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INTERNATIONAL/009: Mikrokredite in Indien (frauensolidarität)


frauensolidarität - Nr. 115, 1/11

Mikrokredite in Indien
Von einer anderen Finanzkrise, Penetration und verschwundenen Frauen

Von Christa Wichterich


Eine Säule der internationalen Entwicklungsarchitektur ist ins Wanken geraten: Mikrokredite für arme Frauen. Seit mehr als zwei Jahrzehnten gelten sie als Patentrezept zur Armutsreduktion, zum Frauen-Empowerment und zu Entwicklung schlechthin. Während im Vordergrund die soziokulturelle und wirtschaftliche Machtbildung von Frauen aus feministischer Perspektive stand, entwickelte sich hinterrücks eine Kommerzialisierung der Kreditvergabe, die die Frauen in den Dörfern der Renditelogik der globalen Finanzmärkte unterwarf.


Die Krise der Mikrofinanzindustrie, die vor allem im südindischen Bundesstaat Andhra Pradesh entstand, hat in der indischen wie in einer breiten entwicklungspolitischen Öffentlichkeit einen kompletten Diskurswechsel erzeugt. Standen vor kurzem noch lachende Frauengruppen und glückliche Kleinstunternehmerinnen mit Hühnerzucht, Handyverleih oder Verkaufsbude im Zentrum der Erfolgsberichte, so sind Frauen als Akteurinnen nun schlichtweg aus der Debatte verschwunden. Jetzt stehen Zahlen im Vordergrund, Zinsen und Gebühren bis über 40% und plötzlich eingebrochene Rückzahlungsquoten, die Umsätze der Mikrofinanzinstitutionen und das Kapital, das sie beim Börsengang einfahren konnten, und die "Penetrationsquote", wie viele ländliche Haushalte ohne Bankenzugang durch Kredite in den Finanzmarkt einbezogen werden. Der Crash in Andhra Pradesh, dem Weltmeister der Penetrationsquote, kehrt das Innere des Mikrofinanzsystems nach außen: es geht um Banking und Rendite, nicht um Frauen-Empowerment, Selbstorganisierung und Solidarität.


Die Kommerzialisierung des Kleinkreditwesens

Zunächst stand das Sparen und die Kreditvergabe in Sanghams, den Frauengruppen, die sich im Kontext dörflicher Machtverhältnisse gegen Armut, das Kastensystem und Frauenunterdrückung selbst organisierten, im Vordergrund. Sie entschieden gemeinsam über ihr Erspartes und wer im Notfall ein kleines Darlehen bekam. Dann wurde das Sparen in Selbsthilfegruppen, die Regierungsprogramme mit Weltbank-Krediten mobilisierten, durch die Kredite an den Rand gedrängt und die Kreditvergabe an die Gruppen mit "einkommenschaffenden Tätigkeiten" verkoppelt. Pate dabei stand das Grameen-Modell des Nobelpreisträgers Mohammed Yunus.

Mohammed Yunus rief ein "Menschenrecht auf Kredit" aus und verknüpfte das Menschenrechtsparadigma der Vereinten Nationen mit der modernen Finanzwirtschaft und dem neoliberalen Mainstream, indem er große Banken und Fondsgesellschaften explizit aufforderte, in das kommerzielle Geschäft mit den Kleinkrediten einzusteigen. Dafür versprach er den kommerziellen wie den wohlfahrtsorientierten Geldgebern "ein gutes Gewissen" und die Hoffnung, "Armut ins Museum" zu befördern. Yunus war somit auch der Vater der Kommerzialisierung des Kleinkreditwesens. Der unablässige Verweis auf die hohe Rückzahlungsmoral von 98% und die erfolgreiche Marktintegration der Frauen begründete fortan den Siegeszug des Grameen-Modells weltweit.


Die Rolle der Mikrofinanzinstitutionen

Der Crash der kommerziellen Mikrofinanzierung entstand aus den Gesetzmäßigkeiten des Finanzmarkts heraus. Dabei ist die Ähnlichkeit mit der Subprime-Krise in den USA frappierend. Die Mikrofinanzinstitutionen (MFIs), die sich als Vermittler zwischen den Dorffrauen und den kommerziellen Banken anboten, sind Sprösslinge der Liberalisierung des indischen Finanzsektors zu Beginn der 1990er Jahre. Da ein Gesetz ihre Dienstleistungen auf Kreditvergabe beschränkt, nahmen sie bei indischen und immer häufiger auch bei ausländischen Banken Kredite auf, die sie mit erheblichen Zins- und Gebührenaufschlägen an die Frauen weiterverliehen. Die - dank der hohen Rückzahlungsquote von 95% - guten Renditeaussichten lösten eine Art Goldrausch, Wachstumswahn und Penetrationsbesessenheit aus. Landesweit entstanden mehr als 3.000 MFIs mit zigtausenden, meist männlichen Agenten, die sich gegenseitig die Kundinnen in den Dörfern abjagten, um Erfolgsprämien zu kassieren. Je stärker die MFIs expandierten, desto mehr Kapital brauchten sie vom internationalen Finanzmarkt. Den Banken, Investoren und Anlegern in den inzwischen zahlreichen Mikrokreditfonds wurden sichere finanzielle und moralische Renditen in Aussicht gestellt, nämlich Frauen zu helfen, sich aus eigener Kraft von der Armut zu befreien. Bizarrerweise profitierten die MFIs von der globalen Krise 2008, in der nomadisierendes Kapital neue Anlagemöglichkeiten suchte - und damit zum Aufbau einer neuen Blase beitrug.

