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FRIEDEN/1091: Gregor Gysis Verdikt ... der Linken die letzte Streitbarkeit austreiben (SB)



Das vom Fraktionschef der Linkspartei Gregor Gysi im Interview mit der taz über die Forderung, zur Beendigung des Nahostkonflikts einen gemeinsamen Staat aller Juden, Palästinenser und sonstigen Bürger zu gründen, verhängte Verdikt betrifft lediglich Bundesbürger. Wo Hannah Arendt und Martin Buber mit gutem Beispiel vorangingen, dürfe auch jeder "Palästinenser oder Israeli einen binationalen Staat" fordern. Selbst in Ecuador dürfe "jeder einen gemeinsamen Staat für Palästinenser und Juden fordern. Aber nicht in Deutschland". Gysi begründet sein nicht den substantiellen Charakter dieses Lösungskonzepts, sondern die Nationalität seiner Fürsprecher betreffendes Verbot mit dem historischen Status der Juden als verfolgter Minderheit, die in die Vernichtung der europäischen Juden mündete, welche durch ein Nationalvolk vollzogen wurde, das auch heute in einem Staat lebt, in dem es die Mehrheitsbevölkerung darstellt:

"In einem jüdisch-palästinensischen Staat wären die Juden wieder eine Minderheit. Deshalb darf ein Palästinenser einen binationalen Staat fordern - wir dürfen das nicht. Wir sind gebunden durch unsere Geschichte. Auch jeder deutsche Linke muss begreifen: Deutsche Geschichte bindet nicht nur Konservative, sondern auch ihn."

Die europäischen Juden wurden als auf rassistische Weise ausgegrenzte Minderheit, als Volk ohne Staat, Ziel dieses Genozids. Mit der Gründung des Staates Israel verschafften sich die Opfer den Zufluchtsort und das Machtmittel, mit dem die Wiederholung der Shoah zuverlässig zu verhindern sein sollte. Daß dies zur mittelbaren Unterdrückung der Menschen führte, die zuvor auf dem Gebiet dieses Staates lebten, ist Ausdruck einer Souveränität, die vom individuellen Opferschicksal so sehr abstrahiert, daß ihr Gewaltmonopol im schlimmsten Fall Ergebnisse zeitigt, die seine Sachwalter wiederum auf der Seite der Täter verortet. Täter nicht im Sinne der Nazis, aber Täter in der Tradition einer Staatswillkür, die sich nicht verselbständigt, sondern von konkreten Interessen und Akteuren betrieben wird. Der prekäre Charakter von NS-Vergleichen liegt in eben dieser Verwandtschaft staatlichen Handelns begründet - während das schiere Ausmaß des zugefügten Leidens derartige, im übrigen auch von israelischen Politikern an Palästinenser adressierte Vergleiche verbietet, kann die Gültigkeit ihres staatskritischen Elements gerade im Sinne dessen, daß den Anfängen zu wehren ist, nicht pauschal in Abrede gestellt werden.

Die für die Aufarbeitung des Holocaust wesentliche Frage des Verhältnisses von bürgerlichem, kapitalistisch vergesellschafteten Subjekt zu Staat und Nation wird mit dem Rückgriff darauf, Opfer und Täter in nationalen Kollektiven zu verorten, auf fatale Weise verkürzt. Zweifellos ist die Bundesrepublik als Nachfolgestaat Hitlerdeutschlands nach wie vor verantwortlich dafür, einer entsprechenden genozidalen Entwicklung entgegenzutreten. Das gilt nicht nur für die Judenverfolgung, sondern auch für das Anzetteln imperialistischer Kriege, die allein beim Überfall Deutschlands auf die Sowjetunion mehrmals so viele Opfer wie die des industriellen Massenmords an den europäischen Juden gekostet haben, ohne daß sich dies auf vergleichbare Weise in einer Kultur des Gedenkens und der Entschädigung niedergeschlagen hätte.

Als ob sich die zu Anfang von hochrangigen Nazis durchsetzten BRD-Regierungen nicht vom Schatten der jüngsten Vergangenheit lösen konnten, erfolgte die am konkreten Opfer niemals mögliche "Wiedergutmachung" auf der Bahn eines Hegemoniestrebens, das die Aufrüstung des Staates Israel zu einem strategischen Aktivposten westlicher Vormacht im Nahen und Mittleren Osten zum Ziel hatte. Die dazu in Stellung gebracht Apologie, es ginge darum, das Land der Opfer vor der Wiederholung des Holocaust zu schützen, geht mit leichter Hand über die von Israel nicht eingegangenen Verpflichtungen der Vereinten Nationen hinweg, die überhaupt erst möglich machten, daß ein neuer Staat auf bereits besiedeltem Land errichtet wurde. Das von israelischen Regierungen und Militärs über arabische Bevölkerungen gebrachte Leid ist längst nicht mehr damit zu legitimieren, daß ihrerseits nichts als die eigene Staatsräson im Sinn habende arabische Regierungen Krieg gegen Israel führten. Seitdem wurden zahlreiche Möglichkeiten zur Konfliktbewältigung eröffnet, die von einem sich zusehends verhärtenden, von den USA wie der Bundesrepublik bereitwillig tolerierten bis unterstützten israelischen Siedlerkolonialismus torpediert wurden.

