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HEGEMONIE/1666: Unterirdische Debatte um Zwecke und Ziele deutscher Kriegführung (SB)



Die anhand der Äußerungen des Bundespräsidenten auf dem Rückflug von seinem Besuch im nordafghanischen Feldlager der Bundeswehr aufgeworfene Frage, ob Horst Köhler mit dem interessenpolitischen Charakter deutscher Kriegführung eine Art Paradigmenwechsel in der Militärdoktrin angestoßen habe, ignoriert zahlreiche Beschlußfassungen auf deutscher, EU-europäischer und NATO-Ebene. Wo man auch nachschlägt, wird man auf politische Leitlinien strategischer Planung stoßen, die mehr oder minder deutlich bestätigen, was der Bundespräsident zur Notwendigkeit deutscher Kriegführung erhoben hat.

Schon die 1992 vom Kabinett Helmut Kohl verabschiedeten Verteidigungspolitischen Richtlinien (VPR) sahen die "Aufrechterhaltung des freien Welthandels und des ungehinderten Zugangs zu Märkten und Rohstoffen in aller Welt im Rahmen einer gerechten Weltwirtschaftsordnung" vor [1]. Im Weißbuch zur Sicherheitspolitik Deutschlands und zur Zukunft der Bundeswehr 2006 wird die hochgradige Abhängigkeit der Bundesrepublik "von einer gesicherten Rohstoffzufuhr und sicheren Transportwegen in globalem Maßstab" konstatiert, die "strategische Bedeutung" einer "sicheren, nachhaltigen und wettbewerbsfähigen Energieversorgung" für die Zukunft Deutschlands und Europas hervorgehoben und die wachsende Bedeutung von Energiefragen für "die globale Sicherheit" prognostiziert [2]. In den jüngsten VPR 2003 wird festgestellt: "Die deutsche Wirtschaft ist aufgrund ihres hohen Außenhandelsvolumens und der damit verbundenen besonderen Abhängigkeit von empfindlichen Transportwegen und -mitteln zusätzlich verwundbar." [3]

Auch wenn die zur Zeit gültigen strategischen Konzepte nicht ausdrücklich zum Einsatz der Streitkräfte aus wirtschaftlichen Gründen auffordern, so ergibt sich diese Option schon daraus, daß nationale Interessen in einen spezifisch militärischen Kontext gestellt werden. Das gilt auch für die Einbindung der Bundeswehr in multinationale Zusammenhänge. So fordert die Europäische Sicherheitsstrategie (ESS) 2003 zur Sicherung der Energieversorgung auf und spricht sich für eine präventive Vorgehensweise außerhalb der EU mit "robuster" Komponente aus [4]. Im European Defence Paper (EDP) 2004, Vorlage für ein Weißbuch der europäischen Verteidigungspolitik, steht unter dem Punkt "Regionalkriege zur Verteidigung europäischer Interessen": "Künftige regionale Kriege können europäische Interessen tangieren (...), indem europäische Sicherheit und Wohlstand direkt bedroht werden. Beispielsweise durch die Unterbrechung der Ölversorgung und/oder eine massive Erhöhung der Energiekosten, [oder] die Störung der Handels- und Warenströme" [5].

Die euphemistische Verklärung gewaltsam durchgesetzter Interessen bedient sich einer Terminologie, in der nichts so ist, wie es scheint. Der zentrale Begriff der "Sicherheit" klärt nicht darüber auf, daß die angestrebte Sicherheit in der Bundesrepublik höchst unsichere Lebensbedingungen in den Zielgebieten des "Stabilitätsexports" schafft. In einem kapitalistischen Weltsystem von höchst ungleicher Wohlstandsverteilung bedeutet die Durchsetzung der herrschenden Ordnung immer auch die Unterdrückung derjenigen Menschen, die am allerwenigsten von ihr profitieren. Diese stellen in den Ländern des Südens das Gros der Bevölkerungen. Je weniger den Armen und Hungernden durch eine großzügige Versorgung mit lebenswichtigen Gütern geholfen wird, desto massiver fällt der Einsatz gewaltsamer Mittel zur sogenannten Befriedung aus. Der "Asymmetrie" antikolonialer Widerstandsbewegungen geht die Asymmetrie des globalen Wohlstandsgefälles voraus. Die Bekämpfung der "Aufständischen" ändert nichts an den Verhältnissen, gegen die sie sich erhoben haben, soll sie aber mit neuer Legitimation erfüllen, indem die Zurichtung der Bevölkerung auf einen modernen Standard ökonomischer Verfügbarkeit als zivilgesellschaftlicher Fortschritt beworben wird.

