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SICHERHEIT/140: Friedensforscher - Das Friedensprojekt Europa ist nicht zu Ende, es ist zu stärken (idw)


Bonn International Center for Conversion (BICC) - 03.06.2014

Friedensforscher fordern: Das Friedensprojekt Europa ist nicht zu Ende - es ist zu stärken



Berlin. Im "Friedensgutachten 2014", das am 3. Juni in Berlin vorgestellt wird, fordern die fünf führenden deutschen Friedens- und Konfliktforschungsinstitute angesichts der Ukraine-Krise eine Neuausrichtung der Europäischen Nachbarschaftspolitik. Das "Friedensprojekt Europäische Union" brauche eine gesamteuropäische Sicherheitsarchitektur. Kritisch setzen sich die Friedensforscher auch mit der europäischen Rüstungsexportkontrolle und Migrationspolitik auseinander. Angesichts der humanitären Katastrophe in Syrien appellieren sie an die Bundesregierung mindestens 200.000 Flüchtlinge von dort in Deutschland aufzunehmen.

Der völkerrechtswidrige Anschluss der Krim an Russland und die anhaltende Destabilisierung der Ostukraine stellen die Europäische Union vor eine ihrer größten Herausforderungen. Die Politik der Europäischen Union, mit dem Assoziierungsabkommen die Ukraine faktisch vor ein Entweder-Oder zu stellen, war ein folgenreicher Fehler. Weder berücksichtigte sie die fragile Situation dieses regional und kulturell gespaltenen Landes noch bewies sie besondere Sensibilität gegenüber Russland. "Wir fordern eine Neuausrichtung der Europäischen Nachbarschaftspolitik. Die EU muss alles tun, um eine Vertiefung der Grenzen in Europa bis hin zu einer neuen Blockbildung zu verhindern", mahnt das "Friedensgutachten 2014" an. Der Bundesregierung empfehlen die Herausgeber sich über Genf II hinaus für eine Kontaktgruppe aus den fünf Ständigen Mitgliedern des UN-Sicherheitsrates plus Ukraine, Polen und Deutschland einzusetzen. Aber auch die zivilgesellschaftlichen Kräfte einschließlich der Kirchen und die Konferenz der Europäischen Kirchen in Brüssel seien aufgerufen, ihren Einfluss für einen Gewaltverzicht und Verhandlungslösungen geltend zu machen.

Für eine gesamteuropäische Sicherheitsarchitektur

Dass die NATO 2008 Georgien und der Ukraine einen Beitritt in Aussicht stellte, hat das Verhältnis zwischen Russland und dem Westen beschädigt. Auch den Dialog mit Russland über die Raketenabwehr auszusetzen, setzte ein falsches Signal. Doch ist die Rückkehr zu traditioneller Großmachtpolitik, die sich mit dem Recht des Stärkeren über multilaterale Vereinbarungen und das Völkerrecht hinwegsetzt, nicht zu akzeptieren. "Wie der Verzicht auf Konfrontation, die Durchsetzung des Rechts und das Festhalten am Dialog zusammengehen, kennzeichnet den Kern einer neuen Russlandpolitik, für die es noch keinen Kompass gibt", erklären die Friedensforscher. Sie halten es für erforderlich, die OSZE künftig wieder stärker als integrativen Akteur "ins Feld zu führen" - insbesondere dann, wenn es um Konfliktverhütung und Krisenbewältigung geht, wozu sie eine Reihe von Instrumenten entwickelt hat. "In der gegenwärtigen Situation verbleibt vor allem, auf Dialog, Vertrauensbildung, Rüstungskontrolle und bilaterale Bemühungen um eine Stabilisierung der Ukraine zu setzen", betont das Friedensgutachten.

Für eine europäische Kontrolle von Rüstungsexporten

Für die steigenden Rüstungsexporte Deutschlands und anderer EU-Staaten gibt es keine friedenspolitische Rechtfertigung. Rüstungsexporte in Spannungsgebiete und Lieferungen von Waffen und Überwachungstechnologien an autokratisch regierte Staaten sind ein Skandal. Das Friedensgutachten, das in den vergangenen Jahren wiederholt eine Umkehr dieses Trends angemahnt hatte, verweist auf die Tatsache, dass z. B. Russland zwischen 2008 und 2012 Militärgüter im Wert von 925 Millionen Euro aus der EU, vornehmlich aus Frankreich, Deutschland und Italien, bezog. Die Herausgeber fordern "die Einstellung der aktuellen Großgeschäfte und ein umfassendes Waffenembargo der EU gegen Russland."

