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FRIEDEN/1045: Israels Katastrophenhilfe in Haiti - doch nicht in Gaza (SB)



Israels Katastrophenhilfe in dem von einer Serie schwerer Erdbeben heimgesuchten Haiti kontrastiert zwangsläufig die gezielt herbeigeführten Verheerungen im Gazastreifen und die Fortdauer des humanitären Desasters durch die anhaltende Blockadepolitik. Eine Gesandtschaft des israelischen Heimatfrontkommandos hat in Port-au-Prince ein Feldkrankenhaus errichtet, in dem bis zu 500 Menschen behandelt werden können. Einem Team von 40 Ärzten und 24 Krankenschwestern stehen eine Intensivstation, zwei Operationsräume, eine Apotheke und ein Röntgenlabor zur Verfügung. Auch die jüdischen Gemeinschaften in Nordamerika und der Dominikanischen Republik haben den Erdbebenopfern Hilfe in Aussicht gestellt. Der "American Jewish World Service" hat eine Kampagne gestartet, um Spenden für die notleidende haitianische Bevölkerung zu sammeln (www.israelnetz.com 14.01.10).

Der Reporter und Kommentator der israelischen Tageszeitung Ha'aretz, Akiva Eldar, schrieb Anfang vergangener Woche, daß die bemerkenswerte Identifikation mit den Opfern der schrecklichen Tragödie im fernen Haiti die Indifferenz hinsichtlich des andauernden Leidens der Menschen in Gaza nur um so deutlicher unterstreiche (www.nytimes.com 20.01.10). In der Tat stellt sich die drängende Frage, warum Israel eine humanitäre Mission um die halbe Welt schickt, jedoch die Palästinenser im Gazastreifen, die keine Stunde entfernt in tiefem Elend leben, von jeder Hilfe abschneidet. Wie die New York Times argumentiert, machten Jahre des Umgangs mit "terroristischen Angriffen" in Verbindung mit einer hochentwickelten Medizintechnik Israel zu einem Land, das rascher als die meisten anderen Katastrophenhilfe leisten könne - wobei dem US-amerikanischen Leitmedium der dieser Begründung inhärente Zynismus zu entgehen scheint.

Nach der wachsenden Kritik, mit der die israelische Regierung seit dem Massaker in Gaza vor Jahresfrist konfrontiert wird, sah sie in der humanitären Hilfe für Haiti, das gegenwärtig die Schlagzeilen der Weltpresse beherrscht, zweifellos eine günstige Gelegenheit, etwas für ihr ramponiertes Ansehen zu tun. Eben weil dieser Zusammenhang so offensichtlich ist, läuft sie dabei allerdings Gefahr, ihre Doppelzüngigkeit auf die Tagesordnung zu setzen.

In Israel selbst spiegelt das Medienecho denn auch ein breites Spektrum an Emotionen und Bewertungen wider, welches um die Frage der Selbsteinschätzung als Nation kreist. Wie der frühere Regierungssprecher Uri Dromi in einem Kommentar resümiert, steckten die Israelis in tiefgreifender Konfusion über sich selbst fest. Es tue sich eine tiefe Kluft auf zwischen dem, was man auf vielen Gebieten leisten könne, und dem Versagen, in dem man sich hinsichtlich der Palästinenser gefangen fühle. Voll Nostalgie denke man an die Zeit zurück, als man der Liebling der Welt gewesen sei. Die humanitäre Mission in Haiti rufe die Erinnerung daran wach, so daß man sagen könne: Wir sind nicht so schlecht, wie ihr denkt!

Die israelische Rechte hingegen wischt anklingende Selbstzweifel rabiat vom Tisch und argumentiert, wer Israel der Inhumanität bezichtige, solle nur den Blick nach Haiti richten, wo man selbstlose Unterstützung und enorme Leistungen studieren könne. "Jetzt lieben sie uns", betitelte Eitan Haber, ein enger Berater Premierminister Yitzhak Rabins in den neunziger Jahren, seine Kolumne in dem Massenblatt Yediot Aharonot. Doch in einem oder zwei Monaten werde sich niemand mehr an "die guten Taten" israelischer Soldaten erinnern, fährt er fort. "Dieselben Länder und Politiker, die den Staat Israel derzeit loben, werden dann ihre Repräsentanten beauftragen, bei den Vereinten Nationen gegen ihn zu stimmen, die Operationen der IDF in Gaza zu verurteilen und auf seinen Außenminister einzuprügeln."

Viele Kommentatoren wollen in der haitianischen Mission Israels einen Ausdruck zentraler jüdischer Werte ausgemacht haben. So schrieb Michael Freund für die Jerusalem Post, ein ungeheurer Golf trenne Israel von Haiti. Doch obwohl mehr als 10.500 Kilometer Ozean zwischen diesen beiden Ländern lägen, demonstriere das jüdische Volk, daß seine ausgestreckte Hand jede Kluft überbrücken und jeden Abgrund überqueren könne, wenn es gelte, Leben zu retten.

Skeptischer argumentierte Larry Derfner auf derselben Seite: Wenngleich das israelische Feldhospital in Haiti etwas repräsentiere, das tief im Charakter der Nation verwurzelt sei, gelte das andererseits ebenso für all das, was sich unter dem Namen "Gaza" zusammenfassen lasse. Es sei die haitianische Seite Israels, welche die Gazaseite so unbeschreiblich tragisch mache. Mehr und mehr habe der Gazateil des Nationalcharakters den haitianischen Teil zu einem Schattendasein verurteilt.

Ohne das letztgenannte Bild von der Hand zu weisen, möchte man angesichts dieser um die Befindlichkeit Israels und seines Platzes in der Welt kreisenden Debatte sowohl den israelischen Kommentatoren, als auch der sie kolportierenden New York Times empfehlen, doch endlich jeder Doktrin einer nationalen Besonderheit und des damit beförderten Anspruchs auf Vorherrschaft zu entsagen. Verzichtet man auf ideologische Konstrukte wie Nationalcharakter oder spezielle Werte eines Volkes, bleiben Menschen übrig, deren Leiden niemals hinzunehmen sind, gleich ob es sich um Israelis, Palästinenser oder Haitianer handelt.

24. Januar 2010