Schattenblick →INFOPOOL →POLITIK → KOMMENTAR

FRIEDEN/1096: UNO-Bericht zur Gaza-Hilfsflotte - Streit zwischen Türkei und Israel eskaliert (SB)



Mutet die Eskalation des Streits zwischen der Türkei und Israel gespenstisch an, so in erster Linie deshalb, weil der Kern der Kontroverse, nämlich die Blockade des Gazastreifens, nahezu ausgeblendet wird. Die israelische Abriegelung verwandelt das am dichtesten besiedelte Gebiet der Welt in ein Freiluftgefängnis zur kollektiven Bestrafung von 1,5 Millionen Menschen, in dem Angriffe der Streitkräfte Israels, Unterernährung, weitgehend verseuchtes Trinkwasser, unzulängliche medizinische Versorgung und zerstörte Infrastruktur die Bevölkerung dezimieren, die Lebenserwartung senken, die Menschen demütigen und einschüchtern. Von internationalen Hilfsorganisationen, Vertretern der Vereinten Nationen, NGOs und Menschenrechtsgruppen seit Jahren dokumentiert und angeprangert, zwingt israelische Regierungspolitik den Palästinensern ein Regime der Unterwerfung, Vernichtung und Vertreibung auf, dessen Ende nicht abzusehen ist. Humanität und Parteinahme für die weitaus schwächere Seite im Nahostkonflikt machen die Unterstützung der Menschen im Gazastreifen unabdingbar.

Demgegenüber setzt die israelische Führung auf die Stärke überlegener Waffengewalt und rigoroser Durchsetzung ihrer Ideologie des Rechts auf Selbstverteidigung, das jeden Akt der Repression für legitim erklärt. Am 31. Mai 2010 wurden beim Entern der "Mavi Mamara", die Teil der Gaza-Hilfsflottille war, von den Soldaten des israelischen Kommandounternehmens neun türkische Aktivisten getötet und mehr als 50 weitere verletzt. Wer angesichts dieses Gewaltakts vor den Augen der Weltöffentlichkeit angenommen hatte, Israel müsse zwangsläufig zurückstecken oder gar einlenken, sah sich getäuscht. In diesem Jahr wurde die Blockadepolitik bis in die europäischen Häfen vorgelagert, wo die Schiffe der Gaza-Hilfsflotte durch Sabotage und behördliche Verbote am Auslaufen gehindert oder auf See aufgebracht wurden.

Die Zusammenarbeit die Mittelmeeranrainer mit Israel bei der Unterdrückung der Palästinenser findet auf höherer Ebene denselben Ausdruck kaum kaschierter Kollaboration in dem Bericht zum israelischen Militäreinsatz gegen die Gaza-Hilfsflotte, den der Generalsekretär der Vereinten Nationen, Ban Ki Moon, in Auftrag gegeben hatte. Dieser beklagt die Eskalation des seit Monaten schwelenden Streits zwischen der Türkei und Israel mit den Worten, die Untersuchung habe dem Zweck gedient, die beiden Länder "wieder zusammenzubringen". Er "hoffe aufrichtig, dass Israel und die Türkei ihre Beziehungen wieder verbessern", da beide Länder eine wichtige Rolle in der Region spielten und ein gutes Verhältnis zwischen ihnen sehr wichtig für den Friedensprozeß sei. Auch die USA forderten die Kontrahenten auf, ihren Streit beizulegen. Wie eine Sprecherin des Außenministeriums in Washington erklärte, verbinde die USA mit beiden Ländern eine lange Freundschaft. Es sei bedauerlich, daß die Türkei und Israel ihre Differenzen nicht hätten beilegen können. [1]

Diese Äußerungen sind aufschlußreich, lassen sie doch darauf schließen, daß der UNO-Bericht von vornherein nicht dazu bestimmt war, den Angriff auf die Gaza-Hilfsflotte rückhaltlos aufzuklären und in den angemessenen Kontext der Blockade zu stellen. Vielmehr sollte er die Streitparteien versöhnen, was nur auf Grundlage eines Handels zu Lasten der Palästinenser möglich war. Daß dieser Versuch, die Affäre zu deckeln und zu begraben, dennoch gescheitert ist, liegt an der fehlenden Bereitschaft der israelischen Regierung, auch nur das geringste Fehlverhalten einzugestehen, wie auch der Weigerung auf türkischer Seite, sich diesem unverhohlenen Anspruch israelischer Suprematie zu unterwerfen.

