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REDE/838: Westerwelle - Regierungserklärung zu Afghanistan und der Konferenz von Kabul, 09.07.10 (BPA)


Presse- und Informationsamt der Bundesregierung
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Regierungserklärung des Bundesministers des Auswärtigen, Dr. Guido Westerwelle, zu Afghanistan und der Konferenz von Kabul vor dem Deutschen Bundestag am 9. Juli 2010 in Berlin:

"Auf dem Weg zur Übergabe in Verantwortung"


Herr Präsident!
Meine sehr geehrten Damen und Herren Kolleginnen und Kollegen!

Am 20. Juli findet die internationale Afghanistan-Konferenz in Kabul statt. Es hätte sicherlich einfachere Orte auf der Welt für diese Konferenz gegeben. Die Tatsache, dass diese Außenministerkonferenz in Kabul stattfindet, ist ein Signal.

Der Ort Kabul ist Ausdruck unseres festen Willens, die vollständige Sicherheitsverantwortung in afghanische Hände zu übergeben. Der Ort Kabul ist ebenso Ausdruck des festen Wunsches der Afghanen, die Geschicke ihres Landes wieder in die eigenen Hände zu nehmen.

Die Kabul-Konferenz ist die erste internationale Afghanistan-Konferenz, die in Afghanistan selbst stattfindet. Das ist mehr als Symbolik; es zeigt, dass wir in dem Prozess der Übergabe von Verantwortung in Verantwortung an die Afghanen eine neue Etappe erreicht haben.

Deutschland engagiert sich gemeinsam mit über 40 anderen Nationen unter dem Mandat der Vereinten Nationen in Afghanistan, damit das Land nicht wieder zum Rückzugsort für den internationalen Terrorismus wird. Der deutsche Afghanistan-Einsatz ist gewiss nicht populär, aber er ist unverändert notwendig und in unserem eigenen Interesse. Unsere Landsleute tun in Afghanistan ihren Dienst, damit wir hier sicher leben können. Dafür wollen wir ihnen auch danken.

Auf der Konferenz in London Anfang des Jahres haben die afghanische Regierung auf der einen und die internationale Staatengemeinschaft auf der anderen Seite eine gegenseitige Verpflichtung geschlossen. Die afghanische Regierung hat sich auf die Ziele bessere Regierungsführung, Rechtsstaatlichkeit, Korruptionsbekämpfung und Reduzierung des Drogenanbaus verpflichtet. Im Gegenzug hat die internationale Gemeinschaft zugesagt, ihre Anstrengungen zu erhöhen, damit die Afghanen diese Ziele erreichen können.

Die internationale Gemeinschaft hat ihre Zusagen erfüllt. Die Bundesregierung hat ihr Afghanistan-Konzept durch eine Regierungserklärung der Bundeskanzlerin vor diesem Hohen Hause im Januar vorgelegt und dessen Umsetzung auf den Weg gebracht. Ich danke dem Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Dirk Niebel, dafür, dass es gelungen ist, Deutschlands zivile Hilfe für die Menschen in Afghanistan beinahe zu verdoppeln.

Ebenso fast verdoppeln konnten wir seit Jahresbeginn die Zahl unserer Polizeiausbilder vor Ort. Deswegen danke ich ausdrücklich dem Bundesinnenminister Thomas de Maizière und den Bundesländern für diesen wichtigen Beitrag.

Dem Bundesverteidigungsminister, Karl-Theodor zu Guttenberg, danke ich für die kollegiale Zusammenarbeit bei der Neufassung des deutschen ISAF-Mandates gemäß unseren internationalen Verabredungen. Gemeinsam haben wir den deutschen Schwerpunkt, nämlich die Ausbildung der afghanischen Sicherheitskräfte, weiter verstärkt.

Neben Umschichtungen im Mandat können wir heute 500 zusätzliche Soldaten nach Afghanistan entsenden, um die Ausbildung der Sicherheitskräfte vor Ort zu verbessern und zu beschleunigen.