Statt Flüchtlingsabwehr aktive Migrationspolitik

Aufgerüstet wird auch an den EU-Außengrenzen. Das kostete in den letzten 20 Jahren mindestens 17.000 Menschen das Leben. Das "Friedensgutachten 2014" fordert, die in der Dublin-III-Verordnung verankerte Regelung abzuschaffen, wonach das EU-Land, das der Flüchtling als erstes betreten hat, für das Asylverfahren zuständig ist. Diese Verordnung überlastet die Staaten an der EU-Peripherie und ist durch solidarische Regelungen zu ersetzen. Mit der "Ertüchtigung" von Grenzschutzkräften in Nachbarstaaten wie Libyen und Ägypten stiehlt sich die EU aus ihrer Verantwortung, denn Staaten, die selbst unter Gewaltkonflikten leiden, bieten Flüchtlingen keinen umfassenden Schutz. "Eine Friedensmacht braucht keine Flüchtlingsabwehr, sondern eine aktive und humane Migrationspolitik", kritisiert das "Friedensgutachten".

Antiterrorpolitik auf den Prüfstand

Nach dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs zur Rechtswidrigkeit der EU-Richtlinie über die Vorratsdatenspeicherung muss die EU den Schutz der Grundrechte ihrer Bürgerinnen und Bürger auch auf europäischer Ebene fest verankern und garantieren. Die Friedensforscher unterstützen die Forderungen des Europäischen Parlaments, die Geheimdienste besser zu kontrollieren, Datenschutzabkommen zügig voranzubringen und die Safe-Harbour- und Swift-Abkommen mit den USA auszusetzen. Sie plädieren dafür, das geplante transatlantische Freihandelsabkommen an die Bedingung zu knüpfen, dass sich die USA bei der Aufklärung des NSA-Skandals kooperativ zeigen. "Für Edward Snowden, der sich große Verdienste bei der Verteidigung der Bürgerrechte erworben hat, fordern wir Asyl in Deutschland", so das "Friedensgutachten 2014".

Aktuelle Brennpunkte: Afghanistan und Syrien

Im Herbst dieses Jahres entscheidet sich, wie lange und wie viele westliche Truppen in Afghanistan verbleiben werden - Zeit für eine kritische Bilanzierung dieses für die Bundeswehr größten internationalen Militäreinsatzes, unterstreichen die Herausgeber. Allein ein auf Generationen angelegtes, ziviles Engagement kann Afghanistan vor einem Kollaps bewahren. Die Bundesregierung sollte in der EU dafür werben, dass auch andere ihr ziviles Engagement fortsetzen. Eine Chance bietet der Istanbul-Prozess, eine Dauerkonferenz regionaler Staaten zur Förderung von Kooperation und vertrauensbildenden Maßnahmen. Das "Friedensgutachten 2014" fordert "die Bundesregierung und die EU auf, diese Initiative mit Mediatoren und Finanzmitteln zu unterstützen."

Der Krieg gegen die syrische Bevölkerung geht mit unverminderter Brutalität weiter. Die Friedensforscher appellieren an die Bundesregierung und die EU, mehr humanitäre Hilfe zu leisten, und halten eine Luftbrücke, wie sie Rupert Neudeck vorgeschlagen hat, für eine der dramatischen Lage angemessene Maßnahme, um die humanitäre Katastrophe in unzugänglichen Gebieten und in Flüchtlingslagern zu mildern. Zudem appellieren sie "an die Bundesregierung, angesichts der humanitären Katastrophe mindestens 200.000 syrische Flüchtlinge in Deutschland aufzunehmen."


Weitere Informationen unter:
www.friedensgutachten.de/index.php/id-2014.html

Kontaktdaten zum Absender der Pressemitteilung unter:
http://idw-online.de/de/institution445

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Quelle:
Informationsdienst Wissenschaft e. V. - idw - Pressemitteilung
Bonn International Center for Conversion (BICC), Susanne Heinke, 03.06.2014
WWW: http://idw-online.de
E-Mail: service@idw-online.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 5. Juni 2014