Wenn in "gescheiterte Staaten" interveniert wird, um eine den eigenen Interessen dienende Verwertungssicherheit wiederherzustellen, dann wird gerne vergessen, daß der "Staatszerfall" in den Ländern des Südens häufig Ergebnis eines neoliberalen Strukturwandels ist, der zur Schaffung sozialer Kohäsion unabdingliche soziale Vergünstigungen demontierte und ein Verelendungsregime etablierte, das den herrschaftsichernden Charakter administrativer Strukturen und Praktiken brutal hervortreten ließ. Der in den Militärdoktrinen betonte "präventive" Charakter zu ergreifender militärischer Maßnahmen läuft in der Praxis meist auf eine völkerrechtswidrige Aggression hinaus, die, im euphemistischen Legitimationsjargon "humanitär" gewendet, als Wohltat für die Betroffenen ausgewiesen wird.

Der Letztbegründungscharakter des Sicherheitsbegriffs blendet vor allem aus, daß sein repressives Attribut mit der Herstellung sozialer Gerechtigkeit unvereinbar ist. Stände die soziale Frage im Mittelpunkt der Krisenregulation, dann ließen sich die Probleme irregulärer Gewalt, die das Szenario des asymmetrischen Kriegs bestimmen, lösen, bevor man zu der üblicherweise eingesetzten Feuerkraft greift. Da moderne Ordnungskriege die Durchsetzung neoliberaler Verwertungspraktiken bezwecken und die desolaten Verhältnisse in den Kriegsgebieten frei nach der Doktrin der "kreativen Zerstörung" auf einen Neubeginn zutreiben, in dem die Sieger die Bedingungen des nächsten Akkumulationszyklus setzen, besteht für den Aufbau gesellschaftlicher Verhältnisse, die nicht von fremden Interessen bestimmt werden, so gut wie keine Chance.

Natürlich geht es weder in Afghanistan noch anderswo allein um wirtschaftliche Interessen im Sinne profaner Eroberungszüge. Die Ausweitung neokolonialer Einflußzonen findet nicht umsonst im supranationalen Verbund westlicher Staaten statt, die im Zweiten Weltkrieg noch auf verschiedenen Seiten der Front standen. Die hochgradige Interdependenz des kapitalistischen Weltsystems und die Herausforderungen mehrerer synchron verlaufender, die ganze Welt in Mitleidenschaft ziehender Krisen verlangen nach einem System globaladministrativer Regulation, das allein zu kontrollieren auch die USA nicht mehr in der Lage sind.

Um auf dieser Ebene Einfluß geltend zu machen und verbindliche Normen zu setzen, bedarf es funktionierender Bündnisse, die sich nicht durch nationale Alleingänge auseinanderdividieren lassen. Die transatlantische Achse USA-EU unterstreicht ihren Hegemonialanspruch nicht zuletzt durch die immense militärische Macht, über die die ihr angehörenden Staaten verfügen. Deren wirtschaftliche Interessen bedienen sich dieser Durchsetzungskraft, ohne daß bei jedem Konflikt zu den Waffen gegriffen würde. Der Afghanistankrieg ist mithin auch Ausweis des hegemonialen Leistungsvermögens der transatlantischen Achse und ihres Militärbündnisses NATO. Wenn nun geltend gemacht wird, daß es dort nicht um Wirtschafts-, sondern Sicherheitsinteressen ginge, dann wird damit ein künstlicher Widerspruch aufgebaut, um sich elegant aus der Affäre zu ziehen.

Ob der Bundespräsident in seiner umstrittenen Stellungnahme die "Metamorphose der Geopolitik" reflektiert, die BND-Chef Ernst Uhrlau im April 2009 im Präsidialamt präsentierte, um Köhler mit den neuen Herausforderungen des globalen Krisenmanagements vertraut zu machen [6], muß Gegenstand der Spekulation bleiben. Zweifellos jedoch ist die Ratio deutscher Kriegführung, deren Gültigkeit nun von einigen Politikern heftig bestritten wird, nicht allein seinen Überlegungen entsprungen, sondern repräsentiert die in den NATO-Staaten vorherrschende Lehrmeinung. Demgemäß attestiert der ehemalige Verteidigungsminister Rupert Scholz dem Bundespräsidenten im Deutschlandfunk [7], daß Köhler "eigentlich etwas Selbstverständliches gesagt" habe. Wenn der Staatsrechtler Scholz zwischen "präventiver" und "repressiver" Sicherheitspolitik differenziert, um im Einklang mit Briten und Amerikanern eine "internationale gemeinsame, auch solidarisch zu nennende Sicherheitsverantwortung" für die Bundesrepublik in Anspruch zu nehmen, dann meint er damit nicht die Solidarität mit den vor, während oder nach der Intervention ihres Lebens und ihrer Gesundheit beraubten Opfern dieser Sicherheitsdoktrin. Erlaubt ist alles, was sich die Mitglieder des größten Militärbündnisses der Welt qua ihrer Definitionsmacht genehmigen können, wie das Beispiel des Überfalls der NATO auf Jugoslawien gezeigt hat. "Natürlich intervenieren, wenn es nicht anders geht", aber zu welchen Mitteln man greift, das "hängt eben vom jeweiligen Gefährdungstatbestand ab". Um den zu bestimmen, werden vielerlei Interessen herangezogen, darunter auch ökonomische.

