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FRIEDEN/1102: Gilad Schalit kommt frei - nicht so die Palästinenser (SB)



Gilad Schalit, der in wenigen Tagen freikommen soll, zählt zu den prominentesten Gefangenen der Gegenwart. Wenn behauptet wird, in seinem Schicksal bekomme das schwere Los langjähriger Haft ein menschliches Gesicht, ist kaum zu unterscheiden, wo die Aufklärung endet und die Mythenbildung beginnt. Seit seiner Gefangennahme am 25. Juni 2006 ist er ein Streitobjekt, das zum Vorwand militärischer Interventionen, politischen Schlagabtauschs, diplomatischer Winkelzüge und nicht zuletzt propagandistischer Verklärung diente. Nicht nur die Eltern des jungen israelischen Soldaten, die sich unablässig für die Freilassung ihres Sohnes auf dem Verhandlungsweg eingesetzt haben, sahen in der eigenen Regierung einen maßgeblichen Bremsklotz. Als Gefangener der Hamas war Gilad Schalit für die Führung in Jerusalem offenbar viel zu wertvoll, als das man alles darangesetzt hätte, ihn so schnell wie möglich unbeschadet freizubekommen.

In seinem Namen starben zahlreiche Palästinenser bei Racheakten, Befreiungsversuchen und Fahndungen seitens der israelischen Streitkräfte, von Verletzten und zerstörtem Eigentum ganz zu schweigen. Indessen hätte es dazu des Gefangenen nicht bedurft, ist das doch die nahezu alltägliche Normalität im Umgang der Besatzungsmacht mit ihren Opfern. Schalits Name fiel im Zusammenhang sämtlicher vorgehaltener, gar nicht erst begonnener oder abgebrochener Friedensgespräche, als sei er das einzige und entscheidende Hindernis für eine ansonsten verhandlungsbereite israelische Regierung. Und nicht zuletzt diente er der Bezichtigung der Hamas als terroristische und kriegsverbrecherische Fraktion, deren wahre Absichten in diesem Musterfall unverhohlen zu Tage träten.

Im Kontrast zu den rund 6.000 in israelischen Gefängnissen festgehaltenen Palästinensern, die aus westlicher Sicht weitgehend ausgeblendet werden, zerrt man den Lebenslauf Gilad Schalits in ein grelles Scheinwerferlicht. Wer fühlte nicht mit, wenn die wachsende Kampagne zu seiner Befreiung ihr Ziel erreichte und den Freigelassenen endlich in die Arme schließen könnte? Als kehrte er aus der Hölle ins Paradies zurück, teilt man unwillkürlich eine Erleichterung, die ebenso menschlich begründet und verständlich wie manipulierbar ist. Wähnt man sich so auf der Seite der Freiheit, Humanität und Friedfertigkeit, bleibt für die Palästinenser zwangsläufig nur das Gegenteil. Ist Gilad Schalit aus den Klauen des Bösen errettet, setzt dies seine Peiniger um so mehr ins Unrecht.

Israels Premierminister Benjamin Netanjahu kann sich ans Revers heften, sein diesbezügliches Versprechen eingelöst und gegen Widerstand aus Teilen seines Kabinetts grünes Licht gegeben zu haben. Wer wollte da schon den kalten Kaffee aufwärmen, daß derselbe Netanjahu in der Vergangenheit einen Gefangenenaustausch in vorderster Front verhindert hat! Statt dessen zerbricht man sich lieber hinter Journalistenschreibtischen den Kopf des israelischen Regierungschefs und mutmaßt, er habe angesichts des arabischen Frühlings, der aktuellen Vermittlungsbereitschaft des neuen ägyptischen Regimes und nicht zuletzt mit Rücksicht auf die Stimmung in der eigenen Bevölkerung wie so oft aus der Not eine Tugend gemacht.

Die Hände reiben darf sich auch der Bundesnachrichtendienst, dessen Präsident Ernst Uhrlau eine Beteiligung des deutschen Auslandsgeheimdienstes an der Freilassung Schalits bestätigt hat. BND-Mitarbeiter, die sich in der Region besonders gut auskannten, hätten die Bemühungen unterstützt. "Wenn Deutschland und der BND dort einen Anteil hatten, dann macht uns das auch stolz", so Uhrlau. [1] Netanjahu bedankte sich per Internet-Kurznachrichtendienst Twitter in Berlin: "Ich möchte dem deutschen Unterhändler und Kanzlerin Angela Merkel für ihre Bemühungen danken, Schalit zu befreien." Diese Botschaft richtete sich vor allem an jenen mysteriösen "Gerhard C.", der sich als Sonderagent des BND immer wieder in Verhandlungen zwischen Israel und dessen Gegnern hervorgetan haben soll. [2]

Wer den Gefangenenaustausch für überaus generös und beispiellos humanitär von Seiten Israels hält, sollte die Details des Abkommens gründlich studieren. Unter den insgesamt 1027 palästinensischen Häftlingen, die in zwei Schüben freikommen sollen, fehlen wichtige Anführer des militärischen Arms der Hamas wie auch prominente Politiker wie der zu mehrfach lebenslanger Haft verurteilte Fatah-Führer Marwan Barguti und der Generalsekretär der Volksfront zur Befreiung Palästinas (PFLP) Ahmad Saadat. Zudem dürfen 203 der 450 Gefangenen, die im ersten Schritt freikommen sollen, nicht in ihre Heimat zurückkehren. Bis zu 40 Häftlinge sollen ins Ausland deportiert werden. Etwa 160 Palästinenser aus dem Westjordanland werden zudem in den Gazastreifen abgeschoben. In etwa zwei Monaten sollen weitere 550 Gefangene freigelassen werden, über deren Namen die israelischen Behörden allein entscheiden.

Wie Festnahme, Folterverhör, Administrativhaft, horrende Urteile und hohe Haftstrafen, die gegen Palästinenser verhängt werden, in zahlreichen Fällen rechtsstaatlichen Standards spotten, entläßt Israel die nun vor der Entlassung stehenden Häftlinge nicht vollständig in die Freiheit, sondern in den von der Besatzungsmacht kontrollierten und eingeschränkten Raum der palästinensischen Zwangslage. Der Chef des Inlandsgeheimdienstes Schin Bet, Joram Cohen, machte keinen Hehl daraus, daß sich Israel ohnehin den Einsatz einer letzten Waffe vorbehält: Man sei keine Verpflichtung eingegangen, die entlassenen Palästinenser nicht auszuschalten, erklärte Cohen, womit er gezielte Tötungen meinte. [3] Wenn es daher in deutschen Medien heißt, mit der Freilassung Gilad Schalits gehe ein israelischer Alptraum zu Ende, schließt das die Fortdauer des palästinensischen Alptraums ein.

Fußnoten:

[1] http://www.faz.net/aktuell/politik/israel-kritik-am-gefangenenaustausch-11493138.html

[2] http://nachrichten.rp-online.de/politik/deutscher-agent-half-entfuehrtem-israeli-1.2509390

[3] http://www.welt.de/print/welt_kompakt/print_politik/article13657723/Ein-israelischer-Albtraum-geht-zu-Ende.html

15. Oktober 2011