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REDE/980: Dr. Norbert Lammert - Abschiedsrede vor dem Deutschen Bundestag, 05.09.2017 (BPA)


Presse- und Informationsamt der Bundesregierung

Rede des Präsidenten des Deutschen Bundestages, Dr. Norbert Lammert, zur letzten Plenarsitzung des Deutschen Bundestages der 18. Wahlperiode vor dem Deutschen Bundestag am 5. September 2017 in Berlin:


Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Verehrte Gäste!

Ich begrüße Sie alle herzlich zur letzten Plenarsitzung des Deutschen Bundestages in der 18. Wahlperiode. Für viele Kolleginnen und Kollegen - auch für mich - ist dies zugleich die letzte Sitzung als gewählte Abgeordnete hier im Hohen Haus. Nicht wenige von uns haben in der Zeit ihrer Zugehörigkeit zum Deutschen Bundestag mit der Überwindung der Teilung unseres Landes die größte, spektakulärste und zugleich friedliche Veränderung in der jüngeren Geschichte unseres Landes nicht nur miterlebt, sondern auch aktiv mitgestaltet.

Um zu würdigen, was wir heute längst für selbstverständlich halten, muss man gelegentlich daran erinnern, wie es vorher war. Als ich 1980 zum ersten Mal in den Deutschen Bundestag gewählt wurde, war Deutschland geteilt und Europa auch, in zwei rivalisierenden Militärbündnissen organisiert, die sich bis an die Zähne bewaffnet an einer durch Mauer und Stacheldrahtzäune befestigten deutsch-deutschen Grenze gegenüberstanden. Damals, Anfang der 1980er Jahre - Bundeskanzler war Helmut Schmidt -, wurde innerhalb und außerhalb des Parlamentes leidenschaftlich über den sogenannten Nato-Doppelbeschluss gestritten, den die einen für den Anfang vom Ende der westlichen Zivilisation hielten und bekämpften und die anderen für die Voraussetzung der territorialen Integrität der westlichen Staatengemeinschaft.

Unter den Bedingungen des Kalten Krieges und - wie fast alle glaubten - den damit verbundenen unverrückbaren Verhältnissen im eigenen Land wie in Europa haben wir in den 1980er Jahren im Deutschen Bundestag vorsichtig damit begonnen, dem zunächst in einer ehemaligen Pädagogischen Akademie provisorisch untergebrachten Deutschen Bundestag angemessene Arbeitsbedingungen zu verschaffen, und haben schließlich den Bau eines neuen Plenarsaales beschlossen, der, als er fertig war, nicht mehr gebraucht wurde. Denn inzwischen war die Mauer in Berlin gefallen und mit der Mauer zugleich die Verhältnisse, die scheinbar ein für alle Mal in Beton gegossen waren. Wenn wir in diesem Jahr, wie in jedem Jahr, am 9. November an den Fall der Mauer 1989 erinnern, dann ist seitdem so viel Zeit vergangen, wie die Mauer überhaupt gestanden hat: 28 Jahre.

Der Bau wie der Fall der Mauer waren das Symbol der politischen Kräfteverhältnisse in Europa und ihrer Veränderungen. Auch der Deutsche Bundestag hat sich in dieser Zeit, vor und nach der Wiederherstellung der deutschen Einheit und nach dem Umzug von Parlament und Regierung von Bonn nach Berlin, natürlich immer wieder verändert, sich immer wieder neu zusammengesetzt; aber im Wesentlichen arbeitet er in Berlin ganz genau so, wie es in Bonn eingeübt worden war. Vieles hat sich verändert, vieles hat sich bewährt und ist geblieben.

Der Deutsche Bundestag ist im Vergleich zu anderen Parlamenten innerhalb und außerhalb der Europäischen Union in seinen verfassungsmäßigen Aufgaben, in seiner Zusammensetzung und in seiner Ausstattung stärker und einflussreicher als die meisten Parlamente auf diesem Globus. Für Minderwertigkeitskomplexe besteht kein Anlass. Aber der Deutsche Bundestag ist nicht immer so gut, wie er sein könnte und vielleicht auch sein sollte. Dass Parlamente Regierungen nicht nur bestellen, sondern auch kontrollieren, ist im Allgemeinen unbestritten; im konkreten parlamentarischen Alltag ist der Eifer bei der zweiten Aufgabe nicht immer so ausgeprägt wie bei der ersten.

"Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages [...] sind Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen."

So steht es im Grundgesetz. Und ganz genau so ist es auch gemeint. Dass die Regierungsbefragung in jeder Sitzungswoche des Deutschen Bundestages noch immer zu den Themen stattfindet, die die Regierung vorgibt und nicht das Parlament, ist unter den Mindestansprüchen, die ein selbstbewusstes Parlament für sich gelten lassen muss. Das wird auch dadurch nicht völlig ausgeglichen, dass es inzwischen immerhin gelungen ist, sicherzustellen, dass leibhaftige Mitglieder der Bundesregierung an der Regierungsbefragung teilnehmen.

Wir haben in diesem Haus zweifellos immer wieder herausragende Debatten erlebt; aber bei selbstkritischer Betrachtung sollten wir einräumen, dass in der Regel hier im Hause immer noch zu häufig geredet und zu wenig debattiert wird.

Wir beraten in jeder Legislaturperiode einige Hundert Gesetzentwürfe; ich glaube, eher zu viele als zu wenige. Dass wir gelegentlich offensichtlich Dringliches vertagen und dafür weniger Wichtiges für dringlich erklären, dazu fällt mir mindestens ein prominentes Beispiel ein, das ich jetzt nicht mehr ausdrücklich vortrage.

Wir haben uns von der Asylgesetzgebung in den 1990er Jahren über die Föderalismusreformen bis hin zum kürzlich verabschiedeten neuen Länderfinanzausgleich einen allzu großzügigen Umgang mit unserer Verfassung angewöhnt und sie häufiger und immer umfangreicher, regelmäßig auch komplizierter verändert, als es ihrem überragenden Rang und dem Respekt entspricht, den wir dem Gestaltungsanspruch künftiger Parlamente und ihrer Mehrheiten schulden.

Hier im Deutschen Bundestag schlägt das Herz der Demokratie, und hier im Bundestag heißt auch hier im Bundestag, nicht in der Geheimschutzstelle des Deutschen Bundestages. Verlässlich kann und muss es in dem gemeinsamen, aber nicht immer präsenten Bewusstsein schlagen, dass eine vitale Demokratie nicht daran zu erkennen ist, dass am Ende Mehrheiten entscheiden, sondern daran, dass auf dem Weg bis zur Entscheidung Minderheiten ihre Rechte wahrnehmen können. Dafür zu sorgen, ist die nicht immer einfache, aber nach meinem Verständnis vornehmste Aufgabe des Parlamentspräsidenten.

Umso dankbarer bin ich Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen dieser wie der beiden vorhergehenden Legislaturperioden, dass Sie mich gleich dreimal, für insgesamt zwölf Jahre, in dieses Amt gewählt haben. Ich habe es gerne, nach besten Kräften und gelegentlich auch mit einem gewissen Vergnügen ausgeübt, und ich empfinde es als Privileg meiner Biografie - neben dem Glück, in einem freien Lande zu leben -, meinem Land an dieser prominenten Stelle dienen zu können. Eine schönere, anspruchsvollere Aufgabe hätte es für mich nicht geben können. Deswegen möchte ich mich bei allen bedanken, die mich dabei in diesen Jahren begleitet und unterstützt haben: bei Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen, bei den Fraktionen, bei den Parteien, bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Bundestagsverwaltung, den vielen Unsichtbaren, ohne die dieses Parlament nicht so leistungsfähig sein könnte, wie es glücklicherweise ist, bei den Medien für mal diese und mal andere Berichterstattungen und insbesondere bei den Wählerinnen und Wählern.