Den Präsidenten in Anbetracht einer Kritik, die häufig von Politikern artikuliert wird, die den Afghanistankrieg als unvermeidlich bezeichnen und sich nicht die Suppe ihrer ethischen Kriegsbegründung versalzen lassen wollen, zu unterstützen ist Ehrensache nicht nur für dieses CDU-Mitglied. Das geht um so leichter über die Zunge, wenn man als Bürger eines militärisch starken Staates die Aufhebung des Unterschieds von innerer und äußerer Sicherheit postuliert, um behaupten zu können, daß regionale Konflikte nicht mehr alleinige Sache der sie austragenden Staaten und Gruppen sein können.

So erklärte Scholz 1991 auf dem Fürstenfeldbrucker Symposium für Führungskräfte aus Bundeswehr und Wirtschaft:

"Dieser Jugoslawienkonflikt [hat] unbestreitbar fundamentale, gesamteuropäische Bedeutung.(...) Wir glauben, dass wir in der Überwindung des Ost-West-Gegensatzes sowie mit der Überwindung der deutschen Teilung sozusagen die wichtigsten Folgen des zweiten Weltkrieges überwunden und bewältigt hätten. (...) [A]ber in anderen Bereichen sind wir heute damit befasst, noch die Folgen des ersten Weltkrieges zu bewältigen. Jugoslawien ist als eine Folge des ersten Weltkrieges eine sehr künstliche, mit dem Selbstbestimmungsgedanken nie vereinbar gewesene Konstruktion. (...) Das bedeutet in der Konsequenz, dass meines Erachtens Kroatien und Slowenien völkerrechtlich unmittelbar anerkannt werden müssen. (...) Wenn eine solche Anerkennung erfolgt ist, dann handelt es sich im Jugoslawienkonflikt nicht mehr um ein innenpolitisches Problem Jugoslawiens, in das international nicht interveniert werden dürfe." [8]

Was Scholz auf diesem von der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände und der Bundeswehrführung veranstalteten Symposium als Vollendung deutscher Hegemonialinteressen anpries, belegt, daß die Bedeutung des völkerrechtswidrigen Kriegs gegen Jugoslawien 1999 für den weiteren Ausbau der Kriegsbereitschaft Deutschlands kaum hoch genug eingestuft werden kann. Für die Neuordnung des westlichen Balkans im Sinne der Bundesrepublik war die Souveränität Jugoslawiens das Haupthindernis, das es durch eine Strategie der inneren Zersplitterung aus dem Weg zu räumen galt. Wenn heute vor dem Hintergrund angeblich lauterster Absichten - die offizielle Begründung für die Beteiligung der Bundeswehr am Afghanistankrieg - über die allgemeinen Beweggründe deutscher Kriegführung debattiert wird, wäre es sinnvoll, sich in Erinnerung zu rufen, daß die dabei in Anspruch genommene Unschuld schon kurz nach dem Anschluß der DDR aufgegeben wurde.

Fußnoten:

[1] www.imi-online.de/download/us-mem.pdf

[2] Schwarzbuch zur Sicherheits- und Militärpolitik Deutschlands, Berlin 2007, S. 56

[3] http://www.bmvg.de/portal/a/bmvg/kcxml/04_Sj9SPykssy0xPLMnMz0vM0Y_QjzKLt4w39XEFSUGYjvqRaGJGpuYIsSB9b31fj_zcVP0A_YLc0IhyR0dFAOnhbsk!/delta/base64xml/L2dJQSEvUUt3QS80SVVFLzZfOV8zVjY!?yw_contentURL=/C1256F1200608B1B/N264WS4R915MMISDE/content.jsp

[4] Tobias Pflüger/Jürgen Wagner (Hg.): Welt-Macht EUropa. Hamburg 2006, S. 85

[5] ebd. S. 87 f.

[6] http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-65169729.html

[7] http://www.dradio.de/dlf/sendungen/interview_dlf/1191730/

[8] www.free-slobo.de/news/100205gp.pdf

28. Mai 2010