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HEGEMONIE/1664: Ode "An die Stärke" ... Merkel bekräftigt Führungsanspruch Deutschlands (SB)



Das Europa des Kapitals ist alternativlos. Wie in Stein gemeißelt steht diese unausgesprochene Position im Mittelpunkt der die Regierungserklärung der Bundeskanzlerin zur Eurokrise. Angela Merkel gibt sich keine Mühe, tief zu stapeln oder vermittelnd zu wirken. Vom Atem der Geschichte umweht erklärt sie die Verabschiedung des deutschen Anteils am sogenannten Rettungschirm von 750 Milliarden Euro für verschuldete Länder der Eurozone zu einer Schicksalsfrage. Daß Europa am "Scheideweg" stände kann da nur als rhetorische Figur verstanden werden, mit der Merkel den dezisionistischen Impetus ihrer Entscheidungsgewalt unterstreicht. Den Euro mit aller Macht zu stärken ist ihr nicht nur eine währungspolitische, sondern vor allem legitimatorische Maßnahme, so die wiederholte Bekräftigung der Identität der Gemeinschaftswährung und der europäischen Idee.

Dabei liegt es der Kanzlerin fern, die Europäische Union als einen Entwurf zu verstehen, der sich als Ergebnis europäischer Kulturgeschichte aus den humanistischen Werten konstituiert, die dem Aufgehen im größeren Ganzen der europäischen Völkergemeinschaft frei nach dem Text der Europahymne zugrundeliegen. Angela Merkel ist der himmelsstürmende Pathos, der die Ode "An die Freude" Friedrich Schillers zur Musik Ludwig van Beethovens auszeichnet, völlig fremd. "Seid umschlungen, Millionen!" versteht sie eher als Androhung einer exekutiven Zwangsmaßnahme denn als Aufruf zur Überwindung menschlicher Feindseligkeit. "Unser Schuldbuch sei vernichtet! ausgesöhnt die ganze Welt!" - der Gedanke an eine sozialfreundliche Entschuldung wirkt wie eine ferne Utopie angesichts der rhetorischen Exzesse, mit denen die Griechen einer geradezu nationalpathologischen Prasserei bezichtigt werden. Das Projekt einer europäischen Einheit, in der nationalstaatlicher Eigendünkel zugunsten einer allgemeinen Verbesserung der Lebensverhältnisse überwunden wird, kehrt in der Rede der Bundeskanzlerin auf seinen Anlaß, die gewaltsame Durchsetzung der Nationenkonkurrenz, zurück.

"Es geht um nicht mehr oder weniger als die Zukunft Europas und damit um die Zukunft Deutschlands in Europa", beschreibt die Kanzlerin das Verhältnis der Bundesrepublik zur "Schicksalsgemeinschaft" der Europäischen Union. Das Schicksal betrifft ihre Mitglieder allerdings auf höchst unterschiedliche Weise, weil ihr Zwang eben doch ein menschengemachter ist.

"Europa schaut heute auf Deutschland. Ohne uns, gegen uns kann und wird es keine Entscheidung geben, die ökonomisch tragfähig ist und den rechtlichen Anforderungen sowohl mit Blick auf europäisches Recht als auch mit Blick auf nationales Recht in vollem Umfang Genüge tut. In einem Wort: Mit uns, mit Deutschland, kann und wird es eine Entscheidung geben, die der politisch-historischen Dimension der Situation insgesamt Rechnung trägt."

In Anbetracht der Weichenstellungen, die die desolate Lage der EU möglich macht, übertreibt die Kanzlerin mit dem geschichtsmächtigen Gehalt ihres Auftrags keineswegs. Wie ihrem Mentor Helmut Kohl geht es Angela Merkel darum, deutsche Geschichte zu schreiben und die Neutralisierung Deutschlands als potentielle Bedrohung durch Einbindung in ein europäisches Staatensystem gegen sich selbst zu kehren, um der Bundesrepublik den Status der unbestrittenen Führungsmacht zu verschaffen. Dementsprechend gering ist ihre Bereitschaft, bei der Analyse der Krisenentstehung die destruktive Rolle der deutschen Exportpolitik anzuerkennen. Die Notwendigkeit einer "neuen Stabilitätskultur" in Europa begründet Merkel damit, daß zu viele Mitgliedstaaten über ihre Verhältnisse gelebt hätten und so in die Schuldenfalle geraten seien.

