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HEGEMONIE/1756: Erdogan-Besuch - falsche Fragen, verhängnisvolle Antworten (SB)




Deutschland wäre "kein Rückzugsraum für PKK-Täter", hielt Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger dem türkischen Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan entgegen. Dieser behauptete während seines Deutschlandbesuchs, die Bundesregierung gehe nicht entschlossen genug gegen Anhänger der PKK vor, was die FDP-Politikerin, die sich zeitgleich in der türkischen Hauptstadt Ankara aufhielt, zu dieser Rechtfertigung veranlaßte. Überflüssig zu erwähnen, daß die "PKK auch in Deutschland verboten" [1] sei, wäre es doch viel interessanter gewesen, wenn Leutheusser-Schnarrenberger die legitimen Ansprüche der kurdischen Bevölkerung in der Türkei auf rechtliche Gleichbehandlung und kulturelle Autonomie betont und in diesem Zuge die massive Repression gegen kurdische Menschen verurteilt hätte.

Daß sie dies nicht tat, sondern sich auf vorsichtige Kritik an rechtstaatlichen Mängeln und die Einschränkung der Meinungs- und Pressefreiheit beschränkte, ist der traditionellen Allianz zwischen den NATO-Partnern Deutschland und Türkei geschuldet. Diese geopolitische Achse reicht weit zurück bis ins 19. Jahrhundert und hat bisher alle Wechsel der politischen Systeme im ehemaligen Osmanischen Reich überstanden. Die Erblast der Beteiligung deutscher Generäle am Armenier-Genozid während des Ersten Weltkriegs ist hierzulande so gut wie unbekannt geblieben, was bestens ins Bild des Schulterns eines Teils der Erblast der damaligen Kriegssieger Britannien und Frankreich paßt, die Kurden bei der Neuaufteilung der Region schlichtweg übergangen zu haben.

Ob wieder einmal ein Militärregime Angst und Schrecken über die türkische Gesellschaft brachte, ob Oppositionelle zu Tausenden in den Kerkern des Landes gefoltert wurden oder sie im Hungerstreik gegen unmenschliche Haftbedingungen starben, die BRD-Regierungen hielten es stets mit den Mächtigen am Bosporus. Das gilt auch heute, da mehr als zehntausend politische Gefangene vorwiegend kurdischer Herkunft, darunter viele Parlamentarierinnen, Frauenaktivistinnen, Gewerkschafterinnen und Journalisteninnen, in den Knästen des Landes sitzen. Seit mehr als sechs Wochen befinden sich über 700 Gefangene im Hungerstreik gegen ihre Haftbedingungen und gegen die Totalisolation Abdullah Öcalans, mit Hilfe derer die türkische Regierung seit anderthalb Jahren versucht, die politische Stimme vieler Kurden im Land mundtot zu machen.

Die Bundesregierung hat kein Interesse daran anzuerkennen, daß die kurdische Freiheitsbewegung eine der sozial und politisch fortschrittlichsten Kräfte in der Region ist, weil deren politische Ideale auch hierzulande als Gefahr für den kapitalistischen Staat erachtet werden. Die anhaltenden, ideologischen wie politischen Veränderungen innerhalb der PKK und ihr nahestehender Parteien in keiner Weise Rechnung tragende Kriminalisierung dieser Interessenvertretung der kurdischen Minderheit beruft sich darauf, die aktive Selbstverteidigung gegen Übergriffe türkischer Streitkräfte und Sicherheitsorgane als "Terrorismus" zu brandmarken. Sie meint jedoch die emanzipatorische, Selbstorganisation durch Räte, Geschlechtergerechtigkeit und sozialökologische Suffizienz propagierende Programmatik der kurdischen Freiheitsbewegung. Kurz gesagt, die fortdauernde Kriminalisierung der PKK ist der Hebel zur Unterdrückung einer linken Oppositionsbewegung, die in der Bundesrepublik zahlreiche Anhänger hat und die, wenn sie in ihrer politischen Arbeit nicht auf diese Weise unterdrückt und isoliert würde, zum Ausgangspunkt einer breiteren antikapitalistischen Mobilisierung auch unter anderen Gruppen der deutschen Bevölkerung werden könnte.

