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FRIEDEN/1123: Martin Luther King ... der Traum ist aus (SB)




"I Have A Dream" - der heute vor 50 Jahren von Martin Luther King in der US-Hauptstadt Washington unter dem Lincoln Memorial gehaltenen Rede könnte mit Fug und Recht entgegengehalten werden, daß der Traum aus ist. Was 1963 bis zu 300.000 Menschen mit dem March on Washington for Jobs and Freedom verlangten, ist nach wie vor unabgegolten. Zwar wird in den vielen Medienberichten über dieses historische Ereignis der US-amerikanischen Bürgerrechtsbewegung, die seit Mitte der 1950er Jahre für die endgültige Umsetzung der längst verfassungsrechtlich verankerten Gleichstellung der schwarzen Bevölkerung des Landes kämpfte, auf die weitreichende Abschaffung der Rassentrennung und größere Aufstiegschancen für afroamerikanische Bürger hingewiesen. Die soziale Ungleichheit, die den Demonstrantinnen und Demonstranten vor 50 Jahren auf dem Herzen lag, ist jedoch nicht nur unverändert geblieben, sondern einer seitdem noch brutaleren Klassenherrschaft zumeist weißer Kapitaleigner gewichen.

So wird in der extensiven Berichterstattung über dieses historische Ereignis gerne unterschlagen, daß Forderungen nach der Durchsetzung des passiven und aktiven Wahlrechts für Schwarze, der Aufhebung von Zugangsbeschränkungen für nichtweiße Schüler und Studenten zu allen Schulen und Hochschulen, der Beendigung der Segregation in privaten wie öffentlichen Einrichtungen als auch der brutalen Repression der weißen Polizei und Justiz nur eine Seite der Medaille waren. Die massive ökonomische Benachteiligung der ehemaligen Sklavinnen und Sklaven war insbesondere unter jungen Schwarzen ein wesentlicher Antrieb, im Zweifelsfall auch zu militanten Aktionsformen zu greifen. Der berühmte Marsch auf Washington bot sich mithin bei aller Berechtigung der dort erhobenen Forderungen dafür an, als eine Art Ventil für den überschießenden Zorn der unterdrückten schwarzen Bevölkerung zu fungieren.

Zuständig für die befriedende Wirkung des Protestes waren schwarze Funktionseliten in Bürgerrechtsorganisationen wie der National Association for the Advancement of Colored People (NAACP), dem Congress of Racial Equality (CORE), das Student Nonviolent Coordinating Committee (SNCC), der National Urban League (NUL) oder der Southern Christian Leadership Conference (SCLC), als deren Präsident Martin Luther King fungierte. Sie entstammten meist dem Mittelstand und strebten den sozialen Frieden auch deshalb an, weil er ihre bescheidenen Privilegien sicherte. Das schwarze Ghettoproletariat hingegen war nicht nur Opfer massiver Polizeirepression, sondern einer materiellen Verelendung, der die strukturelle Ausschließung schwarzer US-Bürger aus vielen gutbezahlten Jobs und Berufen wie ihre nichtvorhandene Verankerung in den dynastischen Traditionen der großen Kapitale zugrundelag.

Da auch Kings heute gerne als Initialzündung für die Emanzipation der schwarzen US-Bevölkerung dargestellte Rede nicht zu einer Verbesserung der Lage in den urbanen Ghettos führte, entbrannten dort Mitte der 1960er Jahre zahlreiche Aufstände gegen die weiße Herrschaft. Die Bürgerrechtsorganisationen stellten sich meist auf deren Seite und riefen nach der Wiederherstellung von Ruhe und Ordnung mit den Mitteln der Staatsgewalt. Gleichzeitig führte das unveränderte soziale Elend zu einer Radikalisierung der afroamerikanischen Bevölkerung, die militantere Emanzipationsbewegungen wie die Black Panther Party oder auch die Nation of Islam hervorbrachte. Gemeinsames Merkmal dieses Aufbruchs, der auch zu Veränderungen in der Doktrin der Bürgerrechtsbewegung führte, war die stärkere Besinnung auf eigenständige, die schwarze Bevölkerung der USA als eigene postkoloniale Nation begreifende Organisationsformen und die Abkehr vom Werben um Unterstützung unter den liberalen Eliten der weißen US-Gesellschaft.