"Das ist die eigentliche Ursache des Problems", dekretiert die Regierungschefin eines Landes, dessen hochproduktive Exportwirtschaft darauf angewiesen ist, daß die Menschen konsumieren nicht um des Gebrauchswerts sondern des Tauschwerts willen. Über die Verhältnisse ihrer bescheidenen materiellen Reproduktion hat die große Masse der Griechen ganz bestimmt nicht gelebt, das gilt auch für immer mehr Menschen in Deutschland, die als Erwerbslose und Niedriglohnjobber die Rechnung für das Unterbieten der Produzenten in den Zielländern deutscher Warenexporte bezahlen. Mit der Behauptung, die Bundesbürger lebten "über ihre Verhältnisse", wurde schon zu Vorkrisenzeiten massiver Druck auf die Forderungen der Lohnabhängigen ausgeübt. Nun, da das finanzkapitalistische Kartenhaus vom Zusammenbruch bedroht ist, nimmt das zentrale Dogma neoliberaler Austeritätspolitik immer offener den Zwangscharakter eines moralischen Imperativs zu strikter Enthaltsamkeit an. Da es keine den Betroffenen einleuchtende Argumente gibt, die die Umverteilung von unten nach oben als unabdinglichen Beitrag zum Allgemeinwohl plausibel machten, wird die Karte der nationalen Suprematie gezogen.

Wir gegen sie heißt im aktuellen Fall fleißige Deutsche gegen faule Griechen und andere Südländer. Deren Schlendrian vor der Insolvenz zu retten kann und darf nur zur Mehrung des eigenen Nutzens erfolgen. Dieser besteht im Ausbau der Führungsrolle Deutschlands und der langfristigen Sicherung der nationalökonomischen Vorteile seiner Wirtschaft. Für die zwischen dem IWF, den Staaten der Eurozone und Griechenland beschlossenen "einschneidenden Maßnahmen" wird eine neoliberale Ratio geltend gemacht, die im Endeffekt den Gläubigerbanken dieses und anderer krisengeschüttelter Staatshaushalte zugutekommt. Drastische Ausgabenkürzungen, die einer längst von materieller Not belagerten Bevölkerung schmerzhaft ins Fleisch schneiden, sollen "die Wettbewerbsfähigkeit Griechenlands erhöhen, damit das Land seine Verschuldung aus eigener Kraft abbauen kann (...). Nur so läßt sich das Vertrauen der Kapitalmärkte wiedergewinnen".

Die heilige Kuh des Kapitals wird vom Eis einer Gesellschaftsordnung geholt, deren Brüche die Menschen ruhig verschlingen können, so lange nur die Stabilität der sie bedingenden Verwertungsverhältnisse erhalten bleibt. Merkels Forderung nach einer "neuen Stabilitätskultur" ist frei von jeglichem Anspruch, die Lebensverhältnisse der Armen zu verbessern. Ihr Verweis auf den "unverzichtbaren" Beitrag des IWF "zu einer erfolgreichen Umsetzung des griechischen Sanierungsprogramms" teilt mit hinreichender Klarheit mit, daß die Erfahrungen des "International Misery Fonds", so der Name des International Monetary Fonds auf den Plakaten griechischer Demonstranten, mit der Durchsetzung von Sparregimes ein wesentliches Element nämlicher Stabilitätskultur sind.

Merkels Insistieren auf eine antiinflationäre monetaristische Finanzpolitik, die von einigen symbolpolitischen Maßnahmen zur Beteiligung der Banken an der Krisenbewältigung nicht wirklich tangiert wird, ist Ausdruck des Interesses derjenigen, die als Eigentümer etwas zu verlieren haben und die als Investoren kalkulierbare Erträge erwirtschaften wollen. Die Stabilisierung des Euro durch ein Regime sinkender Einkommen und wachsender Massensteuern hat allerdings den Nachteil, daß sie konventioneller ökonomischer Wachstumslogik nicht genügt, wirkt sich die Verringerung des privaten Konsums doch alles andere als konjunkturfördernd aus.