Das Kabinett hat in dieser Woche einen ehrgeizigen Sparhaushalt beschlossen. An unserem Engagement in Afghanistan wird aber nicht gespart, weil wir den Erfolg wollen und unsere Verantwortung kennen. Deutschland hält seine Zusagen.

Manches haben wir seit London erreicht. Wir haben neue Trainingszentren für die Polizei gebaut und in diesem Jahr schon fast 2.000 afghanische Polizisten aus- und fortgebildet. Wir haben in Kunduz und Dakar begonnen, die Provinzkrankenhäuser wieder aufzubauen. Wir unterstützen mobile Gesundheitsteams im Norden, die Gesundheitsversorgung zu den Menschen bringen sollen. Etwa 2,6 Millionen Menschen wollen wir so mit Gesundheitsversorgung erreichen. In der Provinz Balkh haben wir Schulplätze für 3.000 Jungen und Mädchen neu geschaffen. In unserem neuen Ausbildungszentrum für Lehrkräfte in Masar-i-Scharif werden im Norden Afghanistans mittlerweile mehr als 6.000 angehende Lehrerinnen und Lehrer ausgebildet.

Das alles wurde im vergangenen halben Jahr erreicht. Ich denke, das ist eine gute, wenn auch noch nicht zureichende Zwischenbilanz.

Zu einer ehrlichen Bestandsaufnahme gehört es nämlich auch, Rückschläge nicht zu übersehen und die Grenzen unserer Möglichkeiten zu erkennen. Wir wissen um den Drogenanbau, der in Afghanistan weiter betrieben wird. Wir wissen um die Korruption im Land und sind beunruhigt über Berichte, nach denen Hilfsgelder außer Landes geschafft werden. Und wir wissen um die angespannte Sicherheitslage.

Es ist nicht alles gut in Afghanistan. Wer glaubt, wir könnten am Hindukusch europäische Verhältnisse schaffen, der irrt aber. Unser Ziel muss ein Zustand in Afghanistan sein, der gut genug ist. Gut genug heißt, dass die Afghanen selbst in der Lage sind, in ihrem Land für hinreichende Stabilität zu sorgen. Gut genug heißt, dass die Fortschritte im Bereich der Menschenrechte, die wir seit dem Fall der Taliban-Herrschaft erreicht haben, gesichert bleiben. Ohne Menschenrechte, ohne das Recht von Frauen und Mädchen auf Bildung, auf Bewegungsfreiheit, auf Teilhabe am Leben kann es eine nachhaltige Stabilisierung des Landes nicht geben.

Es gibt Licht und Schatten in Afghanistan. Viele von Ihnen - aus allen Fraktionen - haben vor Ort Gespräche geführt und sich persönlich ein Bild der Lage gemacht. Sie wissen, wie gefährlich der Einsatz für unsere Soldatinnen und Soldaten in Afghanistan ist. Allein im Juni sind in Afghanistan über 100 ISAF-Soldaten ums Leben gekommen. Wir trauern um sieben deutsche Soldaten, die im vergangenen halben Jahr bei Angriffen der Taliban ihr Leben verloren haben.

Wir denken an diejenigen, die im Einsatz Verletzungen erlitten haben, sichtbare und unsichtbare. Wir sind bei den Familien, die um einen Angehörigen trauern oder die sich um einen geliebten Menschen sorgen, weil sie um die täglichen Gefahren dieses Einsatzes wissen. Allen, die in Afghanistan in Uniform oder Zivil ihren Dienst tun, allen, die in den PRTs, in der Botschaft oder in einem der vielen Entwicklungsprojekte ihre Gesundheit oder sogar ihr Leben riskieren, spreche ich unseren größten Respekt und unseren tiefsten Dank aus. Wir schätzen ihre Arbeit, wir brauchen ihren Einsatz, und wir wollen ihren Erfolg.

