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REDE/823: Merkel - Regierungserklärung zum Europäischen Rat am 25./26. März 2010 (BPA)


Presse- und Informationsamt der Bundesregierung
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Regierungserklärung von Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel zum Europäischen Rat am 25./26. März 2010 in Brüssel vor dem Deutschen Bundestag am 25. März 2010 in Berlin


Herr Präsident!
Meine Damen und Herren!

Die schlimmste Weltwirtschaftskrise seit den 30er-Jahren des letzten Jahrhunderts stellt die Europäische Union und ihre Mitgliedstaaten weiter vor außerordentliche Herausforderungen. Hinzu kommen für uns alle die Aufgaben, die durch die zunehmende Alterung unserer Bevölkerung, den drohenden Klimawandel und einen sich zulasten Europas verschärfenden internationalen Wettbewerb entstehen. Es kann kein Zweifel bestehen: Europa und die 27 Mitgliedstaaten müssen ihre Anstrengungen weiter verstärken, um diese außerordentlich großen Herausforderungen meistern zu können. Es besteht aber auch kein Zweifel: Deutschland ist bereit dazu. Ich bin überzeugt: Deutschland ist in der Lage, seinen Beitrag für ein erfolgreiches Europa zu leisten.

Wir alle wissen: Kein Mitgliedstaat der Europäischen Union kann diese Aufgaben unserer Zeit im Alleingang bewältigen. Wir brauchen einander. Wer das nicht erkennt, der hat die einzigartige Erfolgsgeschichte der europäischen Einigungsidee nicht verstanden. Gemeinsam sind wir stärker.

Deshalb begrüße ich die Bemühungen der Europäischen Präsidentschaft und der Europäischen Kommission für eine neue europäische Wachstumsstrategie, die so genannte Strategie EU 2020. Auf Eckpunkte dieser EU-2020-Strategie wollen wir uns heute und morgen in Brüssel einigen. Eine solche Strategie ist von großer Bedeutung, weil im Binnenmarkt die europäischen Volkswirtschaften in einer unauflöslichen gegenseitigen Abhängigkeitsbeziehung stehen. Wir erleben gerade in diesen Tagen schmerzlich, dass Fehler in der Wirtschaftspolitik einzelner Staaten zu beträchtlichen ökonomischen Verwerfungen insgesamt führen können. Umgekehrt haben wir in der Geschichte der Europäischen Union auch immer wieder erlebt, dass Strukturreformen in einzelnen Mitgliedstaaten sich gegenseitig bereichern können. Damit wirkt die Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten zum Wohle aller in der ganzen Europäischen Union.

Ich kenne die Einwände, die gegen die neue EU-2020-Strategie vorgebracht werden. Ich sage ausdrücklich: Ich nehme diese Einwände ernst, und ich weiß auch um die Defizite, die schon die so genannte Lissabon-Strategie hatte. Vorneweg war eines dieser Defizite die fehlende Prioritätensetzung und damit verbunden eine mangelnde politische Verbindlichkeit. Wir haben in der Lissabon-Strategie zum Schluss sage und schreibe 25 quantitative Ziele gezählt. Hinzu kommt eine noch wesentlich größere Zahl an qualitativen Zielen. Am Ende sieht man den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr. Genau das wollen wir ändern.

Deutschland hat deshalb gefordert, für die neue EU-2020-Strategie den Zielkatalog deutlich zu reduzieren. Ich freue mich, dass Präsident Van Rompuy jetzt ein Konzept zur Reform der Lissabon-Strategie auf den Tisch gelegt hat, das genau diesen Gedanken aufgreift.

Dennoch: Wir dürfen trotz aller Unzulänglichkeiten eines nicht vergessen: Viele der Reformen, die die Mitgliedstaaten in den Jahren vor der weltweiten Finanz- und Wirtschaftskrise zur Stärkung ihrer Wettbewerbsfähigkeit durchgeführt haben, waren auch das Ergebnis eines Voneinander-Lernens, das Ergebnis genau dieser Lissabon-Strategie, die das Benchmarking eingeführt hatte und die uns immer wieder hat schauen lassen: Wie machen es andere?