Doch darum scheint es dem herrschenden Krisenmanagement nur in zweiter Linie zu gehen. Die Erschütterung des kapitalistischen Akkumulationsmodells wird zum Anlaß genommen, Verstrebungen regulatorischer und administrativer Art in das suprastaatliche Gefüge der EU einzuziehen, die die in Merkels Rede so angestrengt ausgesparte soziale Frage mit anwachsender Repression beantworten. Die erklärte Absicht, die griechische Volkswirtschaft mit Hilfe eines drakonischen Sparregimes und staatlich garantierter Zinsraten im Schuldendienst zu sanieren, um darüber den Wert der Gemeinschaftswährung zu sichern, dient der Beweisführung, daß die Konsolidierung staatlichen Handlungsvermögens in Übereinstimmung mit den Interessen des Kapitals gelingen kann. Nichts anderes sagen Merkels beschwörende Worte, daß das Scheitern des Euro mehr als nur den Zerfall einer Währung bedeutete, aus. Mit der Rückführung der "europäischen Idee" auf das gemeinsame Tauschäquivalent Euro erklärt die Bundeskanzlerin, daß der Zusammenhalt der EU als zentrale Achse kapitalistischer Vergesellschaftung Grundvoraussetzung der Herrschaftsicherung in Europa wie in Deutschland ist.

Konfrontiert mit dem virulenten Widerspruch unzureichender materieller Deckung vorhandener Geldmengen sowie natürlicher Wachstumsschranken, die erst in den letzten Jahrzehnten manifest geworden sind, geht es um den Erhalt einer Ordnung, deren autoritärer Charakter proportional zu ihrer schwindenden Legitimation anwächst. Merkels Vorhaben, Veränderungen der europäischen Verträge zur Einführung von Sanktionen wie "Suspendierungen aus dem EU-Haushalt" bei Nichteinhaltung der Maastricht-Defizitgrenze, dem zumindest vorübergehenden Entzug des Stimmrechts bei "notorischen Defizitsündern" und einem Verfahren für die geordnete Insolvenz überschuldeter Mitgliedstaaten zu erwirken, dokumentiert die Durchsetzung einer sozialdarwinistischen Rangordnung innerhalb Europas, in der der Klassenantagonismus auf das Verhältnis zwischen den Staaten angewendet wird. "Die Regeln dürfen sich nicht nach den Schwächeren richten. Sie müssen sich nach den Starken richten", bekräftigt die Kanzlerin in dankenswerter Klarheit den Führungsanspruch der Bundesrepublik.

Der ihr von Oppositionsführer Frank Walter Steinmeier gemachte Vorwurf, sie habe mit ihrer zögerlichen Haltung die deutsche Führungsrolle in Europa verspielt, drückt denn auch kein anderes Interesse als eben dieses aus. Erschwerend für den SPD-Politiker hinzu kommt, daß er das Machtspiel der Kanzlerin nicht durchschaut, hat die Verzögerung der Zusage zur sogenannten Griechenlandhilfe doch den eigenen Vormachtanspruch bekräftigt und letztlich durchgesetzt. Die griechische Regierung hat keine Insolvenz angemeldet oder auch nur damit gedroht, sie hat sich zur Sachwalterin des ihr auferlegten Spardiktats erklärt und damit einen Akt der Unterwerfung vollzogen, der die Führungsrolle der Bundesrepublik bestätigt. Das gilt auch für die ausdrücklich von der Kanzlerin gelobte Zusammenarbeit mit dem IWF, die für die die Rückendeckung ihres Kurses durch das Interesse der US-Regierung an der "neuen Stabilitätskultur" in Europa steht. Die Abstimmungsprobleme mit Frankreichs Präsident Nicholas Sarkozy erwecken zwar den Eindruck eines Einlenkens der Kanzlerin, doch bleibt es im Ergebnis bislang bei einem Krisenmanagement, das ernsthafte Einschränkungen der deutschen Exportwirtschaft durch supranationale Formen der Wirtschaftsadministration nicht vorsieht.

Angela Merkel spricht nicht nur für sich, wie die verbreitete Personalisierung politischer Prozesse glauben macht. Sie repräsentiert das Interesse eines Großteils der deutschen wie europäischen Kapital- und Funktionseliten an der Fortsetzung der europäischen Einigung unter sozialdarwinistischem Vorzeichen. Der Rest der Menschen darf sich von Schiller auf eine Entschädigung für die erlittenen Entbehrungen vertrösten lassen, die im Himmel wie auf Erden das Weniger vom Mehr beziffert: "Duldet mutig, Millionen! Duldet für die beßre Welt! Droben überm Sternenzelt wird ein großer Gott belohnen."

Zitate aus der Regierungserklärung der Bundeskanzlerin vom 19.05.2010:

http://www.bundesregierung.de/nn_670562/Content/DE/AudioVideo/2010/Video/2010-05-19-Regierungserklaerung-Euro/2010-05-19-regierungserklaerung-euro.html

19. Mai 2010