Deutschland leistet viel in Afghanistan. In Diskussionen reduzieren manche unser Engagement auf die militärische Komponente, andere auf den zivilen Teil. Wir werden Afghanistan nicht stabilisieren, indem wir allein militärisch vorgehen. Wir werden Afghanistan auch nicht allein dadurch stabilisieren, dass wir Schulen bauen, Straßen teeren und Polizisten ausbilden. Beides ist notwendig und Teil unseres Ansatzes der vernetzten Sicherheit. Beides zusammengenommen reicht aber noch nicht aus. Es muss ein drittes Element dazukommen. Eine dauerhafte, selbsttragende Stabilisierung Afghanistans kann nur durch einen politischen Prozess gelingen, der die Interessen der verschiedenen Ethnien und gesellschaftlichen Gruppen in Afghanistan ausbalanciert.

Auch dazu haben wir mit unseren Verbündeten in London Anfang des Jahres bereits den ersten Schritt getan, indem wir ein Reintegrationsprogramm für ausstiegswillige Mitläufer der Taliban beschlossen haben.

Ein zweiter Schritt war die Friedensjirga, die gerade Anfang Juni in Kabul stattfand. Dort trafen sich 1.600 Delegierte; über 20 Prozent davon waren übrigens Frauen. Es fanden dort sehr offene, teilweise emotional geführte Diskussionen statt. Teilnehmer berichteten von der Zusammenkunft, dass sich konservative Mullahs und Frauenvertreterinnen gegenübergesessen und sich zunächst geweigert hätten, sich gegenseitig ins Gesicht zu schauen. Tadschikische und paschtunische Vertreter hätten einen ganzen Tag lang gestritten, ob man Paschtu oder Dari miteinander sprechen soll. Am dritten Tag aber hat diese Friedensjirga ein Abschlussdokument veröffentlicht - ohne Gegenstimme. Einstimmig haben sich die 1.600 Delegierten für den Einsatz der internationalen Staatengemeinschaft in ihrem Land ausgesprochen. Sie haben ihren Präsidenten aufgefordert, Friedensverhandlungen aufzunehmen. Sie haben außerdem klargestellt, dass Versöhnung nur mit denen möglich ist, die der Gewalt abschwören, die ihre Verbindung zum internationalen Terrorismus kappen und die die afghanische Verfassung und die damit eingegangenen Verpflichtungen zur Einhaltung internationaler Menschenrechtsstandards respektieren. Das alles zeigt, dass Afghanistan eine afghanische Lösung braucht. Das sage ich auch mit Blick auf die Parlamentswahlen am 18. September. Der politische Prozess muss ein afghanisch geführter Prozess sein, damit er erfolgreich sein kann. Nur die afghanische Regierung selbst kann Frieden mit denen schließen, die sie bekämpfen.

Unsere Aufgabe ist es, zum einen diesen Prozess zu unterstützen, zum anderen ist es Aufgabe der internationalen Staatengemeinschaft, die Nachbarländer Afghanistans in diesen Prozess einzubinden. Ziel ist es, die Nachbarländer Afghanistans dazu zu bringen, den innerafghanischen Friedensprozess zu unterstützen. Die regionale Einbettung innerafghanischer Ergebnisse wird helfen, Erreichtes auch zu sichern. Auch dazu wird die Kabul-Konferenz einen Beitrag leisten.

Diese Kabul-Konferenz wird keine weitere Geberkonferenz, auf der die internationale Staatengemeinschaft neue Zusagen macht. In Kabul wird die afghanische Regierung ihrerseits Rechenschaft darüber ablegen, wie es um die Erfüllung ihrer Verpflichtungen steht und welche konkreten Schritte sie in den nächsten Wochen und Monaten plant. Das ist zuallererst im Sinne der Afghanen selbst, die von sich aus dieser Konferenz das Leitmotiv der Wiederherstellung der vollen Souveränität ihres Landes gegeben haben.

