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HEGEMONIE/1803: Machtprobe gegen Merkel scheitert am "Geist von Bratislava" (SB)



Um über das allgemeine Lamento hinwegzukommen, wurden beim EU-Gipfel in Bratislava Aussichten auf baldige Besserung eröffnet. Dem Illuminieren vielversprechender Perspektiven ganz und gar adäquat kürte Kanzlerin Merkel die "Agenda" oder "Road Map" sogleich zum "Geist von Bratislava", einem "Geist der Zusammenarbeit", seien doch die 27 Staats- und Regierungschefs "der Überzeugung, dass wir Kompromisse brauchen, dass wir das Gefühl der Solidarität brauchen, das Gefühl der Zusammenarbeit." [1] Gefühle sind bekanntlich ein schlechter Ersatz für tatkräftiges Zupacken, und der flüchtige Dunst der am Abend verkonsumierten Spirituosen dürfte der einzige wahrnehmbare Niederschlag des beschworenen Geistes geblieben sein. Dennoch geht es für die Bundeskanzlerin aufwärts, wird die Lautstärke, mit der gegen die deutsche Hegemonialpolitik aufbegehrt wird, doch hörbar leiser.

Die mit großem Aplomb bekundete Unzufriedenheit der mittelosteuropäischen Mitgliedstaaten der EU mit der Berliner Flüchtlingspolitik ist lediglich die Begleitmusik zur Rekalibrierung der innereuropäischen Machtverhältnisse nach dem Brexit, der die Hegemonie Deutschlands mit einem noch größeren Momentum ausstattet als bisher schon. Auch künftig wird die Bundesrepublik nicht nur das Gravitationszentrum der EU bilden, sondern auf vielen Feldern der EU-Politik den Ton angeben. Die zwischen Bundeskanzlerin Merkel und Präsident Hollande abgestimmte "Agenda von Bratislava", bis März 2017 die Flüchtlingsabwehr an den europäischen Außengrenzen noch höher zu ziehen, mehr militärische Schlagkraft nach außen und repressive Gewalt nach innen in Stellung zu bringen sowie die Produktivkraftentwicklung durch mehr Ausbildungsplätze, mehr Rationalisierung und Innovationen industrieller wie informationstechnischer Art zu beschleunigen, ist das Programm einer imperialen Entität, der man nicht leichtfertig den Rücken kehrt.

Das ist den Staats- und Regierungschefs Polens, Tschechiens, Ungarns und der Slowakei, die den europäischen Führungsanspruch der Bundesregierung am schärfsten kritisieren, allemal bewußt. Wer im Brexit den Auftakt einer ganzen Serie weiterer Austritte aus der EU zu erkennen meint, verkennt, wie sehr diese Staaten von der Mitgliedschaft in der EU profitieren. Das gilt, wie bei allen Klassengesellschaften, selbstverständlich in erster Linie für die Kapitaleigner und Funktionseliten, doch das sind eben auch die politischen Repräsentanten, die meinen, sich mit nationalpopulistischer Rhetorik an der EU abarbeiten und dabei bei der eigenen Bevölkerung punkten zu können.

Keineswegs jedoch werden die Regierungen der Visegrad-Staaten, die allesamt erhebliche Mittel aus den Struktur- und Kohäsionsfonds der EU erhalten, ihre über EU-Durchschnitt liegenden Wachstumsraten und die Einkünfte, die ihren Bevölkerungen aus der Arbeitsmigration in die westeuropäischen Mitgliedstaaten erwachsen, durch einen Austritt aus dem Staatenbund aufs Spiel setzen. Das Souveränitätsgedröhn, mit dem sie das antieuropäische Ressentiment schüren, wird durch einen Neoliberalismus konterkariert, dem mit einer Rückkehr zu mehr staatlicher Eigenständigkeit nicht gedient ist. Die marktwirtschaftliche Ordnung der EU zeichnet dafür verantwortlich, daß das Gros ihrer Exporte innerhalb des europäischen Binnenmarkts realisiert wird. Ein Austritt aus der EU könnte das hohe Exportvolumen drastisch verringern, und die freizügige Arbeitsmigration, die für 800.000 in Großbritannien lebende Polen bereits in Frage gestellt ist, hätte weitere ökonomische Einbrüche zur Folge.

Die Bundeskanzlerin kommt ihrerseits den Visegrad-Staaten durch die massive Eindämmung weiterer Fluchtbewegungen in die EU entgegen. Merkel tritt den Beweis an, daß ihre Aussage "Wir schaffen das" zu unrecht von rechts kritisiert wurde, indem sie rechts überholt. Warum eine verfassungswidrige Obergrenze nennen, wenn der konkreten Zuwanderung mit militärischer und polizeilicher Aufrüstung als auch Zweckbündnissen mit türkischen und nordafrikanischen Potentaten auf einem Niveau gehalten werden kann, daß der Frage nach der konkreten Höchstzahl aufzunehmender Flüchtlinge jeden Sinn nimmt? Um so beruhigter kann die Kanzlerin den verbleibenden Mitgliedstaaten einen Konsens schmieden, der auf gemeinsame Stärke in der globalen Krisenkonkurrenz setzt, und ihre zwischenzeitlich erschütterte Position an der Spitze der EU wieder beanspruchen. Wohl wissend, daß der Wegfall der britischen Rolle im Europäischen Rat, für möglichst wenig Integration bei Wahrung maximaler nationaler Vorteile und in der Außenpolitik für einen aggressiven Kurs gegenüber Rußland zu votieren, den Einfluß Polens, Tschechiens, Ungarns und der Slowakei schwächt, wurde die Machtprobe mit Merkel denn auch eher inszeniert als tatsächlich gewagt.

So bescheiden die Ergebnisse des Gipfels in Bratislava auch erscheinen mögen, die Hegemonie Deutschlands wurde nicht auf eine Weise in Frage gestellt, die in näherer Zukunft zu einer Neuausrichtung der innereuropäischen Machtverhältnisse führen könnte. Die Machtfrage zu stellen, ohne die eigenen Ansprüche einem Realitätstest zu unterziehen, führt schnell dazu, die Fragesteller auf den Platz zu verweisen, der ihren tatsächlichen Möglichkeiten entspricht. Da für das krisenhaft erschütterte kapitalistische Weltsystem Verteilungskämpfe auf der Agenda stehen, die zum eigenen Vorteil zu wenden nur große Akteure wie die USA, die EU, Rußland, China und Japan in der Lage sind, gilt für die aus EU-europäischen Hauptstädten ertönende Kritik an der deutschen Führungsrolle weiterhin, daß Hunde, die bellen, nicht beißen. Selbst wenn einzelne Politiker den Bestand der EU durch konkrete Ausstiegspläne aufs Spiel setzten, bissen sie sich in den eigenen Schwanz. Die Strategie, neue Einigkeit durch imperialistische Politik gegenüber Dritten erzielen zu wollen, könnte sich mit der ganzen Trennschärfe ihrer Aggression auch gegen von der Fahne gehende Mitgliedstaaten richten.


Fußnoten:

[1] http://www.zeit.de/news/2016-09/17/eu-nach-eu-sondergipfel-bleiben-viele-fragen-offen-17081604

17. September 2016


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