Mit der neuen EU-2020-Strategie gehen wir zweierlei an:

Einerseits übernehmen wir die Stärken der Lissabon-Strategie, und wir versuchen gleichzeitig, ihre Defizite zu beseitigen.

Erstens. Es werden nur noch einige wenige prioritäre Ziele gesetzt.

Zweitens - das ist vielleicht noch wichtiger -: Diese wenigen EU-Ziele sollen mit der Verbesserung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit Europas und der Förderung eines nachhaltigen Wachstums in direktem Zusammenhang stehen. Die Ziele sind also ausgerichtet auf die Zielstellung der Strategie.

Drittens. Für die Umsetzung dieser Ziele müssen die Staats- und Regierungschefs konkret die Verantwortung übernehmen.

Mit der EU-2020-Strategie wollen und werden wir die Innovationsfähigkeit Europas stärken. Man muss ganz nüchtern sagen: Der Anspruch der Lissabon-Strategie, dass wir der wettbewerbsfähigste und innovativste Kontinent schon bis 2010 sind, hat sich nicht erfüllt. Trotzdem bleibt das Thema Innovationsfähigkeit natürlich auf der Tagesordnung.

Deshalb unterstütze ich ausdrücklich den Vorschlag von Präsident Barroso, drei Prozent des europäischen Bruttoinlandsprodukts für Forschung und Entwicklung auszugeben. In aller Bescheidenheit können wir hinzufügen: Deutschland ist wie schon in anderen Bereichen auch hier einer der Vorreiter in Europa. Wir werden auf der Bundesseite das Drei-Prozent-Ziel sehr schnell erfüllen. Wir werden auch gesamtstaatlich daran arbeiten und haben uns vorgenommen, bis 2015 die Ausgaben für Bildung und Forschung auf zehn Prozent des Bruttoinlandsprodukts zu steigern.

Es reicht nicht aus, wenn sich die Europäische Union das Ziel einer Beschäftigungsquote von 75 Prozent setzt, wie das jetzt geplant ist. Es müssen dazu natürlich auch die richtigen Maßnahmen getroffen werden. Das heißt, das 75 Prozent-Ziel können wir teilen. Aber wir müssen das Erreichte - Deutschland hat dieses Ziel im Wesentlichen erreicht - auch festigen und zukunftsfest machen. Deshalb geht es neben Forschung und Entwicklung auch darum, bestehende Beschäftigungshemmnisse zu beseitigen, indem wir zum Beispiel die Aufnahme einer regulären Arbeit für die Bezieher von Arbeitslosengeld II attraktiver ausgestalten wollen. Wir werden das innenpolitisch anpacken und auch damit einen Beitrag zur Stärkung Europas leisten.

Damit verbunden ist aber natürlich auch, dass diese Zielsetzungen - das zeigt sich an einem weiteren Ziel - auf die innere und spezifische Situation der Mitgliedstaaten ausgerichtet sein müssen. Jeder weiß: Gute Bildung für alle, das ist die Voraussetzung für eine hohe Rate qualifizierter Beschäftigung. Aber die Gegebenheiten in den einzelnen Mitgliedstaaten sind unterschiedlich. Ich kann und werde heute in Brüssel nicht einfach ein pauschales EU-Ziel zur Quote der Hochschulabsolventen unterstützen; denn wir müssen zum Beispiel darauf achten, dass die deutschen Berufsbildungsabschlüsse bestimmten Hochschulabschlüssen in anderen Mitgliedstaaten durchaus ebenbürtig sind. Das müssen wir miteinander vergleichen und dafür auch werben.

Deshalb teile ich an dieser Stelle ausdrücklich die Auffassung der Ministerpräsidenten der Länder: Hier gibt es noch Beratungsbedarf, und die Zeit dafür werden wir uns nehmen.

Dennoch bin ich optimistisch, dass wir uns auf europäischer Ebene auf ein vernünftiges Verfahren für ein Bildungsziel verständigen können, und zwar unter einer Voraussetzung: Es muss die spezifischen Gegebenheiten der einzelnen Mitgliedstaaten berücksichtigen.