Die Niederschlagung der das Recht auf Waffenbesitz nach Maßgabe der US-amerikanischen Staatsdoktrin bewaffneter Selbstverteidigung offen auch für Schwarze einfordernden Black Panther Party wurde im Rahmen einer geheimen Aufstandsbekämpfung mit polizeilichen und geheimdienstlichen Mitteln vollzogen. Viele führende Mitglieder der Organisation wurden umgebracht oder verschwanden auf Jahrzehnte im Knast. Was in Vietnam den Charakter eines imperialistischen Krieges angenommen hatte, fand seine Entsprechung im Kampf des Staates gegen sozialrevolutionäre Bewegungen der radikalen Linken wie schwarzer Befreiungsbewegungen. Die Aufstände in den Ghettos und die Militanz schwarzer Aktivistinnen und Aktivisten als einen Rassenkonflikt zu bezeichnen, greift zu kurz, entzündete sich die soziale Revolte doch vor allem an einem ökonomischen Gewaltverhältnis, das nach Aufkündigung des relativen sozialen Kompromisses, der die Phase des fordistischen Aufschwungs der USA zum führenden Industriestaat der Welt von Roosevelts New Deal bis zu Johnsons Great Society fast vier Jahrzehnte lang begleitete, die mittellose US-Bevölkerung mit noch größerer Härte heimsuchte.

Deren desolate, von Hunger, Obdachlosigkeit, Repression, medizinischer Unterversorgung und Arbeitslosigkeit bestimmte Situation tritt in Anbetracht des vielbejubelten Fortschritts, nun sogar über einen schwarzen US-Präsidenten zu verfügen, auf eine Weise als Niederlage in Erscheinung, die kaum noch umkehrbar zu sein scheint. Gerade weil mit Barack Obama ein eloquenter Afroamerikaner im Weißen Haus sitzt, der sich explizit auf den Traum Martin Luther Kings bezieht, wird dessen nicht erfolgte Realisierung so greifbar. Während formalrechtliche Fortschritte der Gleichstellung unbestreitbar sind, sieht die soziale Realität für das Gros der schwarzen US-Bürger mindestens so düster aus wie vor 50 Jahren. Der durchschnittliche Anteil einer weißen Familie am Vermögen aller US-Bürger betrug vor fünf Jahren 88.000 Dollar, der einer schwarzen Familie 5.900 Dollar. Je höher hinauf es auf der Karriereleiter geht, desto seltener trifft man auf Schwarze. Während afroamerikanische Künstlerinnen und Künstler auf der Leinwand, der Konzertbühne und im Sportstadium gerne für Unterhaltung sorgen dürfen, sind sie in den Zentralen der Kapitalmacht ebenso dünn gesät wie in den oberen Etagen administrativer Verfügungsgewalt. Zwar ist die US-Gesellschaft heute ethnisch deutlich diversifizierter als vor 50 Jahren, die spezifische Entrechtung und Unterprivilegierung der Nachfahren der Sklaven, die einst wie eine Handelsware importiert und verkauft wurden, um für die Mehrung des Wohlstands ihrer weißen Herren verbraucht zu werden, brandmarkt schwarze Menschen jedoch mit dem Mal einer besonders nachdrücklichen Verachtung.

Es ist kein Zufall, daß die Subprime-Krise im Immobiliengeschäft zu Beginn der Wirtschafts- und Finanzkrise insbesondere schwarze Kleinsparer getroffen hat, während sich ihre ehemaligen, längst wieder mit neuer Wertsteigerung versehenen Häuser heute in den Händen von Banken und Kapitalgesellschaften befinden, in deren Vorständen nur wenige Vertreter der afroamerikanischen Bevölkerung sitzen. Zu deren überproportionaler Armut und Verelendung gesellt sich eine rassistische Justiz, die Rekordergebnisse bei der langjährigen, meist wegen geringfügiger Delikte der Drogenkriminalität erfolgenden Inhaftierung junger schwarzer Männer zeitigt. In den Isolationstrakten der Hochsicherheitsgefängnisse werden politische Aktivisten nichtweißer Herkunft gezielt unter dem Vorwurf der Bandenkriminalität mundtot gemacht, während der Hungerstreik, mit dem sie sich gegen die Folterbedingungen der langjährigen Einzelhaft wehren, von den großen US-Medien kaum wahrgenommen wird.

All dies steht in krassem Widerspruch zur heutigen Würdigung Martin Luther Kings als visionärem, um Frieden und Gerechtigkeit bemühten Prediger. Seit 1986 wird an jedem dritten Montag im Januar der Martin-Luther-King-Tag als einer der vier nationalen Feiertage des Landes begangen. Der Friedensnobelpreisträger wurde nach seinem Tod mit zahlreichen Auszeichnungen bedacht, Hunderte von Straßen sind nach ihm benannt, und sein 120 Millionen Dollar teures Denkmal in unmittelbarer Nachbarschaft zum Roosevelt Memorial und in einer Flucht zum Lincoln und Jefferson Memorial wurde unter Beteiligung zahlreicher Großspender aus Industrie und Wirtschaft realisiert. Die Würdigung seines Kampfes gegen die Rassentrennung führt jeder US-Präsident gerne im Mund, und Kings Rede vom 28. August 1963 wird in den Annalen der US-Geschichte gleichrangig mit der Abschiedsrede George Washingtons und der Gettysburg Address Abraham Lincolns gehandelt.

