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REDE/875: Merkel - Regierungserklärung zur aktuellen Lage in Japan, 17.03.11 (BPA)


Presse- und Informationsamt der Bundesregierung
"REGIERUNGonline" - Wissen aus erster Hand

Regierungserklärung von Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel zur aktuellen Lage in Japan vor dem Deutschen Bundestag am 17. März 2011 in Berlin:


Herr Präsident!
Meine Damen und Herren!

Am Freitag der letzten Woche, 14.45 Uhr Ortszeit, bebte in Japan die Erde. Seismologen maßen eine Stärke von 8,9, später korrigiert auf 9,0. Es war das schwerste Erdbeben in der Geschichte Japans. Sein Epizentrum lag circa 130 Kilometer östlich der Stadt Sendai und circa 400 Kilometer nordöstlich der japanischen Hauptstadt Tokio. Um 16 Uhr Ortszeit desselben Tages traf eine bis zu 10 Meter hohe Flutwelle auf die Ostküste der japanischen Hauptinsel Honshu. Sie richtete schwerste Verwüstungen an. Noch am Abend dieses Tages gab es Meldungen, wonach in einem Reaktor des Kernkraftwerks Fukushima I die Kühlung ausgefallen und im Atomkraftwerk Onagawa ein Feuer ausgebrochen war. Die japanische Regierung rief den atomaren Notstand aus.

In den folgenden Tagen und Nächten erschütterten zahlreiche, zum Teil schwere Nachbeben das Land - und das bis heute. Erdbeben und Tsunami haben weite Landstriche von Japans Nordosten verwüstet. Ganze Ortschaften wurden ausgelöscht. Die Zahl der Opfer schnellt seit Tagen in die Höhe. Wie viele es tatsächlich sind - wir wissen es nicht. Zu viele Menschen werden vermisst. Unzählige Häuser und Straßen sind zerstört. Unendlich viele Menschen haben ihr Obdach verloren. Strom wird rationiert oder ist ganz weg. Treibstoff, Trinkwasser, Nahrungsmittel sind knapp.

Rund um das Kernkraftwerk Fukushima wurde die Evakuierungszone seit Freitag immer wieder erweitert. Arbeiter dort führen einen ebenso - man kann es nicht anders sagen - heldenhaften wie verzweifelten Kampf gegen den atomaren Super-GAU. Sie setzen dabei nicht nur ihre Gesundheit aufs Spiel, sondern auch ihr Leben ein. Immer dramatischer entwickeln sich die Ereignisse dort: ausgefallene Kühlanlagen, Berichte über freiliegende Brennstäbe, die sich immer stärker erhitzen, Explosionen in verschiedenen Reaktoren, in einem Fall wohl auch mit der Folge der Beschädigung eines Sicherheitsbehälters, Radioaktivität tritt aus. Es ist davon auszugehen, dass es in drei der Anlagen zu schweren Schäden an den Reaktorkernen gekommen ist.

Was uns angesichts all dieser Berichte und Bilder, die wir seit letztem Freitag sehen und zu verstehen versuchen, erfüllt, das sind Entsetzen, Fassungslosigkeit, Mitgefühl und Trauer. Die Katastrophe in Japan hat ein geradezu apokalyptisches Ausmaß, und es fehlen die Worte. Unsere tiefste Anteilnahme, unsere Gedanken und unsere Gebete sind bei den Menschen in Japan.

In dieser Stunde schwerster Prüfung steht Deutschland an der Seite Japans. Was immer wir tun können, um den Menschen in Japan bei der Bewältigung dieser schier unfassbaren Katastrophe zu helfen, das werden wir weiter tun. Das habe ich Premierminister Kan übermittelt, und das hat auch der Bundesaußenminister seinem japanischen Kollegen gesagt.

Experten des Technischen Hilfswerks haben in den vergangenen Tagen vor Ort bei der Suche nach Überlebenden geholfen. Ich danke ihnen, und ich danke den Helfern anderer Organisationen für ihren Einsatz für die Menschen in Japan.