Der 105 Seiten lange Untersuchungsbericht rechtfertigt die israelische Position in wesentlichen Punkten, indem er insbesondere die verhängte Seeblockade des Gazastreifens als "rechtmäßig und angemessen" bezeichnet. Auch wird den Soldaten des israelischen Enterkommandos bescheinigt, sie hätten sich gegen "organisierte und gewalttätige" Angriffe der Aktivisten an Bord des türkischen Schiffes wehren dürfen. Damit stufen höchste Kreise der UNO die israelische Blockadepolitik als legal und notwendig ein, wie sie auch die Doktrin der Selbstverteidigung übernehmen. Dies setzt sich in dem Vorwurf fort, die Türkei habe nicht genug dafür getan, die Organisatoren der Flottille von ihrem Plan abzubringen. Es hätten sich "ernsthafte Fragen über ihr Verhalten sowie über ihre wahren Absichten und Ziele" ergeben, heißt es in dem Papier über einen Teil der Blockadebrecher. Die Diffamierung der Gaza-Flotte als fünfte Kolonne türkischer Islamisten, die unter dem Deckmantel humanitärer Hilfe Israel propagandistisch schaden wollten, findet also auch in der Bilanz der UNO ihren Niederschlag.

Was bleibt übrig, um zumindest den Eindruck zu erwecken, es handle sich um ein Papier, das beide Seiten kritisch unter die Lupe nimmt? Die Rede ist von "exzessiver und nicht angebrachter Gewalt" wie auch einem "inakzeptablen" Verlust von Menschenleben. Wollte man hier ins Detail gehen, kommt man nicht umhin, wie der Bericht die offiziellen Obduktionsberichte zu erwähnen. Demnach waren die Opfer überwiegend aus nächster Nähe und mit mehreren Schüssen getötet oder gar in den Rücken getroffen worden. Des weiteren kritisiert der Report die nachfolgende Behandlung der Passagiere durch die israelischen Behörden, "darunter körperliche Mißhandlung, Einschüchterung und Bedrohung, ungerechtfertigte Konfiszierung persönlichen Eigentums und Verweigerung zeitnahen konsularischen Beistands".

Die Untersuchungskommission schlägt Israel vor, den Verlust an Menschenleben als bedauerlich zu bezeichnen und Entschädigungen zu zahlen. Ministerpräsident Benjamin Netanjahu hat sein Bedauern über die Opfer bereits geäußert, was im diplomatischen Sprachgebrauch nicht mit einem Schuldeingeständnis verbunden ist. Hingegen würde eine Entschuldigung, wie sie die Türkei vergeblich fordert, ein Fehlverhalten einräumen, was die israelische Regierung jedoch kategorisch von sich weist. Ihrer Auffassung nach haben die Mitglieder des Spezialkommandos an Bord des Schiffes in Selbstverteidigung gehandelt. Auch sei die Kommandoaktion keineswegs übertrieben gewesen, da man die Besatzung der "Mavi Marmara" zuvor wiederholt über das geplante Vorgehen informiert habe. Im übrigen sei die Blockade des Gazastreifens erforderlich, um den Waffenschmuggel in das Palästinensergebiet zu verhindern.

Die abstruse Propaganda der israelischen Blockadepolitik, wonach Baumaterial, Ersatzteile, Rohstoffe, medizinische Geräte und vieles mehr nicht in den Gazastreifen eingeführt werden dürfen, weil sie hypothetisch von radikalen Kräften zum Waffenbau verwendet werden könnten, ließe sich in ihrer Logik absoluter Verfügungsgewalt auf die Spitze treiben. Da die palästinensische Bevölkerung infolge der Abriegelung auch nicht genügend Lebensmittel, unbelastetes Trinkwasser, keine angemessene ärztliche Versorgung, Schulbildung und Berufsausbildung erhält, muß man wohl annehmen, daß von israelischer Seite de facto jeder Palästinenser als potentielle Waffe eingestuft wird, mit der man folglich in Selbstverteidigung nach Belieben verfahren darf.

Auf türkischer Seite widerspricht man entschieden der Auffassung der UNO-Kommission, wonach die Seeblockade legal sei. Diese Schlußfolgerung werde vom Mandat des vom UNO-Generalsekretär ernannten Vierergremiums nicht abgedeckt und stehe in Widerspruch zu anderen Entscheidungen der UNO. In Ankara beruft man sich auf einen Bericht des UNO-Menschenrechtsrats sowie auf den Grundsatz der Freiheit der Meere. Die Absicht der Flotte sei humanitärer Natur gewesen und die Teilnehmer hätten nur zu ihrem eigenen Schutz Widerstand geleistet.