Ich habe es schon oft gesagt und wiederhole es heute, weil man es nicht oft genug wiederholen kann: Niemals darf die große Herausforderung der Bewältigung der weltweiten Finanz- und Wirtschaftskrise gleichsam als Ausrede dafür herhalten, andere große Herausforderungen in den Hintergrund treten zu lassen. Das muss auch für den heutigen EU-Rat vermieden werden, weil etwa die Erfüllung der Klima- und Energieziele der Europäischen Union keinen Aufschub duldet.

Der Strukturwandel in Richtung einer kohlenstoffarmen Wirtschaft muss konsequent vorangetrieben werden. Das hat dann natürlich auch einen ökonomischen Mehrwert; denn wenn wir in Europa diesen Strukturwandel frühzeitig einleiten und umsetzen, wird dies zu erheblichen Wettbewerbsvorteilen für unsere Industrie im globalen Wettbewerb führen. Wir müssen also - das muss uns leiten - unsere Chancen erkennen, und darüber hinaus gilt: Wir müssen diese Chancen dann auch konsequent gemeinsam nutzen. Deshalb unterstütze ich ausdrücklich den Vorschlag der EU-Kommission, die Erfüllung der vom Europäischen Rat unter deutscher Präsidentschaft beschlossenen Energie- und Klimaziele auch im Rahmen der EU-2020-Strategie zu verankern und voranzubringen.

Ich füge allerdings hinzu: Da die Wahrheit oft im Kleingedruckten steckt, wird Deutschland ein waches Auge auf die Diskussion haben, die in diesem Zusammenhang in der Europäischen Kommission im Anschluss an den Europäischen Rat zum Thema Energieeffizienz geführt wird. Deutschland nimmt die Verantwortung, die sich durch eine Vorreiterrolle für den Klimaschutz in Europa ergibt, weiterhin konsequent wahr. Einen wichtigen Impuls für Fortschritte in den internationalen Verhandlungen werden wir auch noch einmal mit der Ministerkonferenz des Bundesumweltministers für den Klimaschutz vom 2. bis 4. Mai in Bonn setzen.

Allerdings müssen wir auch darauf achten, dass sich die vereinbarten Maßnahmen in der Europäischen Union nicht gegenseitig widersprechen, sondern dass sie in sich konsistent sind. So kann man nach meiner Auffassung, wenn man sich zum Beispiel für den Zertifikatehandel entscheidet, nicht gleichzeitig Steuern und Ähnliches einführen. Das bringt kein konsistentes Bild in die gesamte Debatte.

Ich will Ihnen nicht verschweigen, dass es bei der Beratung der EU-2020-Strategie heute ein Thema geben wird, zu dem es von mir für ein quantitatives Ziel keine Unterstützung geben wird. Ich meine die Bekämpfung der Armut in Europa. Natürlich: Alle wollen Armut bekämpfen, niemand von uns findet sich mit ihr ab. Wir als Bundesregierung verfolgen das gemeinsam mit den die Regierung tragenden Fraktionen ganz konsequent. Außerdem gilt: Soweit die Armutsbekämpfung über mehr Wachstum erreicht werden kann, gehört sie in die neue europäische Strategie 2020. Aber - darum geht es mir - Armutsbekämpfung ist viel mehr als wirtschaftliches Wachstum. Sie ist eine sozialpolitische Aufgabe. Diese ist - ich erinnere an den Grundsatz der Subsidiarität - mit gutem Grund Angelegenheit der Mitgliedstaaten. Da sollten wir sie auch belassen.

Das ist ein klassisches Beispiel dafür, dass wir nicht mehr alle Ziele aufnehmen können, die man für gut und richtig hält, sondern dass man genau schauen muss: Wo sind die Prioritäten? Wo muss man bestimmte Aufgaben an die Mitgliedstaaten verweisen?