Ich danke allen Helfern des Krisenstabes im Auswärtigen Amt und der Botschaft vor Ort. Sie koordinieren unsere Hilfe. Sie unterstützen auch alle deutschen Staatsangehörigen im Krisengebiet bei einer Ausreise, wenn sie das wünschen.

Auch die Vereinten Nationen haben ein Team nach Japan entsandt. Es soll die japanische Regierung dabei unterstützen, die Aufbaumaßnahmen zu koordinieren. Ebenfalls ihre Hilfe angeboten hat die Europäische Union.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Folgen dieser Katastrophe sind überhaupt noch nicht absehbar. Die Betroffenen vor Ort hatten noch fast gar keine Chance, festzustellen, in welchen Bereichen sie tatsächlich weitere Hilfe genau benötigen. Denn der Albtraum immer neuer Beben und nuklearer Horrorszenarien hat noch kein Ende gefunden.

In dieser Lage ist es unverzichtbar, dass wir den Menschen in Japan zeigen: Sie sind nicht allein. Dabei zählt die Geste jedes Einzelnen. Namhafte deutsche Hilfsorganisationen haben Spendenkonten eingerichtet. Der Bundespräsident hat am Montag dazu aufgerufen, mithilfe von Spenden über diese Organisationen Soforthilfe für Japan zu leisten. Ich möchte diesen Aufruf ausdrücklich unterstützen.

Die Spendenaktionen sollen vor allem den Menschen in Japan zugutekommen, die durch Beben, Flutwelle und die nuklearen Folgen ihr Zuhause verloren haben. Wir sollten ihnen mit unserer unmittelbaren Unterstützung ein Zeichen der Solidarität senden. Das ist Hilfe unter Freunden. Japan war und ist ein enger Freund Deutschlands, und das sage ich gerade im 150. Jahr des Bestehens unserer diplomatischen Beziehungen.

In dieser Stunde geht es für Unzählige nur um das nackte Überleben. Beinahe verbietet es sich angesichts ihrer Tragödie, bereits jetzt an die wirtschaftlichen Auswirkungen dieser Katastrophe zu denken. Ich will es deshalb hier auch nur kurz tun, obwohl es für die Zukunft Japans von größter Bedeutung ist, wenn die sich überschlagenden Schreckensmeldungen hoffentlich bald ein Ende gefunden haben werden.

Die wirtschaftlichen Auswirkungen der dreifachen Katastrophe sind - kurz gesagt - noch nicht abschätzbar. Nach vergangenen Naturkatastrophen kam Japans Volkswirtschaft durch staatliche Wiederaufbauprogramme schnell wieder auf die Beine. Selbst nach dem schweren Erdbeben um die Stadt Kobe 1995 konnte eine Rezession verhindert werden. Dennoch - so denke ich - muss die Welt dieses Mal darauf vorbereitet sein, dass die Katastrophe die japanische Wirtschaft vor noch größere Herausforderungen stellt, als dies frühere Katastrophen getan haben. Japan - auch das dürfen wir nicht vergessen - ist die drittgrößte Volkswirtschaft der Welt. Ich befürchte derzeit nicht, dass die Weltwirtschaft signifikant beeinträchtigt wird. Trotzdem - das ergänze ich ausdrücklich - werden wir zusammen mit unseren internationalen Partnern daran arbeiten, wie mögliche Folgen der Katastrophe für die globale Konjunktur bestmöglich minimiert werden können.

Die Ereignisse in Japan bedeuten nicht allein für Japan eine unfassbare Katastrophe. Sie sind ein Einschnitt für die ganze Welt, für Europa, auch für Deutschland. Ich habe es in den vergangenen fünf Tagen wieder und wieder gesagt, und ich wiederhole es heute: Wir können und wir dürfen nicht einfach zur Tagesordnung übergehen. Wir gehen auch nicht zur Tagesordnung über, weder die Menschen in Deutschland - das zeigt das außergewöhnlich große Interesse an allen Sondersendungen im Fernsehen - noch die Politik. Auch die Bundesregierung kann das nicht, und sie ist nicht zur Tagesordnung übergegangen.