Angesichts des zwar nicht in der Form, jedoch der Substanz praktisch unveränderten Rassismus der US-Gesellschaft wäre es zu einfach, den Gedenkkult um King als Ausdruck eines schlechten Gewissens zu deuten. Seine Glorifizierung erfolgt im Kontext einer Politik, die das Recht nichtweißer Menschen in anderen Teilen der Welt auf ein selbstbestimmtes Leben nicht weniger negiert, als es die Sklavenhalter vor 200 Jahren mit ihrem Eigentum getan haben. Es handelt sich bei Kings staatstragender Verehrung um eine Form massenwirksamer Widerspruchsregulation. Sie legt Zeugnis ab von der hochentwickelten Fähigkeit modernen Akzeptanz- und Konsensmanagements, die Verfechter streitbarer Positionen so wirkungsvoll zu vereinnahmen, daß das Gegenteil des ursprünglich Beabsichtigten geschieht.

Die realpolitische Widerlegung des Gedenkkults, mit dem heute an einen Tag vor 50 Jahren erinnert wird, an dem vermeintlich bessere Zeiten anbrachen, nimmt mit der Willkür des Drohnenkriegs, der in mehreren Länder des Südens geführt wird und dem zumeist nichtweiße Menschen zum Opfer fallen, und der Ankündigung des Krieges gegen Syrien durch einen schwarzen US-Präsidenten fast schon groteske Züge an. Daher wäre es weit passender, heute nicht jenen christlichen Visionär zu feiern, der die soziale Versöhnung der Gesellschaft predigte, sondern an den Schwarzenaktivisten zu erinnern, der sich entschieden gegen den Vietnamkrieg stellte. Exakt ein Jahr vor seiner nie vollständig aufgeklärten Ermordung am 4. April 1968 in einem Motel in Memphis, Tennessee, wo King sich aufhielt, um einen Streik schwarzer Arbeiter zu unterstützen, hielt er in der New Yorker Riverside Church seine Rede "Beyond Vietnam: A Time to Break Silence".

Mit dieser Anklage der in Vietnam von den US-Streitkräften begangenen Grausamkeiten provozierte King heftigen Widerspruch auch unter dem liberalen weißen Establishment. Das Magazin Time brandmarkte seine Worte als "demagogische Verleumdung, die wie ein Text für Radio Hanoi klang", und die Washington Post behauptete, King hätte "seiner Nützlichkeit für seine Sache, sein Land, sein Volk geschadet". Der Prediger aus Montgomery, Alabama, hatte sich herausgenommen, den Vietnamkrieg nicht nur als großes Unrecht gegenüber der vietnamesischen Bevölkerung zu verurteilen, er richtete das Augenmerk seiner Zuhörerinnen und Zuhörer auch auf die sozialen Folgen, die dieser Kolonialkrieg für die unterprivilegierte Bevölkerung des eigenen Landes zeitigte. Das Motto der Kriegsgegner "Es ist die Zeit gekommen, in der Schweigen Verrat bedeutet" diente ihm als Einleitung zu einer kämpferischen Rede, in der er zum "standhaften Widerspruch, der auf dem Mandat des Gewissens und dem Studium der Geschichte beruht", aufforderte.

Daß King sich mit den spezifischen Hintergründen dieses Krieges bestens auskannte, belegte er durch die ausführliche Darlegung der historischen Berechtigung und völkerrechtlichen Legitimität des vietnamesischen Befreiungskampfes im Rahmen des Antikolonialismus wie der destruktiven Absicht der USA, das Recht der Vietnamesen auf eine selbstbestimmte Entwicklung mit allen Mitteln zu torpedieren. Dabei stellte King die Intervention seines Landes in Südostasien in direkten Zusammenhang zum Sozialkampf in den Vereinigten Staaten. Man werde niemals die notwendigen Mittel zur Behebung der Armut im Land bereitstellen, solange Kriegsabenteuer wie dieses "Menschen und Fertigkeiten wie eine dämonische zerstörerische Absaugpumpe aufsaugen". Er sei zusehends zu der Auffassung gelangt, daß "der Krieg ein Feind der Armen ist, der als solcher angegriffen werden" müsse. King ließ sich insbesondere darüber aus, daß man "junge schwarze Männer, die von unserer Gesellschaft verkrüppelt wurden, achttausend Meilen weit weg schickt, um in Südostasien Freiheiten zu garantieren, die sie in Südwest-Georgia und Ost-Harlem nicht gefunden haben".