Die Ziele der neuen EU-2020-Strategie werden heute und morgen im Rat beraten. Nach den Vorschriften des Vertrages von Lissabon sind sie für die Mitgliedstaaten zwar rechtlich nicht bindend, dennoch - davon bin ich überzeugt - werden sie eine nicht zu unterschätzende politische Bindungswirkung entfalten. Denn in Zukunft kommt gerade dem Rat bei dem Beschluss solcher Ziele eine ungleich größere Verantwortung als früher zu, weil wir auch für die Einhaltung dieser Ziele geradestehen müssen. Deshalb ist es wichtig, dass wir, wenn die Kommission regelmäßig überprüfen will, ob wir diese Ziele einhalten, auch zu Hause miteinander - das bedeutet die Diskussion im Deutschen Bundestag, das bedeutet auch die Diskussion mit dem Bundesrat - intensiver als früher diskutieren; denn nur wenn ein solches Ziel breit getragen wird von denen, die die parlamentarischen Entscheidungen in Deutschland fällen, kann ich das Ziel für Deutschland umsetzen. Nur dann können wir auch akzeptieren, dass die Kommission auf diese Einhaltung pocht. Das heißt also, wir vereinbaren Ziele nur dann, wenn wir gemeinsam, mehrheitlich in diesem Hause zu der Überzeugung kommen, dass es die richtigen und wichtige Ziele sind.

In der Debatte um die Strategie EU 2020 wurde in den vergangenen Wochen immer wieder die Verknüpfung des Stabilitätspaktes mit der neuen Wachstumsstrategie gefordert. Ich habe mich immer wieder konsequent, wie auch die ganze Bundesregierung dies getan hat, dagegen gewendet. Ich hielte es für falsch, wenn wir Wachstum gegen Stabilität ausspielen würden, wenn wir den Stabilitäts- und Wachstumspakt aufweichen würden. Ich hielte es sogar für verhängnisvoll.

Deshalb bin ich froh, dass das verhindert werden konnte. Wir können uns eine Verwässerung des Stabilitätspaktes nicht leisten. Mit der Bundesregierung - ich glaube, dafür auch die Unterstützung des Parlaments zu haben - wird es sie nicht geben. Zur Rückkehr zu soliden Staatsfinanzen gibt es nämlich keine vernünftige Alternative.

Hier darf nicht getrickst werden. Sie brauchen sich auch gar keine Sorgen machen, dass wir nicht anfangen. Allein das Grundgesetz zwingt uns dazu. Das ist der richtige Ort, an dem die Schuldenbremse verankert ist.

Alle Mitgliedstaaten müssen diesen Weg gehen. Nur mit der Rückführung der Defizite in jedem einzelnen Mitgliedstaat kann Europa das Vertrauen in seine wirtschaftliche Stärke, seine gemeinsame Währung und seine politische Handlungsfähigkeit sichern. Das ist unverzichtbar für die Zukunft Europas.

Aber wir spüren in diesen Wochen durchaus auch die Grenzen des Stabilitätspaktes. Er war und ist nicht darauf ausgerichtet, strukturelle Fehlentwicklungen und den damit verbundenen Aufbau von erheblichen Ungleichgewichten in der EU zu erkennen.

Um es klipp und klar zu sagen: Auf ein bewusstes Unterlaufen seiner Kriterien, wie wir das im Falle Griechenlands erleben mussten, war und ist dieser Pakt nicht eingestellt. Deshalb sage ich: Ein solches Unterlaufen muss für die Zukunft unterbunden werden. Wir dürfen nicht mit Europas Zukunft spielen.

Ich werde das heute und morgen in Brüssel unmissverständlich deutlich machen. Deutschland ist sich hier seiner historischen Verantwortung bewusst. Die Wirtschafts- und Währungsunion wurde seinerzeit maßgeblich von der deutschen Bundesregierung geprägt. Helmut Kohl und Theo Waigel haben für ein Regelwerk gekämpft, das die Stabilität des Euro dauerhaft garantiert. Das hat sich ausgezahlt: Der Euro ist heute stabiler, als die D-Mark es je war. Der Euro hat uns gerade bei der Bewältigung der internationalen Finanzkrise sehr geholfen.

Als man die vertraglichen Grundlagen für die Einführung des Euro geschaffen hat, hat man sich eine außergewöhnliche Situation wie die schwerste Wirtschafts- und Finanzkrise seit den 30er-Jahren des letzten Jahrhunderts allerdings nicht vorgestellt. Ich füge hinzu: vielleicht hat man es sich auch nicht vorstellen können; denn wir alle sind mit Dingen konfrontiert worden, die außerhalb dessen waren, was wir erwartet haben. Deshalb wurden in den europäischen Verträgen keine Vorkehrungen getroffen, um eine solche Situation beherrschen zu können.