Ja, es bleibt wahr: Derart gewaltige Erdbeben und Flutwellen, wie sie Japan getroffen haben, treffen uns nach allen Erfahrungen und wissenschaftlichen Erwartungen nicht. Auch mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen durch die nukleare Katastrophe in Japan ist für uns in Deutschland nach menschlichem Ermessen nicht zu rechnen. Wir sind zu weit von dem Ort der Katastrophe entfernt.

Ja, es bleibt wahr: Wir wissen, wie sicher unsere Kernkraftwerke sind. Sie gehören zu den weltweit sichersten, und ich lehne es auch weiterhin ab, zwar die Kernkraftwerke in Deutschland abzuschalten, aber dann Strom aus Kernkraftwerken anderer Länder zu beziehen. Das ist mit mir nicht zu machen.

Ja, es bleibt wahr: Ein Industrieland wie Deutschland, die größte Wirtschaftsnation Europas, kann nicht von jetzt auf gleich vollständig auf Kernenergie als Brückentechnologie verzichten, wenn wir unseren Energieverbrauch weiter eigenständig zuverlässig decken wollen.

Ich möchte an dieser Stelle, weil es heute ja sicherlich auch noch eine Reihe von Auseinandersetzungen geben wird, noch einmal eines festhalten: In Deutschland gibt es einen Konsens aller Parteien, dass wir keine neuen Kernkraftwerke bauen und dass die Kernkraft eine Brückentechnologie ist, dass die Kernkraft ausläuft. Was wir brauchen, ist ein Ausstieg mit Augenmaß.

Ein Land wie Deutschland hat im Übrigen auch den Verpflichtungen zum Schutz unseres Klimas weiter gerecht zu werden; denn der Klimawandel ist und bleibt eine der großen Herausforderungen der Menschheit.

Es geht nicht an, dass wir an einem Tag den Klimawandel als eines der größten Probleme der Menschheit klassifizieren und an einem anderen Tag so tun, als ob das alles nicht gilt. Wir müssen schon mit einer Zunge sprechen.

Ja, es bleibt auch wahr: Energie in Deutschland muss für die Menschen bezahlbar sein, und wir haben kein Problem gelöst, wenn Arbeitsplätze in andere Länder abwandern, wo die Sicherheit der Kernkraftwerke nicht besser, vielleicht sogar noch geringer ist.

Und dennoch: Die Bundesregierung konnte und kann trotz all dieser unbestrittenen Fakten nicht einfach zur Tagesordnung übergehen, und zwar aus einem alles überragenden Grund: Die unfassbaren Ereignisse in Japan lehren uns, dass etwas, was nach allen wissenschaftlichen Maßstäben für unmöglich gehalten wurde, doch möglich werden konnte.

Sie lehren uns, dass Risiken, die für absolut unwahrscheinlich gehalten wurden, doch nicht vollends unwahrscheinlich waren, sondern Realität wurden. Wenn das so ist, wenn also in einem so hoch entwickelten Land wie Japan das scheinbar Unmögliche möglich, das absolut Unwahrscheinliche Realität wurde, dann verändert das die Lage.

Dann haben wir eine neue Lage, dann muss gehandelt werden. Und wir haben gehandelt. Denn die Menschen in Deutschland können sich darauf verlassen: Ihre Sicherheit und ihr Schutz waren und sind für die Bundesregierung oberstes Gebot. Es gilt der Grundsatz: Im Zweifel für die Sicherheit.