Mit seiner Analyse dieser "grausamen Manipulation der Armen" traf er ins Herz des Klassenwiderspruchs, der alle nicht zur weißen Oberschicht gehörenden Menschen unterschiedslos von ihrer Hautfarbe betraf. Je schneller die in Vietnam eingesetzten US-Soldaten begriffen, daß "wir auf der Seite der Wohlhabenden und der Sicheren stehen, während wir den Armen das Leben zur Hölle machen", desto schneller werde dieser Wahnsinn auch beendet. Zu diesem Zweck erhob King konkrete Forderungen wie die völlige Einstellung der Bombardierung Nord- und Südvietnams, die Erklärung eines einseitigen Waffenstillstands, die Beendigung der Ausweitung des Krieges in die Nachbarländer, die Anerkennung der Nationalen Befreiungsfront (NLF) als Verhandlungspartner und als Mitglied einer künftigen Regierung Vietnams und die Festlegung eines Datums zum Abzug aller US-Truppen aus dem Land. Zudem forderte er die Wehrpflichtigen zur Kriegsdienstverweigerung auf.

Die häufig an ihn gestellte Frage, ob die brutale Kriegführung in Vietnam nicht im Widerspruch zu seiner Botschaft von der gewaltfreien Veränderung in den USA stehe, beantwortete er damit, daß "ich niemals wieder meine Stimme gegen die Gewalt der Unterdrückten in den Ghettos erheben könnte, wenn ich nicht zuvor eindeutig Stellung gegen den größten Verursacher von Gewalt in der heutigen Welt beziehe: meine eigene Regierung". In diesem Zusammenhang begründete King die umfassende Darstellung der legitimen Beweggründe des Befreiungskampfs der Vietnamesen als Ausdruck von "Mitgefühl und Gewaltfreiheit". Durch die Augen des Gegners erkenne man "die grundlegenden Mängel der eigenen Verfassung", woraus man lernen und woran man wachsen könne.

Martin Luther King war als christlicher Prediger der Epoche des Kalten Krieges ein erklärter Gegner des Kommunismus, allerdings in einem ideologischen Sinne, während seine Ziele viele Gemeinsamkeiten mit Kommunisten aufwiesen. So forderte er in der Riverside Church, an die Stelle eines "negativen Antikommunismus" das "positive Streben nach Demokratie" zu setzen, und die von ihm dort propagierte "Revolution der Werte" war von zeitloser Gültigkeit: "Wenn Maschinen und Computer, Gewinnstreben und Eigentumsrechte für wichtiger erachtet werden als Menschen, dann ist es unmöglich, das gigantische Dreigestirn aus Rassismus, extremem Materialismus und Militarismus zu überwinden". King bezog Stellung für einen Kampf, der "die Menschen in aller Welt gegen die alten Systeme der Ausbeutung und Unterdrückung revoltieren läßt, so daß aus den Wunden einer gebrechlichen Welt neue Systeme der Gerechtigkeit und Gleichheit geboren werden können. Die barfüßige und hemdlose Landbevölkerung erhebt sich wie niemals zuvor. Die Menschen, die in der Dunkelheit saßen, haben ein großes Licht gesehen. Wir im Westen müssen diese Revolutionen unterstützen".

Privat hatte King sich durchaus positiv zur Möglichkeit geäußert, das politische System der USA in Richtung auf einen demokratischen Sozialismus zu verändern, waren ihm die Klassenwidersprüche seiner Gesellschaft doch steter Anlaß, zu ihrer Überwindung aufzurufen. Sein christlicher Ethos war nicht mit der materialistischen Weltsicht des Marxismus zu vereinbaren, doch sein Eintreten gegen Ausbeutung und Krieg war vielen seiner Verbündeten aus der Bürgerrechtsbewegung zu radikal. So distanzierten sich führende Aktivisten von seiner 1968 ins Leben gerufenen "Poor People's Campaign", weil sie befürchteten, die Mobilisierung für eine "multiethnische Armee der Armen" zur Aufhebung ökonomischer Benachteiligung und die dabei in Anspruch genommenen Aktionsformen des zivilen Ungehorsams könnten zu verstärkter staatlicher Repression führen. Was für King nach der Aufhebung der Rassentrennung die logische Folge einer "zweiten Phase" der Bürgerrechtsbewegung war, provozierte eine reaktionäre Gegenbewegung nicht nur unter der weißen Bourgeoisie. Dieser Roll Back hat heute Ausmaße erreicht, daß über das Ende des Traums nicht gestritten werden muß. Die Absicht, alles zu tun, das den Traum Wirklichkeit werden läßt, bleibt davon unbenommen.

28. August 2013