Statt dessen wird die türkische Regierung hofiert, weil ihr Land als einziger NATO-Staat mit mehrheitlich islamischer Bevölkerung ein strategischer Aktivposten für die Hegemonialziele der USA und EU im Nahen und Mittleren Osten ist und weil die Wachstumsraten der türkischen Wirtschaft für das deutsche Kapital von großem Interesse sind, und das nicht nur, um dem angeschlagenen Ruf des neoliberalen Marktwirtschaftsmodells neue Legitimität zu verleihen. Dafür wären zumindest einige deutsche Politiker bereit, mehr zu tun als nur mittelbar Tod und Verderben über die Region zu bringen. Wenn etwa der Grünenchef Cem Özdemir anläßlich des Erdogan-Besuchs fordert, daß "wir gerade jetzt im Zusammenhang mit dem Syrien-Konflikt, aber auch mit der ganzen arabischen Region, mit Nordafrika dringend eng zusammenarbeiten müssten mit der Türkei" [2], dann wirkt das im Zweifelsfall wie ein Plädoyer dafür, auch einer militärischen Intervention der NATO in Syrien nicht fernzubleiben.

Während der Mainstream-Presse zum Besuch des türkischen Ministerpräsidenten in Deutschland kaum mehr einfällt, als sein Verhältnis zu den in Deutschland lebenden Türken zu kommentieren und die Frage des EU-Beitritts der Türkei in den immer gleichen Pro- und Contra-Argumenten zu spiegeln, bleiben die Konflikte in der türkischen Gesellschaft auf der Strecke deutscher Hegemonialinteressen. Die Stimme [3] der zahlreichen Verbände der Opposition gegen die türkische Regierungspolitik hingegen wird weitgehend ignoriert, auch wenn deren Demonstration, an der laut den Veranstaltern 6000 Menschen teilnahmen, gegen den Besuch Erdogans in Berlin in vielen Zeitungen Erwähnung fand. Die Errungenschaft, daß zahlreiche in Deutschland lebende Migrantengruppen und politische Organisationen gemeinsam dazu aufriefen, gegen die Einmischung Ankaras in den Konflikt in Syrien, gegen die Unterdrückung in der Türkei lebender ethnischer und religiöser Minderheiten und gegen die antidemokratische Entwicklung im Lande Position zu beziehen, ist ein klares Indiz dafür, wie bedrohlich diese Entwicklung für die gesamte Bevölkerung der Türkei ist.

Eine nicht nur im demokratischen Sinne, sondern auch die friedliche Entwicklung im Nahen und Mittleren Osten begünstigende Neubewertung der Rechte kurdischer Bevölkerungen durch die Bundesrepublik und EU findet nicht statt, weil das Vermächtnis des europäischen Kolonialismus übergangslos in eine imperialistische Politik miteinander korrespondierender deutscher und türkischer Hegemonialinteressen übersetzt wird. Damit werden nicht nur Konflikte innerhalb der Bundesrepublik geschürt, damit wird auch einer kriegerischen Eskalation der Weg geebnet, an der das Gros der Bundesbürger kein Interesse haben kann. Die türkische Regierung zu kritisieren, ohne sich mit notorischen Islamhassern gemein zu machen, gelingt nur mit der Forderung, die an sie gestellten Forderungen demokratischer und sozialer Art auch für die Bundesregierung verbindlich zu machen. Einmal mehr zeigt sich, daß die Widersprüche kapitalistischer Gesellschaften Bruchlinien markieren, die mit dem Schein nationalistischer Suprematie zu überblenden den Weg in die nächsthöhere Ordnung gewaltsamer Regulation weist.

Fußnoten:

[1] http://www.focus.de/politik/ausland/eu/tuerkischer-regierungschef-zu-besuch-in-berlin-erdogan-setzt-eu-ultimatum-fuer-beitritt_aid_850341.html

[2] http://www.dradio.de/dlf/sendungen/interview_dlf/1908324/

[3] http://www.nadir.org/nadir/initiativ/isku/erklaerungen/2012/10/Pressemappe_Pressekundgebung_29.10.2012_Berlin_PDF.pdf

31. Oktober 2012