Deshalb haben wir im Lichte der Ereignisse in Japan veranlasst, dass alle deutschen Kernkraftwerke noch einmal einer umfassenden Sicherheitsprüfung unterzogen werden - im Lichte der neuen Lage! Dazu setzen wir die Verlängerung der Laufzeiten der deutschen Kernkraftwerke aus, indem wir für den Zeitraum eines dreimonatigen Moratoriums alle Kernkraftwerke, die 1980 und früher in Betrieb gegangen sind, vom Netz nehmen. Besser gesagt: Wir tun mehr, als ein Moratorium bedeuten würde; denn ein Moratorium der Verlängerung der Laufzeiten führte uns zurück auf die Rechtsgrundlage der rot-grünen Regierung. Die wiederum würde jetzt nur zur Folge haben, dass Neckarwestheim 1 abgeschaltet werden müsste. Alle anderen Kernkraftwerke würden heute, zum jetzigen Zeitpunkt, weiterlaufen.

Was tun wir? Bund und Länder sind sich einig, dass diese Abschaltung durch rechtliche Verfügung der Aufsichtsbehörden der Länder angeordnet wird. Das Gesetz über die friedliche Verwendung der Kernenergie und den Schutz gegen ihre Gefahren, kurz "Atomgesetz" genannt, sieht genau das vor, also eine Anlage vorübergehend stillzulegen, bis sich die Behörden Klarheit über eine neue Lage verschafft haben.

Ich danke an dieser Stelle dem Kollegen Oppermann ausdrücklich für das Angebot seiner Fraktion an die Koalition, in der nächsten Woche ein gemeinsames, wie Sie es formulieren, Abschaltgesetz zu verabschieden. Wir sind dennoch der Auffassung, dass wir dieses Angebot nicht anzunehmen brauchen, weil wir im beschriebenen Sinne handeln können - und das umgehend.

Ich will es noch einmal präzisieren, weil das wirklich wichtig ist: Die bisher unbestrittene Sicherheit der deutschen Kernkraftwerke beruht auf der Einhaltung des Atomgesetzes, der auf dem Atomgesetz beruhenden Rechtsverordnungen und der erteilten Genehmigungen. Die Vorkommnisse in Japan haben jedoch gezeigt, dass Ereignisse auch jenseits der bisher berücksichtigten Szenarien eintreten können.

Hieraus resultiert die Notwendigkeit, die Lage unter Berücksichtigung der aktuellen Ereignisse vorbehaltlos zu analysieren und hieraus die entsprechenden Schlüsse zu ziehen. Für die dreimonatige Betriebseinstellung der sieben ältesten Anlagen als vorläufige aufsichtliche Maßnahmen sieht das Atomgesetz in 19 Abs. 3 Satz 2 Nr. 3 eine einschlägige Rechtsgrundlage vor. Auf dieser Rechtsgrundlage kann bei Vorliegen eines Gefahrenverdachts die einstweilige Betriebseinstellung angeordnet werden.

Jetzt hören Sie wieder gut zu: Ein derartiger Verdacht ist nach dem Atomrecht - das ist so genau - dann gegeben, wenn sich wegen begründeter Unsicherheiten im Rahmen der Risikovorsorge Schadensmöglichkeiten nicht völlig ausschließen lassen.

Es ist eine neue Lage. Da sich gerade bei älteren Anlagen die Frage nach den in der Auslegung berücksichtigten Szenarien in besonderer Weise stellen kann, haben sich die Bundesregierung und die Ministerpräsidenten der Bundesländer mit Kernkraftwerken dazu entschlossen, diese Anlagen für den Zeitraum der Überprüfung vom Netz zu nehmen. Dies ist Ausdruck äußerster Vorsorge, der sich die Bundesregierung und die Ministerpräsidenten zum Schutz der Bevölkerung verpflichtet sehen.

