verpflichtung Deutschlands, im Prozess der europäischen Integration eine aktive und offensive Rolle zu übernehmen. Das Ja zur Einheit und das Ja zu Europa gehören untrennbar zusammen.

Viele - ich nehme mich selbst dabei gar nicht aus - hat der Zeitpunkt und die Dynamik des Prozesses der Wiedervereinigung überrascht. Zu festgefügt erschienen die Blöcke. Zu stabil nach Innen und Außen die Systeme. Und trotzdem brach sich der Wunsch nach Freiheit und Demokratie einerseits - zusammengeführt in dem Ruf "Wir sind das Volk" - und der Wunsch nach Einheit ("Wir sind ein Volk") auf den Straßen, Plätzen und in den Kirchen der ehemaligen DDR in beeindruckender und beispielloser Weise Bahn. Dass es gelang, die angestrebten Ziele in einer friedlichen Revolution ohne Blutvergießen zu erreichen, grenzt an ein Wunder. Viele Beispiele friedlicher und erfolgreicher Revolutionen gibt es in der Geschichte wahrlich nicht. Wir durften ein solches Beispiel erleben. Auch deshalb ist die Wiedervereinigung ein besonderer Glücksfall in unserer Geschichte. Fürwahr ein Grund zum Feiern.

Mit der Wiedervereinigung kehrte, wie Joachim Gauck es ausgedrückt hat, "eine ganze Bevölkerung in die Mitte der europäischen Bürgergesinnung" zurück. Die Wiedervereinigung war ein Sieg der Freiheit über die Unfreiheit und ein Sieg des Rechts über das Unrecht. Dies darf nicht vergessen werden. Daran gilt es sich zu erinnern.

Und deshalb sollten wir es nicht hinnehmen, wenn heute die Verhältnisse in der ehemaligen DDR relativiert, verharmlost oder teilweise gar beschönigt werden. Dies hat nichts damit zu tun, die Biographien und Lebensleistungen derjenigen, die unter den Bedingungen des SED-Staates zu leben gezwungen waren, herabzuwürdigen. Ganz im Gegenteil: Hier ist für pauschale Verdächtigungen kein Raum, sondern zunächst einmal Respekt und Anerkennung geboten.

Dies darf aber nicht dazu führen, dass wir beispielsweise bei der in den letzten Wochen und Monaten geführten Debatte, ob und inwieweit die DDR ein Unrechtsstaat war, nicht mehr darüber reden

dass es in der DDR keine unabhängige Justiz gab,

dass über Jahrzehnte keine freien Wahlen stattfanden und die Ergebnisse gefälscht wurden,

dass oppositionelle Schriftsteller verurteilt oder zwangsausgesiedelt wurden,

dass "Republikflucht" ein Straftatbestand und gegen sogenannte "Grenzverletzer" der Schusswaffengebrauch angeordnet war,

dass an der Berliner Mauer mindestens 136 Menschen ihr Leben verloren haben und die Zahl der Opfer an der innerdeutschen Grenze um ein Vielfaches höher ist,

dass die Menschen bespitzelt wurden und

in 40 Jahren DDR 200.000 Menschen politisch verfolgt und zu Haftstrafen verurteilt wurden. Viele von ihnen mussten unmenschliche Haftbedingungen sowie physische und psychische Folter ertragen und Zwangsarbeit leisten.

Deshalb hat Bernhard Vogel Recht, wenn er im März dieses Jahres formuliert: "Niemand kann es bestreiten, niemand kann es in Zweifel ziehen: Die DDR war kein Rechtsstaat, sie war ein Unrechtsstaat, sie war eine Diktatur", dem ist nichts hinzuzufügen.

Daran gilt es zu erinnern. Dies dürfen wir nicht vergessen. Dies gilt es, an künftige Generationen auch in unseren Schulen weiterzuvermitteln. Ich würde mir wünschen, dass in den Curricula unserer Schulen hier ein besonderer Schwerpunkt gesetzt wird.