Wie bei den billigen Hypothekenkrediten in den USA kam es zu einer Kreditschwemme, und die MFI-Agenten drängten den Frauen, darunter viele unter der Armutsgrenze, die keine realistische Chance der Rückzahlung hatten, die Darlehen förmlich auf. Einmal pro Woche wurden die Zinsen eingetrieben. Hinter der hohen Rückzahlungsquote verbarg sich eine hohe Verschuldung, denn die Frauen nahmen mehrere Kredite von mehreren Anbietern auf und gehen zusätzlich noch zum lokalen Geldverleiher, um alle Rückzahlungen prompt leisten zu können.


Auswirkungen auf die Bevölkerung

2010 häuften sich in Andhra Pradesh die Meldungen über Selbsttötungen überschuldeter Frauen zusätzlich zu den 200.000 Bauern, die sich seit 1993 wegen Überschuldung das Leben genommen haben. Daraufhin warf die Regierung den MFIs vor, ein neues intransparentes System der Wucherei aufgebaut zu haben und Hyperprofite auf Kosten armer Frauen einzufahren. Die MFIs wiesen jeden Zusammenhang zwischen den Selbsttötungen und den Krediten zurück und rechtfertigten die stattlichen Zinsen und Gebühren mit hohen Transaktionskosten wegen der arbeitsintensiven Kreditvergabe und Zinseintreibung. Die Rückzahlungsquoten brachen ein, die MFIs gerieten in eine Liquiditätsklemme, und die Mikrokredite verloren ihre Glaubwürdigkeit als entwicklungspolitisches Instrument der Armutsbekämpfung. Wie in den USA hatten die Kredite eine Finanzialisierung des Alltags bewirkt, überdies eine Feminisierung der Finanzialisierung, weil Frauen, die früher als nicht kreditwürdig galten, die Schlüsselakteurinnen waren. Nicht nur die Entwicklung der Krise durch Wachstumsgier des Sektors, Kreditschwemme, Überschuldung und Crash der Finanzinstitutionen - alles auf dem Rücken der Frauen - sind strukturgleich, sondern auch die "Rettung". Die nun in der Krise versprochene Regulierung ist ebenso halbherzig wie die Finanzmarktregulierung im Westen. Eine kürzlich erlassene Verordnung der Regierung von Andhra Pradesh zu MFIs bemüht sich um Schadensbegrenzung, aber schützt die Kreditnehmerinnen nicht effektiv vor Ausbeutung. Nationale wie ausländische Banken, darunter der US-Konzern Citi Group, entfalteten mit Kapitalhilfe einen Rettungsschirm für die MFIs. Die Geschäfte sollen weiterlaufen.

Nicht zu bestreiten ist, dass die kleinen Kredite vielen Frauen Anerkennung und Verhandlungsmacht sowohl in der Familie als auch gegenüber Behörden brachten. Doch der nachhaltige ökonomische Nutzen ist offenbar extrem gering. Trotz einer 97%igen Rückzahlungsquote lag er in Bengalen bei nur 9%. Alle lange geäußerten Kritikpunkte - häufig konsumtive Nutzung der Kredite, Überangebot auf den Märkten und Konkurrenz der Frauen, Türöffner für ausländische Konzerne, Verfügungsrechte der Männer und Gewalt gegen Frauen - werden plötzlich bestätigt. Die gesamte Entwicklungszusammenarbeit muss sich vorwerfen lassen, dass sie aus lauter Hoffnung auf eine Wunderwaffe die Augen davor verschloss oder es sogar förderte, dass eine Finanzdienstleistungsindustrie entstand, die sich an armen Frauen bereichert. Es ist zu befürchten, dass eine weitere Liberalisierung des Dienstleistungssektors, wie sie u. a. im EU-India-Freihandelsabkommen vorgesehen ist, die Penetrationsbedingungen für Finanzkonzerne verbessert und die Entwicklung neuer Finanzinstrumente erlaubt, die einmal mehr Profite auf Kosten der Frauen machen.


Literaturtipp:
Bateman, Milford:
Why Doesn't Microcredit Work? The Destructive Rise of Local Neoliberalism. (London, 2010)


Zur Autorin:
Christa Wichterich ist Autorin und Beraterin in der der Entwicklungspolitik. Sie ist aktives Mitglied von WIDE (Women in Development Europe). Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Globalisierung, Frauenbewegung, Ökologie und Frauenarbeit. Sie lebt in Bonn.


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Quelle:
Frauensolidarität Nr. 115, 1/2011, S. 16-17
Herausgeberin:
Frauensolidarität - Entwicklungspolitische Initiative für Frauen,
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Telefon: 0043-(0)1/317 40 20-0
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veröffentlicht im Schattenblick zum 18. Juni 2011