Ich möchte an dieser Stelle festhalten: Dies ist eine aufsichtsrechtliche Maßnahme. Dies ist kein Deal, dies ist keine Absprache, dies ist gar nichts von dem, sondern dies ist die Anwendung des Atomgesetzes in einer neuen Lage, nicht mehr und nicht weniger. Das ist Verantwortung. Ich bin mir dazu sowohl in der Sache als auch im Verfahren mit den Ministerpräsidenten der Standortländer vollkommen einig. Bund und Länder sind hier gemeinsam in der Verantwortung.

Deshalb sage ich auch, dass ich nicht verhehle, dass ich die Debatte des gestrigen Tages über die rechtlichen Grundlagen des Handelns von Bund und Ländern - die wird sicherlich gleich fortgesetzt - nur schwer nachvollziehen kann.

Wir müssen sicher in unserem politischem Handeln alle juristischen Anforderungen stets ernst nehmen. Darüber kann und darf es nicht den geringsten Zweifel geben. Das sage ich, damit da überhaupt kein Missverständnis entsteht. Aber wir sollten uns in einer Situation äußerster Gefahrenvorsorge - um diese geht es Bund und Ländern im Licht der Ereignisse von Japan - nicht juristische Tricks unterstellen, wo keine juristischen Tricks unterstellt werden können.

Dazu gehört im Übrigen auch, dass während des Moratoriums meine Gespräche natürlich nicht, wie das zunächst mit Blick auf die Anwendung des Atomgesetzes sinnvoll ist, auf den Kreis der Ministerpräsidenten beschränkt bleiben, die vorgestern mit mir beraten haben. Das gilt für alle Gespräche, die die Bundesregierung in nächster Zeit führen wird.

Wenn es um die Akzeptanz und Fortentwicklung der Energiepolitik insgesamt geht, werden natürlich auch gesellschaftliche Gruppen einbezogen: Wirtschaft, Gewerkschaften, Umweltverbände, Kirchen. Natürlich werden alle Ministerpräsidenten aller Bundesländer einbezogen, zum Beispiel wenn es um neue Leitungen und Trassen gehen wird. Das wird sehr zeitnah geschehen, noch vor Ostern. Auch hier sollten wir uns nicht immer als Erstes verdächtigen.

Sicherheit der Kernenergie hat nicht nur eine nationale, sondern mindestens ebenso eine internationale Dimension. Wir werden daher in Europa, international und auch im Rahmen der G 20 dafür eintreten, dass die notwendigen Schlussfolgerungen aus den Ereignissen in Japan gezogen werden.

Ich habe das Thema "Nukleare Sicherheit" für den nächsten Europäischen Rat der Staats- und Regierungschefs in der nächsten Woche am 24. und 25. März angemeldet. Der Ratspräsident hat der Aufsetzung dieses Tagesordnungspunkts bereits zugestimmt.

Auf EU-Ebene hat Energiekommissar Oettinger schnell gehandelt. Ich begrüße, dass er schon begonnen hat, Gespräche mit den wichtigsten Akteuren zu führen, und ich unterstütze die Initiative für einen EU-weiten Stresstest für alle Kernkraftwerke. Wir brauchen in der gesamten Europäischen Union hohe Sicherheitsstandards, denn bei Sicherheitsrisiken ist nicht nur der Staat, in dem das Kernkraftwerk steht, betroffen.

Ich habe mit Nicolas Sarkozy verabredet, dass Frankreich gemeinsam mit Deutschland eine Initiative der G 20 zur weltweiten Sicherheit von Kernkraftwerken einbringt. Der G-20-Präsident, der französische Präsident, hat bereits die Energieminister der G-20-Länder nach Paris zu einem Sondertreffen eingeladen.

Nach dem dreimonatigen Moratorium werden wir über die endgültigen Konsequenzen für den Betrieb der Kernkraftwerke entscheiden.

Dabei wiederhole ich auch an diesem Ort das, was ich seit Montag sage: Die Lage nach dem Moratorium wird eine andere sein als die Lage vor dem Moratorium, denn alles kommt auf den Prüfstand. Sie wird darüber hinaus - das sage ich, damit auch da kein Missverständnis entsteht - auch eine andere Lage sein als die Lage zur Zeit des rot-grünen Gesetzes.

