Schattenblick → INFOPOOL → POLITIK → KOMMENTAR


HEGEMONIE/1794: Macht und Moral für die deutsche Staatsräson (SB)



Bundesinnenminister Thomas de Maizière spricht Klartext, doch die von ihm unterstellte Unvereinbarkeit von Moral und Staatsräson hält nur auf den ersten Blick stand. Adressiert an diejenigen, die die Wahlkampfhilfe, die die Bundeskanzlerin dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan und seiner AKP gewährt hat, mißbilligen, erklärte der Unionspolitiker im ARD-Interview:

Wir können nicht immer nur auf dem moralischen Sockel sitzen und alle Welt belehren über Menschenrechtszustände. Wir haben hier eine gemeinsame Interessenlage und deswegen muß man Kompromisse machen. Und dazu gehören Visumserleichterungen, dazu gehören auch die Frage, ob die Türkei ein sicheres Herkunftsland ist. Also ich rate dazu, daß wir sehr klug auf unsere Interessen gucken und uns nicht gleich zu früh moralisch empören.

Interessenpolitik ist nichts anrüchiges, wie etwa die Weißbücher der Bundeswehr, die schon seit langem militärische Ressourcensicherung im Programm haben, oder auch zivile Handels- und Rohstoffstrategien der Bundesregierung erkennen lassen, die eher nicht zum Wohl der davon betroffenen Bevölkerungen beitragen. Das gleiche gilt für Angriffskriege wie denjenigen gegen Jugoslawien, an dem sich die rotgrüne Bundesregierung im Brustton der Überzeugung, es gelte, ein zweites Auschwitz zu verhindern, beteiligt hat. Obwohl längst erwiesen ist, daß es der jugoslawischen Regierung niemals um Massenvernichtung ging und dementsprechende Ankündigungen weit übertrieben waren, ist es niemals zu einer öffentlichen Revision der moralischen Legitimation gekommen, ohne die der erste Kriegseinsatz einer deutschen Armee nach dem Zweiten Weltkrieg auf erheblichen Widerstand in der Bevölkerung gestoßen wäre.

Wird im Falle des Iraks heute die Unrechtmäßigkeit des US-geführten Angriffs 2003 zugestanden, dann vor allem zum Zwecke innerimperialistischer Konkurrenz. Auf die Feuerkraft der USA angewiesen zu sein und sie logistisch wie politisch zu unterstützen, ist das eine, den Eindruck zu erwecken, die Bundeswehr gehe ungleich weniger aggressiv vor und sei US-Truppen gegenüber geradezu ein Ausbund an Menschenfreundlichkeit, nur scheinbar das andere. Vom moralischen Hochsitz aus wird allemal scharf geschossen, nicht weil man demgemäß gute, sondern ausschließlich schlechte, sprich hegemonialpolitische Gründe für Kriegseinsätze hat. Daß sich die Warte, von der aus eine angeblich wertegestützte Außenpolitik betrieben wird, ohne weitere Umstände in eine militärstrategische Kommandohöhe verwandeln kann, stellt keinen Bruch mit Recht und Gesetz dar, sondern entspricht der konsequenten Begründung des einen durch das jeweils andere.

Was nun veranlaßt diesen jeglicher humanistischen Sentimentalität unverdächtigen Technokraten, an dieser Stelle einen vermeintlichen Widerspruch zwischen moralischem Anspruch und realpolitischer Praxis aufzumachen, wenn letztere ohnehin das Feld beherrscht, ob nun mit guten Absichten bemäntelt oder als aus imperativer Not geboren? Weniger, als linke Kritiker des PKK-Verbots oder des repressiven Charakters türkischer Staatsmacht zu beschwichtigen, scheint es ihm darum zu gehen, die von der Bundesregierung angestrebte Indienstnahme der Türkei als Bollwerk gegen die Flüchtlinge aus den Kriegsgebieten und Elendszonen des Nahen und Mittleren Ostens vor dem Verdacht zu schützen, der Regierung in Ankara im Gegenzug mehr Einfluß auf die europäische Politik und freizügigeren Personenverkehr nach Deutschland zuzugestehen.