Mit der Wiedervereinigung wurde diese Diktatur überwunden. Viele haben dazu beigetragen, dies zu ermöglichen. Das gilt für politische Entscheidungsträger wie Michael Gorbatschow oder Helmut Kohl, der als deutscher Bundeskanzler in historischer Stunde mit großer Entschlossenheit das Ziel der Wiedervereinigung verfolgte und zum "Kanzler der Einheit" wurde. Dies gilt vor allem aber für die Tausende von Menschen in der ehemaligen DDR, die aufstanden, um für ihre Freiheit und die Einheit Deutschlands einzutreten. Sie haben viel Mut, Zivilcourage und Bürgersinn bewiesen. Auch dies ist ein Grund, den Tag der Deutschen Einheit zu feiern.

Heute, 20 Jahre nach dem Fall der Mauer, ist der Prozess der Wiedervereinigung nicht abgeschlossen. Nicht alle Aufgaben, die die Deutsche Einheit mit sich gebracht hat, sind abschließend erledigt. Aber: Wir sind auf einem guten Weg. Vieles ist erreicht. Die Angleichung der Lebensverhältnisse kommt voran. Es gibt blühende Landschaften - wenn auch nicht überall. Es gibt die Sorgen und Verwerfungen im Zuge der Wirtschaftskrise. Im Übrigen gilt dies aber nicht nur für den Osten, sondern auch im Westen. Und vor allem: Auch die Mauern in den Köpfen konnten zunehmend eingerissen werden. Es wächst wirklich zusammen, was zusammen gehört.

Natürlich gibt es nach wie vor Unterschiede in der Mentalität, den Anschauungen und Befindlichkeiten zwischen Ost und West. Unterschiede gibt es aber eben auch zwischen Nord und Süd. Ich bin mir ziemlich sicher: Würden wir zwischen Nord- und Süddeutschland die gleichen Erhebungen vornehmen, wie sie zwischen Ost- und Westdeutschland durchgeführt werden, wir würden zu ähnlich signifikanten Unterschieden kommen. Ich bin mir sogar sicher: Nord- und Süddeutsche wären jeweils stolz auf diese Unterschiede. Friesen möchten nicht für Schwaben, Württemberger nicht für Westfalen und Saarländer nicht für Pfälzer gehalten werden. Landsmannschaftliche Verbundenheit schafft Identität und Heimat. Ihre Vielfalt ist Bereicherung für unser Land.

Deshalb dürfen wir deutsche Einheit und deutsche Einheitlichkeit nicht miteinander verwechseln. Föderale Vielfalt steht nicht im Widerspruch, sondern ist konstitutives Element des geeinten Deutschlands.

Es ist doch bemerkenswert, dass bei aller Kritik am Einigungsprozess in den neuen Bundesländern eines nie infrage gestellt wurde, nämlich die Existenz der Bundesländer Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen. Und dies, obwohl diese Bundesländer bereits seit 1952 ihrer Bedeutung enthoben und 1958 schließlich ganz aufgelöst worden waren.

Insofern war es ein besonderes Erlebnis in den Wendejahren 1989/90, dass auf den Marktplätzen neben der bundesdeutschen auch die Flaggen der neu geschaffenen Bundesländer geschwenkt wurden. Gerade diese landsmannschaftlichen Identitäten - davon bin ich zutiefst überzeugt - waren es, die den Menschen im Osten die Identifikation mit dem wiedervereinigten Deutschland um Vieles leichter gemacht haben.