Weder konnten wir nach den Ereignissen in Japan einfach so zur Tagesordnung übergehen, noch ist das rot-grüne Konzept tragfähig für ein Land wie Deutschland, für die größte Wirtschaftsnation Europas mit dem Anspruch höchster Sicherheitsstandards im Lichte aller Erkenntnisse.

Wir werden deshalb die bewusst ehrgeizig kurz bemessene Zeit des Moratoriums nutzen, um die Energiewende voranzutreiben und, wo immer möglich, zu beschleunigen. Denn wir wollen so schnell wie möglich das Zeitalter der erneuerbaren Energien erreichen - das ist unser Ziel -, und das mit einem Ausstieg mit Augenmaß. Klar ist dabei: Wenn jetzt die Sicherheit der Kernenergie neu bewertet wird und möglicherweise - ich kann den Ergebnissen des Moratoriums nicht vorgreifen - Anlagen schneller vom Netz zu nehmen sind, dann müssen wir - das ist die Schlussfolgerung - auch schneller zu einem System der Energieversorgung auf der Grundlage erneuerbarer Energien kommen.

Das heißt: Wir werden die sehr ambitionierten Maßnahmen des Energiekonzepts nicht nur konsequent umsetzen, sondern sie, wo es geht, auch beschleunigen.

Wir wollen den Ausbau der erneuerbaren Energien und der notwendigen Netzinfrastruktur noch schneller voranbringen. Wir werden für die Umsetzung eine klare Zeitplanung vorlegen; denn eines ist klar: Wir brauchen eine Brückentechnologie wie die Kernenergie so lange, bis wir einen Anschluss gefunden haben. Alles andere hieße, die Probleme unter den Tisch zu kehren. Das tun wir nicht. Das widerspräche dem Anspruch der christlich-liberalen Koalition.

Ich erinnere noch einmal: Unser Energiekonzept sieht für das Jahr 2050 einen Anteil der erneuerbaren Energien von 80 Prozent vor. Das ist extrem anspruchsvoll. Wenn wir das diskutieren, müssen wir ehrlich über die Voraussetzungen sprechen; dann müssen wir allerdings auch ganz konkret werden. Das betrifft etwa den Ausbau der Windenergie an Land und auf See. Wir werden zeigen, wie konkret neue Windparks errichtet werden können und die Windenergie langfristig zu einer tragenden Säule unserer Stromversorgung ausgebaut werden kann. Schon bald wird ein großes KfW-Programm starten, mit dem wir den Startschuss für neue Investitionen in Offshorewindparks geben.

Eine wichtige - ich sage: eine unabdingbare - Voraussetzung ist auch der Ausbau der Stromnetze. Wer erneuerbare Energien will, darf sich dem Bau der dafür erforderlichen großen Stromtrassen, die neu errichtet werden müssen, nicht verweigern.

Wir müssen in der Perspektive auch über ein System debattieren, das Strom aus erneuerbaren Energien flexibel zum Verbraucher bringt, ihn bedarfsgerecht speichert und jederzeit verfügbar verteilt.

Nicht zuletzt ist die Steigerung der Energieeffizienz unverzichtbar, und zwar durch moderne Technologien in allen Bereichen, vom Verbraucher bis zur Industrie. Zu diesem zentralen Handlungsfeld hat der EU-Energiekommissar Oettinger gerade einen neuen Aktionsplan für Energieeffizienz vorgelegt.

Für all das brauchen wir - das ist mir besonders wichtig - breite Unterstützung und Akzeptanz in der Gesellschaft. Wir wollen kein Dagegen, sondern ein Dafür. Die erneuerbaren Energien können wir nur ausbauen, wenn die notwendigen Stromnetze errichtet werden. Hierfür müssen alle, die den Ausbau der erneuerbaren Energien wollen, um mehr Akzeptanz bei den Bürgerinnen und Bürgern vor Ort werben. Das ist schlicht und ergreifend heute nicht der Fall.