Würde ein Mitglied der Währungsunion in der gegenwärtigen Situation zahlungsunfähig, bedeutete dies für uns alle in Europa gravierende Risiken, auch für Deutschland als größte Volkswirtschaft Europas. Wie unkontrollierbare Kettenreaktionen entstehen und die ganze Weltwirtschaft erschüttern können, haben wir im Herbst 2008, nach dem Zusammenbruch von Lehman Brothers, erlebt. Es ist also sowohl im europäischen als auch im wohlverstandenen deutschen Interesse, schwerwiegende Störungen der Finanzstabilität in der Eurozone oder der globalen Finanzmärkte zu vermeiden.

So weit wollen und dürfen wir es nicht kommen lassen. Deshalb haben die Staats- und Regierungschefs beim letzten EU-Gipfel, am 11. Februar, klar vereinbart: Wenn es notwendig sein sollte, sind die Euromitgliedsländer bereit, entschlossen und koordiniert zu handeln, um die Finanzstabilität in der Eurozone insgesamt zu sichern.

Diese Vereinbarung - Sie erinnern sich - wurde ganz wesentlich in einer Kooperation zwischen Deutschland und Frankreich erreicht. Sie hat sich schon jetzt bewährt. Heute, sechs Wochen später, können wir eine erste Zwischenbilanz dieser Entscheidung ziehen. Wir stellen fest: Es ist noch kein Euro und kein Cent für die Unterstützung Griechenlands ausgegeben worden. Bislang ist Griechenland nicht zahlungsunfähig geworden. Auch sind düstere Vorhersagen über die Entwicklung in anderen Mitgliedstaaten nicht Realität geworden. Stattdessen hat Griechenland ein ambitioniertes Sparprogramm beschlossen und erfolgreich eine Anleihe an den Märkten platziert.

Ich glaube, sagen zu können, dass sich Europa am 11. Februar in einer Stunde der größten ökonomischen und politischen Herausforderung als gleichermaßen entschieden, aber auch besonnen gezeigt hat; das hat seine Effekte gezeitigt. Ich wiederhole: Deutschland und Frankreich haben dabei sehr eng zusammengearbeitet.

Wir wissen: Jede weitere Entscheidung über die kurzfristige Stabilisierung eines Mitgliedstaats der Europäischen Union muss im Einklang mit der langfristigen Stabilität der Wirtschafts- und Währungsunion getroffen werden. Ich bin mir als deutsche Bundeskanzlerin der außerordentlich großen Verantwortung in dieser Stunde bewusst. Denn das deutsche Volk hat im Vertrauen auf einen stabilen Euro seinerzeit die D-Mark aufgegeben. Dieses Vertrauen - das eint die ganze Bundesregierung - darf unter keinen Umständen enttäuscht werden.

Deshalb sage ich: Ein guter Europäer ist nicht unbedingt der, der schnell hilft. Ein guter Europäer ist der, der die europäischen Verträge und das jeweilige nationale Recht achtet und so hilft, dass die Stabilität der Eurozone keinen Schaden nimmt.

Das war die Richtschnur des bisherigen Handelns des Bundesfinanzministers, von mir und der gesamten Bundesregierung. Das ist die Richtschnur aller Entscheidungen heute und morgen auf dem Rat und auch in Zukunft.

Heute und morgen geht es darum, die Entscheidungen des Rats vom 11. Februar zu spezifizieren, also darum, fortzuschreiben, wie wir im äußersten Notfall als Ultima Ratio - so haben wir es gesagt - agieren können, wenn die Stabilität gefährdet ist, wenn ein Eurostaat keinen Zugang zu den internationalen Finanzmärkten mehr hat, wenn dieser Zugang also erschöpft ist.

Für einen solchen Notfall haben die Finanzminister Gemeinschaftshilfen ausgeschlossen und sich für bilaterale Hilfen ausgesprochen.