Den Vorsitz des vierköpfigen UNO-Gremiums, das die Untersuchung durchführte und den Bericht vorlegte, führte der frühere neuseeländische Ministerpräsident Sir Geoffrey Palmer. Ihm zur Seite stand der ehemalige Präsident Kolumbiens, Alvaro Uribe, bekannt als engster Verbündeter Washingtons in Lateinamerika und durchtriebener Hardliner. Hinzu kamen je ein Vertreter Israels und der Türkei, die sich beide vom Inhalt des Abschlußberichts distanzierten. Dieser lag schon vor Monaten vor, wurde aber zurückgehalten, da Israel und die Türkei mehrere Ansätze machten, ihre Beziehungen wieder zu normalisieren. Nun erklärten beide Regierungen in Reaktion auf die Veröffentlichung des Berichts, dieser lege einer Aussöhnung weitere Steine in den Weg. [2]

Der Termin der gestrigen offiziellen Veröffentlichung des Untersuchungsberichts war nicht zufällig gewählt, lief zu diesem Zeitpunkt doch die von der türkischen Regierung gesetzte Frist für eine israelische Entschuldigung ab. Nachdem der Inhalt des Berichts schon vor dessen offizieller Bekanntgabe auf der Webseite der New York Times veröffentlicht worden war, verkündete der türkische Außenminister Ahmet Davutoglu eine drastische "Reaktion" auf die "Weigerung" Israels, sich zu entschuldigen. Die unmittelbar sichtbarste Maßnahme ist die Ausweisung des israelischen Botschafters und aller höheren Vertreter der israelischen Botschaft in Ankara. Die diplomatischen Beziehungen werden auf die Ebene eines "Zweiten Staatssekretärs" der Botschaft reduziert. Zudem werden alle Militärabkommen ausgesetzt, was Folgen für beide Seiten hat. Das türkische Militär besitzt von Israel modernisierte Waffensysteme und hat israelische Drohnen gekauft. Umgekehrt hat dies israelischen Rüstungsfirmen in der Vergangenheit millionenschwere Aufträge beschert. [3]

Vorerst rätselhaft bleibt der dritte von Davutoglu angeführte Punkt: Die Türkei werde "Vorkehrungen treffen, um die Sicherheit des maritimen Verkehrs im östlichen Mittelmeer zu gewährleisten". Diese Ankündigung dürfte sich auf Pläne beziehen, beim Internationalen Gerichtshof die Blockade Gazas für illegal erklären zu lassen. Zudem ist nicht auszuschließen, daß die türkische Marine künftig Blockadebrecher eskortieren könnte. Die Türkei betrachte die ganze UNO-Untersuchung als null und nichtig, betonte Staatspräsident Abdullah Gül. Er hatte schon nach dem israelischen Angriff auf die Hilfsflotte im vergangenen Jahr erklärt, nun sei "nichts mehr wie zuvor". "Israel hat einen Fehler begangen, den es noch bedauern wird. Den Preis dafür werden sie erst in der Zukunft verstehen", drohte Gül damals. "Die Türkei ist mächtig genug, um ihre Staatsbürger zu schützen, egal wer was sagt", erklärt nun Außenminister Davutoglu. Es sei nun Zeit für Israel, dafür "zu bezahlen, dass es sich über die Gesetze stellt".

Israel hat in Gestalt des UNO-Untersuchungsberichts einen Etappensieg gelandet, droht aber in einer vom Umbruch durchdrungenen Region mit der Türkei einen wertvollen Verbündeten zu verlieren. Nachdem in Ägypten Husni Mubarak dem arabischen Frühling zum Opfer gefallen ist und Israel mit Baschar al-Assad in Syrien schon bald einen weiteren sicher geglaubten Stabilitätsfaktor verlieren könnte, ist der Streit mit Ankara von enormer Brisanz. Konnte man bislang annehmen, daß die türkische Regierung zwar Profil zeigte, wo ihr das vor der eigenen Bevölkerung und in der arabischen Welt vorteilhaft erschien, aber keinen Bruch mit Israel anstrebte, so hat sie nun Schritte eingeleitet, die weit schwerer rückgängig zu machen sein dürften als die Reaktion im vergangenen Jahr. Ob diese Entwicklung den Palästinensern zugute kommt, steht auf einem andern Blatt.

Fußnoten:

[1] http://www.dw-world.de/dw/article/0,,15362422,00.html

[2] http://www.nytimes.com/2011/09/02/world/middleeast/02flotilla.html?pagewanted=all

[3] http://www.welt.de/politik/ausland/article13581218/Tuerkei-sucht-die-Konfrontation-mit-Israel.html

3. September 2011