Zweifellos spricht einiges gegen die von Merkel in Aussicht gestellte Eröffnung eines weiteren Kapitels in den EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei - der Krieg gegen die kurdische Bevölkerung des Landes, der, wie etwa die Drangsalierung der Stadt Cizre zeigt, mit massiver Gewalt geführt wird; die widerrechtliche Inhaftierung tausender politischer Gefangener, die die Türkei zum Spitzenreiter bei der Inanspruchnahme des Vorwands der Untersuchungshaft zum Wegsperren von Menschen ohne Prozeß und Strafurteil in Europa macht; die Mißachtung der Pressefreiheit, die von der Einschüchterung ganzer Redaktionen durch einen wütenden Mob aus AKP-Sympathisanten bis zum wiederum europaweiten Rekord an inhaftierten Journalistinnen und Journalisten reicht; der bislang unausgeräumte Verdacht, die Kämpfer des Islamischen Staates zumindest unterstützt zu haben. Gerade letzteres deckt sich jedoch auch mit dem objektiven Interesse der NATO-Staaten an einem Regimewechsel in Syrien, der längst nicht vom Tisch ist und von Ankara vehement betrieben wird, auch wenn nun Bestrebungen im Gange sind, Präsident Bashir al-Assad eine befristete Rolle bei der Beendigung des Krieges zuzugestehen.

Der moralische Sockel, auf dem sich der Bundesinnenminister wähnt, ist mithin längst kollabiert, ohne die Handlungsfähigekeit der auf ihm thronenden Regierungen einzuschränken. Diese hatten es auch früher nicht nötig, moralisch sicheren Boden unter die Füße zu bekommen, wenn sie Panzer zur Aufstandsbekämpfung in die Türkei lieferten, sich europaweit an der Unterdrückung der kurdischen Freiheitsbewegung und türkischer Linker beteiligten und gleichzeitig auf die Einhaltung der Menschenrechte pochten. So ist die Unterstützung eines Autokraten wie Erdogan integraler Bestandteil einer Hegemonialpolitik, der auch die Verantwortung geschuldet ist, die der Bundesregierung für die Entstehung der Flüchtlingsströme in Syrien und darüber hinaus zukommt. Das ganze Ausmaß der Interessenpolitik, für die sich de Maizière ausspricht, ist mit den von ihm genannten Punkten nicht annähernd erschlossen. Über diesen Sachverhalt hinwegzutäuschen, ist der ganze Sinn und Zweck jenes künstlichen Widerspruchs, mit dem der Bundesinnenminister die Politik seiner Kanzlerin rechtfertigt.

Sich mit der Regierung in Ankara zu arrangieren und ihr damit Wahlkampfunterstützung zu gewähren, läuft absichtsvoll darauf hinaus, daß sich die repressiven und antidemokratischen Verhältnisse in der Türkei nicht ändern werden. Im Ergebnis schließt die Bundesregierung ein Bündnis mit einem Staat, der über eine der zahlenmäßig größten Armeen in der NATO verfügt und seinerseits expansive Interessen in der Region hat, der die eigene Bevölkerung nationalistisch indoktriniert oder mit Antiterrorgesetzen unterdrückt. So sehr, wie die rechte Opposition, die hierzulande gegen Flüchtlinge hetzt und ihre Unterkünfte abfackelt, glauben macht, unterscheiden sich Deutschland und die Türkei nicht voneinander. Die Personen, die glauben, qua Geburtsrecht für ein Leben in Wohlstand und Sicherheit auserkoren zu sein, und ihre Angst vor dem Verlust dieses Nationalprivilegs dadurch beschwichtigen, daß sie andere Menschen aggressiv demütigen und ausgrenzen, sollten sich denn auch in die Ratio des deutschen Imperialismus einbinden lassen.

Die von de Maizière angemahnte Klugheit dieser Interessenpolitik besteht darin, in der gegebenen Situation mit einem Staat zu paktieren, der den Islamfeinden in der eigenen Partei, die bislang den Beitritt der Türkei zur EU nach Kräften behinderte, nicht genehm ist, der der Logik des kleineren Übels gemäß jedoch die bessere Option darstellt. Indem die moralischen Werte angeblicher "Gutmenschen" auf dem Altar knallharter Staatsinteressen geopfert werden, wird die kulturrassistische Rechte beschwichtigt und zugleich der Aufbau entsprechender autokratischer Verhältnisse in der Bundesrepublik betrieben.

20. Oktober 2015


Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang