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FRIEDEN/1046: Shimon Peres im Bundestag ... humanistische Werte sind unteilbar (SB)



In seiner vielgelobtenRede vor dem Deutschen Bundestag zum Gedenktag an die Shoah hat der Präsident Israels, Shimon Peres, ethische Maßstäbe definiert, anhand derer sich eine Wiederholung des Genozids vermeiden ließe. Die "bedeutendste aller Lehren: 'Nie wieder'" mündete in die kategorischen Forderungen: "Nie wieder eine Rassenlehre. Nie wieder ein Gefühl von Überlegenheit. Nie wieder eine scheinbar gottgegebene Berechtigung zur Hetze, zum Totschlag, zur Erhebung über das Recht. Nie wieder zur Verleugnung Gottes und der Shoah."

Indem der 86jährige Friedensnobelpreisträger als Mitglied einer Familie, die zahlreiche Mitglieder durch die Vernichtungspolitik der Nazis verloren hatte, vor den Nachfolgern der Täter die Frage aufwarf, wie es sein könne, daß die Shoah durch ein Volk ins Werk gesetzt wurde, das sich humanistischen Idealen verschrieben hat, warf er auch die Frage nach der eigenen Erfüllung dieser Werte auf. Da diese zweifellos universell sind, wäre zum Thema der israelischen Besatzungspolitik mehr von ihm zu erwarten gewesen als die formelhafte Erklärung, daß Israel bereit sei, "auf Gebiete zu verzichten, um mit den Palästinensern Frieden zu schließen. Sie sollen einen eigenen Staat errichten, einen unabhängigen, gedeihenden und friedliebenden Staat."

Wer die politische Realität dieses Konflikts kennt, kann diese Absichtsbekundung nur als Beschönigung des Gewaltverhältnisses zwischen Besatzern und Besetzten verstehen. Dieses ist in der Einseitigkeit der militärischen Gewaltanwendung, der Mißachtung rechtlicher Grundsätze und des Unterschieds im sozialen Wohlergehen so frappant, daß ein Gefühl der Überlegenheit fehl am Platze wäre. Es stände im Widerspruch zur Normalität eines Zustandes, mit dem die israelische Gesellschaft zu leben gelernt hat, ohne noch größere innere Kämpfe austragen zu müssen. So ist auch Peres selbstredend darüber hinweggegangen, daß sein Land den Schlüssel zum Frieden in den Händen hält, sich aber weigert, ihn ins Schloß zu stecken. Der hohe moralische Anspruch, mit dem Peres den Holocaust-Gedenktag im Bundestag beging, läuft angesichts der Auslassung, diese Bringschuld zu ignorieren, Gefahr, zu einer bloßen rhetorischen Geste zu verkommen, die denjenigen, mit denen in diesem Konflikt zu sprechen wäre, vor Augen führt, daß der israelische Präsident an ihnen nicht interessiert ist.

Dies auszusprechen ist aufgrund der deutschen Schuld am industriellen Massenmord an den europäischen Juden nach wie vor unabdinglich. Die von führenden deutschen Politikern in ihren Reden zum Holocaust-Gedenktag übernommene Verantwortung wird dadurch, daß Israels Vormachtstellung durch die Bundesrepublik mit politischer Rückendeckung und der Lieferung hocheffizienter Rüstungsgüter offensiv unterstützt wird, während die Palästinenser als mittelbare Opfer des Holocaust massiv benachteiligt werden, gerade nicht wahrgenommen. Sie flüchten sich in die bequeme Umwertung historischer Schuld in einen geostrategischen Aktivposten, der aufgrund der dadurch verschärften Polarisierung in Nahost von keinem dauerhaften Nutzen für die israelische Bevölkerung sein kann.

Dementsprechend kontraproduktiv sind die euphemistischen Lobpreisungen der Rede des israelischen Präsidenten in der deutschen Presse. Die Mutmaßung, alles andere als die Beweihräucherung dieses hochsymbolischen Akts würde als Anbiederung bei revanchistischen und antisemitischen Kräften ausgelegt werden, kann schon deshalb nicht stimmen, weil sich auch jüdische Bürger Israels nicht durch die Nutzung der Shoah für machtpolitische Ziele ihrer Regierung vertreten fühlen. Wenn das antisemitische Ressentiment tatsächlich so virulent ist, daß man als Deutscher bei einem solchen Anlaß den Mund zu halten hat, dann bleibt nur der Schluß, daß der Imperativ "Nie wieder!" in diesem Land ungehört verhallt.

Ihn mit Kraft und Wirkung zu versehen verlangt nach der umfassenden Auseinandersetzung mit der gesellschaftlichen und politischen Genese genozidaler Gewalt. Gerade deshalb, weil ihre katastrophalen Ergebnisse stets einzigartig sind, ist das Gedenken an sie nicht auf einzelne Exzesse zu beschränken. In einer Welt, in der täglich Hunderttausende verhungern, verdursten und an vermeidbaren Erkrankungen zugrunde gehen, kann die soziale Frage ebensowenig von dem Vorhaben, dem durch Menschen bedingten Tod von Menschen Einhalt zu gebieten, ausgeklammert werden wie das Führen aggressiver Kriege. Wenn humanistische Werte mehr bewirken sollen, als nach ihrem Einsatz als rhetorische Ornamente schnell wieder vergessen zu werden, ist zuerst an ihre Unteilbarkeit zu erinnern. Dies steht nicht im Widerspruch zur Unvergleichlichkeit des Schicksals jedes einzelnen Opfers , sondern bildet die Brücke zwischen ansonsten in ihrer Vereinzelung noch einsamer zugrundegehender Menschen. Der Vorwurf, mit der Ausweitung des Problems massenmörderischer Gewaltanwendung auf die angebliche Normalität des alltäglichen mangel- und gewaltbedingten Sterbens solle herausragenden Vernichtungsaktionen wie dem Holocaust an den europäischen Juden die Bedeutung genommen werden, ist ein Affront gegenüber allen Menschen, die, in ihrer Ohnmacht alleingelassen, Opfer ökonomisch und politisch motivierter Raub- und Mordabsichten werden.

28. Januar 2010