Vieles aus diesen Jahren wird mir und vermutlich all denen, die dabei gewesen sind, ganz gewiss in Erinnerung bleiben: die erste Rede eines deutschen Papstes vor einem gewählten deutschen Parlament, die denkwürdige gemeinsame Sitzung des Deutschen Bundestages mit der französischen Nationalversammlung hier im Reichstagsgebäude aus Anlass des 50. Jahrestages des Élysée-Vertrages - damals konnte man gewissermaßen besichtigen, wie nahe wir uns inzwischen sind und wie gründlich sich dieses Europa verändert hat -, die großen Ansprachen zum Beispiel des israelischen Staatspräsidenten Schimon Peres oder des damaligen polnischen Staatspräsidenten Bronislaw Komorowski zur Erinnerung an traumatische Ereignisse unserer gemeinsamen Geschichte, aber auch die Auftritte von Navid Kermani und Wolf Biermann zum Geburtstag des Grundgesetzes und zum Jahrestag des Mauerfalls, die sich jeweils auf ihre Weise von dem bei solchen Gelegenheiten im Hohen Haus Erwarteten und Üblichen deutlich unterschieden. Und dass mal den einen dies und mal den anderen jenes nicht nur gefallen hat, das war zugegebenermaßen eingepreist.

Ich weiß nicht, ob es kühn ist, nach dem Dank zum Schluss noch eine Bitte vorzutragen - oder am liebsten gleich zwei. Zunächst an die Mitglieder des nächsten und künftiger Bundestage: Bewahren Sie sich bitte, wenn eben möglich, die nach den Abstürzen unserer Geschichte mühsam errungene Fähigkeit und Bereitschaft, über den Wettbewerb der Parteien und Gruppen hinweg den Konsens der Demokraten gegen Fanatiker und Fundamentalisten für noch wichtiger zu halten.

Ich habe in den vergangenen Jahren viele, viele Parlamente kennengelernt und erlebt, und wenn ich auf irgendetwas tatsächlich stolz bin, dann darauf, dass dieses Parlament, mehr als irgendein anderes, das ich je erlebt habe, bereit und in der Lage ist, wenn es wirklich wichtig ist, das gemeinsame Suchen und Vertreten gemeinsamer Lösungen für noch wichtiger zu halten als den üblichen Konkurrenzreflex. Es muss auch in Zukunft möglich sein, bei den ganz großen Problemen und Streitfragen, die polarisieren und das Land zu spalten drohen, Mehrheiten in diesem Parlament zu suchen und zu finden, die größer oder anders sind als die Mehrheiten, über die eine jeweilige Koalition ohnehin verfügt.

Dann habe ich eine Bitte an die Wählerinnen und Wähler: Nehmen Sie bitte das Königsrecht aller Demokraten, in regelmäßigen Abständen selbst darüber befinden zu können, von wem sie regiert werden wollen, so ernst, wie es ist. Das ist für uns heute scheinbar eine Selbstverständlichkeit; aber dieser Zustand ist, wie wir alle wissen, weder der Normalzustand der deutschen Geschichte, noch ist es die Regel für die ganz große Mehrheit der heute auf diesem Globus lebenden Menschen. Viele Millionen Menschen in aller Welt beneiden uns um die Einflussmöglichkeiten, die wir haben und die ihnen vorenthalten sind.

Autoritäre Regime brauchen kein bürgerschaftliches Engagement. Sie mögen es nicht, sie behindern es, und wenn es nicht anders geht, verbieten sie es. Die Demokratie braucht es. Und wir wissen aus noch nicht ganz so lange zurückliegenden Phasen der deutschen Geschichte, dass auch Demokratien ausbluten können, dass sie ihre innere Kraft verlieren, wenn sie die Unterstützung der Menschen verlieren, für die es sie gibt. Die Demokratie steht und fällt mit dem Engagement ihrer Bürgerinnen und Bürger. Das ist die wichtigste Lektion, die ich in meinem politischen Leben gelernt habe, und dieser Einsicht und dieser Verantwortung werde ich verpflichtet bleiben. In diesem Sinne bleiben wir ganz sicher miteinander verbunden. Herzlichen Dank.

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Quelle:
Bulletin 90-1 - 05. September 2017
Rede des Präsidenten des Deutschen Bundestages, Dr. Norbert Lammert,
zur letzten Plenarsitzung des Deutschen Bundestages der 18. Wahlperiode
vor dem Deutschen Bundestag am 5. September 2017 in Berlin
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veröffentlicht im Schattenblick zum 11. September 2017

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