Die Bundesregierung wird sich beim Rat heute und morgen dafür einsetzen, dass im Notfall eine Kombination von Hilfen des IWF und gemeinsamen bilateralen Hilfen in der Eurozone gewährt werden müsste. Aber dies ist - ich sage es noch einmal - die Ultima Ratio. Ich werde entschieden dafür eintreten, dass eine solche Entscheidung - IWF plus bilaterale Hilfen - gelingt. Dabei werden wir wieder sehr eng mit Frankreich zusammenarbeiten. Ich wiederhole: Es geht nicht um konkrete Hilfen, sondern um eine Spezifizierung und Fortschreibung der Entscheidung vom 11. Februar.

Mit all dem dürfen wir unsere Arbeiten keinesfalls beenden; das würde nicht ausreichen. Denn eine Situation, wie wir sie nie vorausgesehen haben, kann nicht einfach übergangen werden, sondern Europa muss daraus die richtigen Lehren für die Zukunft ziehen. Wir müssen Vorkehrungen treffen, damit sich eine solche Situation nicht wiederholen kann. Wir haben gesehen, dass das aktuelle Instrumentarium der Währungsunion unzureichend ist. Wolfgang Schäuble hat darauf hingewiesen und weiterführende Maßnahmen vorgeschlagen, die ich ausdrücklich unterstütze. Wir beraten schon heute eine Verordnung, die Eurostat das Recht gibt, kritische Fragen direkt vor Ort zu prüfen.

Tricksereien muss ein Riegel vorgeschoben werden. Aber mehr Eingriffsbefugnisse für Eurostat allein werden nicht ausreichen. Wir müssen mit Blick auf die Zukunft folgende Fragen beantworten: Was passiert, wenn trotz aller Vorkehrungen ein Eurostaat zahlungsunfähig wird? Welche Möglichkeiten gibt es, dies in ein geordnetes Verfahren zu bringen, ohne dass die Stabilität der Währungsunion erschüttert wird, sondern dass sie geschützt wird?

Deshalb werde ich mich auch für erforderliche Vertragsänderungen einsetzen, damit Fehlentwicklungen durch geeignete Sanktionen früher und effektiver bekämpft werden können. Hier steht insbesondere die Stärkung des Defizitverfahrens auf der Agenda. Das ist eine Aufgabe, die weit über den heute beginnenden EU-Rat hinausreicht. Sie will wohl überlegt sein. Aber auf Dauer werden wir einer solchen Antwort nicht ausweichen können.

Eines möchte ich an dieser Stelle noch erwähnen, wenn auch nur am Rande: Es ist geradezu absurd, Deutschland mit seiner wettbewerbsstarken Wirtschaft gleichsam zum Sündenbock für die Entwicklung zu machen, die wir jetzt zu bewältigen haben.

Unsere Kritiker in Europa verkennen, dass unsere Exportgewinne zum Teil in die Defizitländer zurückfließen und Deutschland auch das größte Importland Europas ist. Deutsche Unternehmen haben 500 Milliarden Euro in der EU investiert und beschäftigen dort mehr als 2,7 Millionen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Damit leisten wir einen wichtigen Beitrag zur Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit Europas, auch auf den Weltmärkten. Darauf können wir zu Recht stolz sein.

Die Staats- und Regierungschefs werden auf ihrem heute beginnenden Gipfel ein neues und anspruchsvolles Kapitel der wirtschaftlichen Zusammenarbeit Europas aufschlagen. Wir werden in Europa noch stärker zusammenrücken. Wir werden damit unsere Interessen in der Welt noch besser vertreten können. Unsere politische Generation wird auch in unserer Zeit der großen Verantwortung gerecht, die uns die Gründer der wunderbaren Idee der Einigung Europas vor über 50 Jahren mit auf den Weg gegeben haben.

Europa ist Friedensgemeinschaft, Europa ist Rechtsgemeinschaft, Europa ist Stabilitäts- und Wachstumsgemeinschaft, Europa ist unsere Zukunft. Diese Idee zu schützen und zu wahren, das war und das ist jede Mühe und Anstrengung wert. Dafür setzt sich die Bundesregierung und dafür setze ich mich in den nächsten beiden Tagen ganz persönlich ein.


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Quelle:
Bulletin Nr. 33-1 vom 25.03.2010
Regierungserklärung von Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel
zum Europäischen Rat am 25./26. März 2010 in Brüssel
vor dem Deutschen Bundestag am 25. März 2010 in Berlin
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veröffentlicht im Schattenblick zum 27. März 2010