Die von Gysi geltende gemachte Sonderstellung deutscher Bürger in der Diskussion um eine Ein- oder Zweistaatenlösung bedient sich eines inversen Nationalismus, der aus der gleichen Quelle schöpft wie die aggressive Identifikation mit Staat und Nation. Was der Linken-Politiker als historische Verantwortung ausweist, ist ein Plädoyer für ein Israel als jüdischen Nationalstaat und eine Absage an das emanzipatorische Anliegen, Nationalismus als Staatsdoktrin zugunsten universaler demokratischer Werte zu überwinden. Warum sollten sich diejenigen unter den deutschen Nachgeborenen, die die Judenvernichtung zu aktivem Eintreten für emanzipatorische Werte bewegt hat, davon abhalten lassen, über die Möglichkeit nachzudenken, wie Menschen über ihre ethnisch-religiösen Grenzen selbst in einem solch unwahrscheinlichen Fall wie dem Palästinas und Israels springen könnten, um ein durch diese Zugehörigkeiten bestimmtes Gewaltverhältnis zu überwinden?

Die Antwort liegt in der hegemonialen Ausrichtung der Bundesrepublik als Akteur im Kampf um die Neuordnung des Nahen und Mittleren Ostens. Von der frenetischen Begeisterung, mit der in der BRD die Siege Israels im 1967er Krieg gefeiert wurden, als gelte es, endlich die Meriten für die strategische Errungenschaft des "Blitzkriegs" zu ernten, über die Gutheißung israelischer Aggressionen im Libanon und in den Palästinensergebieten durch die Bundesrepublik bis zur Lieferung atomwaffenfähiger U-Boote an ein Israel, das gegenüber dem Iran nicht nur defensive, sondern höchst aggressive Töne anschlägt, zieht sich eine Linie imperialistischer Interessensicherung, die nicht gebrochen werden soll. Hätte sich Israel zu einem ideologischen Feind entwickelt, weil es die Verwirklichung des Sozialismus anstrebte, dann wäre es ihm nicht anders ergangen als Opfern des NS-Staates wie der Sowjetunion und Jugoslawien, deren Kriegsleiden keineswegs angemessen gewürdigt wurden. Wäre Israel ein Bankrotteur wie heute Griechenland, dann wäre es nicht vor einer deutschen Großmannssucht gefeit, die keinerlei historische Verantwortung kennt, wenn es um die Sicherung der eigenen Vorteile geht. Wären die Israelis in einer international so ohnmächtigen Lage wie die Palästinenser, dann wäre ihnen die Fürsprache der Bundesregierung ebensowenig gewiß, wie es bei anderen ins Abseits europäischer Hegemonialansprüche geratenen Staaten wie etwa Libyen der Fall ist.

Insofern beschränkt sich die Frage, ob man als Mitglied der Linksfraktion öffentlich die Ein-Staaten-Lösung fordern "darf", nicht auf den vorliegenden Fall, sondern ist von grundsätzlicher Art. Gregor Gysi hat im Grunde genommen alles Wissenswerte dazu gesagt, indem er seiner Partei in einer Rede am 14. April 2008 zum 60. Jahrestag der Gründung Israels die positive Bezugnahme auf die deutsche Staatsräson, von Bundeskanzlerin Angela Merkel gerade erst vor der Knesset als Verpflichtung gegenüber Israel bekräftigt, anempfahl, "einfach als Anerkennung dessen, dass es Vorrangstellungen in der Abwägung von Rechtsgütern gibt, die beeindruckt sind von den tatsächlichen Macht- und Herrschaftsverhältnissen einer Gesellschaft." Die Einladung zu opportunistischer Konsensbildung krönte Gysi mit dem Versuch, die Haltung der Linken zur Beteiligung an Kriegen einer grundsätzlichen Remedur zu unterziehen. Unter Verweis auf den preußischen Militärtheoretiker Carl von Clausewitz empfahl er ihr einen weniger entschiedenen Umgang mit dem Thema: "Anstatt eine Konfliktpartei als einsamen Akteur mit eindeutig festgelegten Präferenzen aufzufassen, muss ein realistisches Bild des Krieges den hohen Grad an Komplexität eines gewaltsamen Konflikts erfassen. Alles andere wäre naiv."