Ein zentrales Thema werden Reintegration und Versöhnung sein. Im Grundsatz haben wir in London ein Programm beschlossen, mit dem Taliban-Kämpfer in die Gesellschaft zurückgeholt werden sollen. Dieses Programm werden wir jetzt in Kabul genau beraten, und dann werden wir eine Entscheidung über die Freigabe der Mittel treffen, die Deutschland dafür in Aussicht gestellt hat.

Wir erwarten aber noch weitere Antworten der Afghanen auf der Konferenz. Die afghanische Regierung wird konkrete Pläne vorstellen, wie ihre Regierungsfähigkeit verbessert und die Korruption eingedämmt werden sollen. Besonderes Augenmerk werden wir dabei auf die Regierungsführung in den Provinzen, Distrikten und Dörfern legen. Hier trifft der afghanische Staatsbürger auf seinen Staat. Hier bildet er sich eine Meinung über seine Regierung und auch deren Legitimität. Derzeit sind hier die Defizite aber noch größer als in der Hauptstadt Kabul. Da muss mehr geschehen. Das ist die Bedingung dafür, dass mehr Verantwortung auf afghanische Institutionen übergehen kann.

Wir werden in Kabul gemeinsam mit der NATO und der afghanischen Regierung einen Plan verabschieden, in dem wir konkrete Bedingungen dafür festlegen, in welchen Provinzen im nächsten Jahr die Sicherheitsverantwortung an die afghanischen Sicherheitskräfte übergeben werden kann. Wir wollen im Jahre 2011, also im nächsten Jahr, drei, vielleicht sogar vier Provinzen die Sicherheitsverantwortung übergeben. Es soll mindestens eine dabei sein, die in unserem Verantwortungsbereich im Norden liegt. Schon im November soll dazu auf dem NATO-Gipfel in Lissabon eine Grundsatzentscheidung getroffen werden.

Das heißt nicht, dass mit sofortiger Wirkung die Bundeswehrpräsenz dort ihre Bedeutung verliert und wir dort keine Soldatinnen und Soldaten mehr bräuchten. Auch unsere zivile Wiederaufbauhilfe ist langfristig angelegt. Das ist ein entscheidender Schritt in Richtung Wiederherstellung afghanischer Souveränität, und es ist natürlich eine zentrale Bedingung für den Beginn eines Truppenabzuges. Wir wollen noch in dieser Legislaturperiode die Voraussetzung dafür schaffen, dass mit der schrittweisen Rückführung unserer militärischen Präsenz in Afghanistan begonnen werden kann.

Dieses Ziel verfolgen wir entschlossen und beharrlich und in enger Abstimmung mit unseren Verbündeten. Gemeinsam mit seinen Verbündeten hat Deutschland in Afghanistan Verantwortung übernommen. Deutschland wird sich dieser Verantwortung einseitig eben nicht entziehen. Die Entscheidungen über das deutsche Engagement in Afghanistan gehören - Sie wissen das alle, liebe Kolleginnen und Kollegen - zu den schwierigsten Entscheidungen, die dieses Parlament zu treffen hat.

Die Bundesregierung wird daher dafür sorgen, dass Sie über alle Fraktionsgrenzen hinweg nicht nur über unser Engagement in Afghanistan kontinuierlich und transparent unterrichtet, sondern auch an dessen Gestaltung beteiligt werden. So war es deshalb für mich eine parlamentarische Selbstverständlichkeit und auch ein persönliches Anliegen, Sie über die internationale Afghanistan-Konferenz am 20. Juli in Kabul vorab zu informieren. Ich glaube, dass wir dort eine entscheidende Wegmarke setzen können, weil diese Afghanistan-Konferenz zum ersten Mal in Afghanistan stattfindet. Wir wollen gemeinsam für den Erfolg unserer Mission arbeiten.


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Quelle:
Bulletin Nr. 77-1 vom 09.07.2010
Regierungserklärung des Bundesministers des Auswärtigen,
Dr. Guido Westerwelle, zu Afghanistan und der Konferenz von Kabul
vor dem Deutschen Bundestag am 9. Juli 2010 in Berlin
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veröffentlicht im Schattenblick zum 13. Juli 2010