Die einen werben, die anderen sind dagegen, wo immer das geht, oder spielen auf Zeit und sagen, man müsse lange darüber diskutieren. Sie wollten doch keinen Wahlkampf machen! - Schauen Sie sich einmal Ihre Parteitagsbeschlüsse zum Ausbau der Stromtrassen an.

Stromeinsparung können wir nur dann erreichen, wenn die Verbraucher aktiv mitmachen. Neue Anlagen, seien es Windkraftwerke, Pumpspeicherwerke - auch da bitte ich, zu schauen, wer wo protestiert - oder hocheffiziente konventionelle Kraftwerke - schauen Sie sich an, wer alles gegen Kohlekraftwerke ist -, können wir nur errichten, wenn alle hier in diesem Hause dafür eintreten, dass sie gebaut werden.

Schließlich müssen wir auch bei einem weiteren Streitthema endlich vorankommen: bei der Entsorgung von radioaktiven Abfällen. Es kann nicht sein, dass wir diese Aufgabe weiter in die Zukunft und damit auf zukünftige Generationen schieben. Wir packen daher auch dieses Thema, das Rot-Grün in unverantwortlicher Weise hat liegen lassen, entschlossen an.

Sie haben damals bei dem vermeintlich tragfähigen Ausstieg in zwei Bereichen nicht die Zukunft im Blick gehabt und den Kopf in den Sand gesteckt: bei der Entsorgung - da haben Sie ein Moratorium für Gorleben vereinbart - und, das kann ich Ihnen nicht ersparen, bei der Sicherheit. Herr Trittin, Sie wissen genau: Damals, im so genannten Atomkonsens aus dem Jahre 2000, unterzeichnet 2001, ist vereinbart worden:

"Während der Restlaufzeiten" - ich sage noch einmal, heute wäre nur Neckarwestheim 1 abgeschaltet; alle anderen wären am Netz - "wird der von Recht und Gesetz geforderte hohe Sicherheitsstandard weiter gewährleistet; die Bundesregierung wird keine Initiative ergreifen, um diesen Sicherheitsstandard und die diesem zugrundeliegende Sicherheitsphilosophie zu ändern. ... die Bundesregierung wird keine Initiative ergreifen ..." - so war das.

Bei Einhaltung der atomrechtlichen Anforderungen gewährleistet die Bundesregierung den ungestörten Betrieb der Anlagen. Aber: keine neuen Sicherheitsstandards.

Heute wird von Ihnen ein Antrag zur sofortigen Inkraftsetzung des kerntechnischen Regelwerks zur Abstimmung gestellt. Lassen Sie mich dazu ein Wort sagen. Unter Rot-Grün wurde erst einmal gar nichts unternommen, außer dass man etwas ausgearbeitet hat; aber angewandt hat man es nicht.

Dann ging es in der Großen Koalition um die Frage, "Was machen wir damit?", weil sich Herr Gabriel der Frage "Stillstand in der Sicherheit" dankenswerterweise nicht mehr ganz so verpflichtet gefühlt hat.

Dann hat Herr Gabriel dieses kerntechnische Regelwerk zur Erprobung parallel zu den gängigen und geltenden Sicherheitsvorschriften laufen lassen. Herr Gabriel ist dafür kritisiert worden, pikanterweise vom ehemaligen Staatssekretär Herrn Baake von den Grünen. Herr Gabriel hat im Juni 2009 diese Vorwürfe - ich sage: gerechterweise - ausführlich zurückgewiesen; ich empfehle, die Pressemitteilung des BMU vom 16. Juni 2009 zu lesen, in der steht, dass diese Vorwürfe "haltlos" sind.

Er hat im Juni 2009 ebenso gesagt, dass dieses Verfahren 15 Monate lang erprobt wird, also nach meinen Berechnungen bis zum September 2010. Dann haben wir, die neue Regierung, über die Verlängerung der Laufzeiten debattiert und in diesem Zusammenhang das Atomgesetz bezüglich der Sicherheitsanforderungen verändert und dafür gesorgt, dass in 7 d des Atomgesetzes eine neue Verpflichtung eingeführt wird.

Wir haben mit der Einführung des neuen 7 d des Atomgesetzes neu die Verpflichtung der Betreiber der Kernkraftwerke zur weiteren Risikovorsorge eingeführt, sich immer wieder am neuesten Stand von Forschung und Technik zu orientieren - diese Kategorie hat es in diesem Maß noch nicht gegeben - und immer wieder dynamisch auf neue Anforderungen zu reagieren. Das ist die Realität, und das äußert sich in der Spezifizierung der Sicherheitsanforderungen für jede einzelne Anlage.

Wer hier behauptet, wir hätten die Sicherheit nicht im Blick gehabt, der sagt schlicht und ergreifend die Unwahrheit. Die höchsten Sicherheitsanforderungen gab es unter der christlich-liberalen Koalition. Das ist die Wahrheit, und die müssen auch Sie zur Kenntnis nehmen.

Es ist gut und nötig und auch sinnvoll, dass wir uns in energiepolitischen Fragen um die besten Antworten bemühen. Es ist auch gut und richtig, dass wir darüber immer wieder streiten. Das macht Opposition und Regierung aus, und das macht unsere Demokratie lebendig. Auch ich war einmal Vorsitzende einer Oppositionsfraktion und weiß, wie das ist. Aber eines muss beachtet werden: Sie werfen der Regierung und auch mir persönlich vor, jetzt oder vor sechs Monaten oder bei der Verabschiedung der Laufzeitenverlängerung oder wahrscheinlich durchgehend die Unwahrheit zu sagen. Sie werfen uns Täuschung, Trickserei, mehr oder weniger Rechtsbruch und natürlich Wahlkampftaktik und Ähnliches vor. Schauen Sie sich das genau an. - Ich halte das hinsichtlich der Aufgabe für absolut nicht angemessen. Es geht hier um ein wesentliches Thema. Es geht hier um eine Situation, in der wir über Fragen debattieren, die die Welt vor eine neue Lage gestellt haben.

Meine Damen und Herren von der Opposition, ich finde, dass Ihre Art und Weise der Argumentation absolut respektlos ist. Ihr Verhalten, das ich in den letzten Tagen gesehen habe, ist an Niveaulosigkeit nicht zu überbieten. Ich rate Ihnen nur Eines: Schließen Sie bei dem, was Sie sagen, nicht dauernd von sich auf andere.

Höchste Sicherheit für die noch laufenden Kernkraftwerke, höchstes Engagement für erneuerbare Energien und eine sichere und wettbewerbsfähige Energieversorgung - dies ist meine, dies ist die Formel der christlich-liberalen Koalition für einen neuen energiepolitischen Konsens.

Gestatten Sie mir zum Schluss noch ein persönliches Wort. So wichtig und unverzichtbar alle Bewertungen, Lehren und Maßnahmen hier in Deutschland sind, so wichtig und unerlässlich ist es, dass wir in dieser Stunde zugleich nie den Blick für die Leidenden in Japan verlieren, die so schwer geprüft werden. Ihnen gilt unser Mitgefühl. Sie können heute und in der Zukunft auf die Unterstützung Deutschlands zählen.


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Quelle:
Bulletin Nr. 27-1 vom 17.03.2011
Regierungserklärung von Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel
zur aktuellen Lage in Japan vor dem Deutschen Bundestag
am 17. März 2011 in Berlin
Presse- und Informationsamt der Bundesregierung
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veröffentlicht im Schattenblick zum 19. März 2011