Und wer will schon naiv sein. Drei Jahre später, nachdem Gysi der Partei die Abkehr von einer eindeutigen Position zugunsten von Menschen, deren Lebensrecht durch kolonialistische Interessen negiert wird, durch die Negation des eindeutig gelagerten Gewaltverhältnisses zwischen Israelis und Palästinensern nahegelegt hat, wundert er sich im Interview mit dem Neuen Deutschland (17.06.2011), "mit welcher Leidenschaft innerhalb der LINKEN gerade über Israel diskutiert wird". Bei "keinem Thema gibt es innerhalb unserer Partei eine solche Leidenschaft wie bei diesem", stellt er fest und bekundet, daß es ihn "stutzig" mache und er sich dieses Phänomen "nicht ohne Weiteres erklären" könne. Dem Mann kann geholfen werden: Anstatt mit derartigen Feststellungen unausgesprochen über eine von virulentem Antisemitismus gespeiste Obsession zu mutmaßen, braucht der Fraktionschef sich nur an die eigene Nase zu fassen und sich der von ihm betriebenen Instrumentalisierung des Themas zugunsten der Schwächung antiimperialistischer Positionen in der Linken zu erinnern.

Der Umgang mit der Judenvernichtung durch den NS-Staat nicht nur, aber besonders in Deutschland verläuft auf zwei divergierenden Bahnen. Zum einen wird konform zum imperialistischen Charakter des kapitalistischen Weltsystems die Sonderstellung Israels als seine jüdischen Bürger privilegierendes, andere Teile der Bevölkerung administrativ und rechtlich benachteiligendes sowie über einen Freibrief zur Mißachtung internationalen Rechts verfügendes Staatsgebilde als unverzichtbare Bastion gegen die Judenverfolgung gutgeheißen. Zum andern wird antagonistisch zu den herrschenden Verhältnissen die Gültigkeit universeller Menschenrechte und des in der UN-Charta kodifizierten Völkerrechts beansprucht, was die Gleichstellung der Palästinenser innerhalb Israels und die Aufhebung der Okkupation des Westjordanlands und Gazas beinhaltet. Die ungünstige demographische Prognose, die ein zentrales Argument für den ethnisch-religiösen Charakter Israels ist, wird mit der Überwindung der dem Status quo inhärenten Nationalismen und Rassismen gegenstandslos.

Wohin die Bekämpfung genozidaler Entwicklungen und diktatorischer Herrschaft, nicht selten propagiert unter Inanspruchnahme des dann völlig legitimen NS-Vergleichs, auf der Basis des staatlichen Gewaltprimats mit militärischen Mitteln führt, belegen die kontrafaktischen Ergebnisse der Kriege in Jugoslawien, Afghanistan, Irak. Den Holocaust zur Rechtfertigung des humanitären Interventionismus heranzuziehen tut seinen Opfern ein weiteres Mal die Gewalt an, mit der sie sich durch den NS-Staat konfrontiert sahen. Nicht dessen spezifische Form rassistischer Judenverfolgung, sondern die Ohnmacht, die Menschen erleben, wenn sie staatlicher Gewalt ausgesetzt sind, ist gemeint. Dessen Sachwalter wissen stets gute Gründe für vernichtende Maßnahmen anzuführen. Wenn die NATO in Libyen Zivilisten umbringt und erklärt, sie rette damit Menschenleben, ist die dafür in Anspruch genommene Deutungsmacht nicht minder perfide als die unverhohlene rassistische Suprematie, die schlicht postuliert, daß das eigene Leben mehr zählt als das des anderen.

Die Parteinahme für die Palästinenser in diesem Konflikt birgt daher die ganze Tiefe der Frage nach der Herrschaft des Menschen über den Menschen. Die Festschreibung ausbeuterischer Klassenverhältnisse findet im Gewaltverhältnis zwischen Israelis und Palästinensern ebenso statt wie innerhalb der sich national definierenden Kollektive. Von daher kann es nicht darum gehen, moralische Urteile über die einzelnen Akteure zu fällen. Entscheidend ist die Analyse des Gewaltverhältnisses und der Möglichkeiten, es auch unter Inkaufnahme materieller Einbußen zu beenden. Wenn Gregor Gysi die Forderung einer Einstaatenlösung als "ahistorisch" verurteilt, dann reklamiert er die Kontinuität der Geschichte der Sieger, die Zementierung der herrschenden imperialistischen Formation, für sich. Gerade weil die Einstaatenlösung an eine Utopie grenzt, besitzt sie das Potential, in kämpferischer Solidarität mehr als die Entstehung eines weiteren kapitalistischen Staatswesens anzustreben. Es geht um nichts weniger als die Überwindung eines Verwertungssystems, das sich Staat und Nation bedient, um etablierte Raubverhältnisse zu vertiefen, weit über diesen Konflikt hinaus. Den verbliebene Rest dieser Streitbarkeit soll der parlamentarischen Linken mit dem Mittel eines ideologisch überdeterminierten Stigmas, dessen Sachwalter sich ideologiekritisch gebärden, um die materialistischen Grundlagen des Konfliktes nicht beim Namen nennen zu müssen, ausgetrieben werden.

Fußnoten:
[1] http://www.taz.de/1/politik/deutschland/artikel/1/wir-muessen-der-kritik-grenzen-setzen/
[2] http://www.linksfraktion.de/im-wortlaut/warum-diese-leidenschaft/

19. Juni 2011