Auch dieses Beispiel zeigt: Der Föderalismus in der Bundesrepublik Deutschland hat sich bewährt. Er ist ein wichtiges, identitätsstiftendes Prinzip, an dem grundsätzlich festzuhalten ist. Der Tag der Einheit - er ist auch und gerade ein Tag der Bundesländer und damit ein Tag der föderalen Vielfalt, die auf der Ländermeile im Rahmen des Bürgerfestes unmittelbar erfahrbar ist. Die föderale Struktur der Bundesrepublik Deutschland sieht sich immer wieder grundsätzlicher Kritik ausgesetzt. Richtig ist, dass es Fehlentwicklungen und Degenerationserscheinungen gab und gibt, die kritisch zu analysieren und zu korrigieren sind. Wir haben im Zuge der Beratungen der beiden Föderalismuskommissionen versucht, dieser Kritik Rechnung zu tragen. Ich schließe aber nicht aus, dass damit das Ende der Föderalismusreformdebatte noch nicht erreicht ist. Dies ändert allerdings nichts an der grundsätzlichen Richtigkeit dieses Staatsorganisationsprinzips. Der Föderalismus hat sich bewährt. Die Bundesländer erfüllen eine wichtige Funktion, wenn es darum geht, den Menschen Identität und Geborgenheit zu vermitteln.

Leider bleibt dieser Gesichtspunkt bei der immer wieder - vergleichbar dem Ungeheuer von Loch Ness - auftauchenden Länderneugliederungsdebatte regelmäßig außer Betracht. Es mag ja sein, dass sich am Reißbrett ein Modell einer Neugliederung der Bundesrepublik Deutschland entwickeln lässt, das deutlich weniger Länder und deutlich veränderte Gebietszuschnitte aufweist. Einmal abgesehen davon, dass es bisher keine belastbare Untersuchung gibt, die bestätigt, dass die hiervon erwarteten Kostenvorteile tatsächlich eintreten, würde eine solche Neugliederung nicht nur historische Gegebenheiten, sondern auch gewachsene regionale Identitäten ignorieren. Dies kann nicht sinnvoll sein. Zu Recht bindet die Verfassung daher Länderneugliederungen an ein Plebiszit der betroffenen Menschen. Dabei soll und muss es bleiben, um zu verhindern, dass derartige Maßnahmen über die Köpfe der Menschen hinweg erfolgen.

In diesem Jahr findet der Tag der Einheit nicht nur in einem neuen Bundesland, sondern auch in einer Grenzregion statt. Die Saarregion wurde in ihrer Geschichte immer wieder zwischen Deutschland und Frankreich hin und her geworfen. Mein Großvater war ein bodenständiger Mann, der sein ganzes Leben in dieser Region zugebracht hat und trotzdem im Laufe seines Lebens Inhaber von fünf verschiedenen Pässen war. Diese Region hat unter ihrer nationalen Randlage im Zuge der deutsch-französischen Auseinandersetzungen stark gelitten.

Gerade deshalb wissen wir: Die deutsche Einheit kann auf Dauer nur gelingen, wenn auch die europäische Einigung voranschreitet. Deutsche Einheit und europäische Einigung bedingen sich gegenseitig. Dabei wird das Europa der Zukunft ein Europa der Regionen sein und diese Regionen dürfen nicht nur national, sondern sie müssen auch grenzüberschreitend gedacht werden. Deshalb haben wir den diesjährigen Tag der Deutschen Einheit bewusst in einen europäischen Kontext gestellt. Deshalb präsentieren sich im Rahmen des Bürgerfestes nicht nur die 16 Bundesländer, sondern auch die europäische Kernregion Saar-Lor-Lux. Deshalb sind viele Freunde aus Belgien, Frankreich und Luxemburg heute bei uns. Dies macht deutlich, dass deutsche Einheit und europäische Einigung unmittelbar miteinander verknüpft sind.

Der Tag der Deutschen Einheit - er ist ein Tag freudiger Erinnerung an das Geschenk der Wiedervereinigung, aber auch ein Tag des klaren Bekenntnisses zur europäischen Idee.

Deutschland ist unser Vaterland und Europa ist unsere Zukunft.

In diesem Sinne wünsche ich viel Glück und Gottes Segen für unser Land.


*


Quelle:
Bulletin Nr. 99-1 vom 03.10.2009
Rede des Präsidenten des Bundesrates und Ministerpräsidenten des Saarlandes,
Peter Müller, beim Festakt zum Tag der Deutschen Einheit am 3. Oktober 2009 in Saarbrücken
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veröffentlicht im Schattenblick zum 8. Oktober 2009