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HEGEMONIE/1825: Europa - integrierte Vorherrschaft ... (SB)



Das Ende des Vorsitzes Angela Merkels über die CDU und ihre Ankündigung, keine weitere Amtszeit als Bundeskanzlerin anzustreben, wird als Ausdruck einer politischen Schwäche interpretiert, die den Schaden, der im Streit zwischen Seehofer und Merkel auf die Spitze getrieben wurde, auf ihre Person fokussiert. Merkels Bedeutung für die Hegemonie Deutschlands in der EU wird auf den Vorwurf reduziert, die eigene Bevölkerung ihr nicht zuträglichen Interessen geopfert zu haben. Die Öffnung der Landesgrenze für flüchtende Menschen hatte als demonstratives Insistieren des EU-Hegemons aktiver Anspruch auf Zuständigkeit in der Sache jedoch nur kurze Zeit Bestand. In Sachen Flüchtlingsabwehr besteht kein Dissenz zwischen Merkel und Seehofer, nur hat die Kanzlerin die Bedeutung einer supranationalen Abstimmung der Flüchtlingspolitik auf EU-Ebene betont, während Seehofer symbolpolitisch auf die Souveränität einer Grenzsicherung besteht, die ganz bestimmte Gruppen notleidender Menschen ausschließen soll, weil sie in Europa aufgrund des Schengen-Abkommen und der Arbeitsfreizügigkeit in der EU längst nicht mehr existiert.

Vom Projekt eines deutschen Europa, von dem sich der Bundesinnenminister scheinbar distanziert, wenn er Bayern und die Bundesrepublik als durch auf EU-Ebene geltend gemachte Sachzwänge bedroht darstellt, haben Teile der Bevölkerung hierzulande jedoch erheblich profitiert. Die hohe Produktivität der deutschen Industrie hat den europäischen Binnenmarkt mit Hilfe des Euro kannibalisiert, indem den eigenen Erwerbstätigen Lohnzurückhaltung abverlangt wurde. Das klassische neoliberale Argument, daß das steigende Wasser alle Boote in die Höhe treibe, hat niemals gestimmt, aber wer wollte in einer derart von Wettbewerb und Konkurrenz bestimmten Gesellschaft schon zum Klassenkampf zurück. Merkels Eintreten für die europäische Integration auf Basis des von ihr durchgesetzten Lissabon-Vertrages hat in dieser Hinsicht Wunder gewirkt. Nun wurde mit dem Finger nach Brüssel gezeigt, wo angeblich eine Transferunion entstand, die den Deutschen die wohlverdiente Butter vom Brot nehmen sollte, anstatt die Kapitalmacht im eigenen Land anzugreifen. Indem die Kanzlerin dem deutschen Imperialismus im Feldblau der Europäischen Union die Sporen gab und sich zugleich als Sachwalterin eines liberalen Führungsstiles inszenierte, schuf sie beste Voraussetzungen dafür, die erheblichen Klassenwidersprüche in Deutschland wie der EU unter den Teppich nationaler Identität zu kehren oder als schuldhaftes Vergehen des jeweils anderen Hungerleiders zu adressieren.

Ihr schrittweiser Rückzug macht die "Merkel muß weg"-Rufe der Neuen Rechten auch in den Kreisen der Unionschristen salonfähig. Als ob die Bundeskanzlerin mit FDJ-Vergangenheit tatsächlich links und sozialdemokratisch gesonnen wäre arbeiten sie sich am Popanz eines Verdachtes ab, der vor allem die Sehnsucht nach dem starken Staat verkörpert. Ungebrochener Neoliberalismus und unternehmerische Logik für alle Probleme gesellschaftlicher Regulation, massive Aufrüstung der Bundeswehr, Schwächung der Gewerkschaften, langjährige Lohnstagnation, neokolonialistische Freihandelsabkommen und eine Klimapolitik, die fast immer nationale Standortpolitik über gemeinsames Handeln auf globaler Ebene stellt, sind Markenzeichen einer Regierungspolitik, der gegenüber sich sogar die SPD noch als links profilieren kann. Merkel dennoch als Abweichlerin vom nationalkonservativen Kurs der alten Union zu brandmarken kann denn auch nur heißen, einem um so autoritärer und imperialistischer auftretenden Deutschland Raum zu geben.

Dafür stehen vor allem zwei mögliche Erben ihrer Kanzlerschaft, Jens Spahn und Friedrich Merz. Während Annegret Kramp-Karrenbauer aufgrund ihres Merkel-light-Appeals schon jetzt als Übergangskandidatin erscheint, verkörpern Merz und Spahn eine parlamentarische Rechte, die der aufstrebenden AfD tatsächlich das Wasser abgraben könnte. Dennoch würden sie kaum in den Chor einer EU-Gegnerschaft einstimmen, die das von Merkel gelegte Fundament des deutschen Europa zugunsten einer Rückkehr zu früheren Formen nationalstaatlicher Konkurrenz aufsprengte. Ganz im Gegenteil, für diese EU steht die Formierung eines schlagkräftigen Staatenbundes an, der seine inneren Widersprüche erfolgreich nach außen, auf das Schlachtfeld des globalen Hauens und Stechens um verbliebene Ressourcen, projiziert.

Insbesondere der Transatlantiker Merz - langjähriger Vorsitzender der Atlantik-Brücke, Deutschlandchef des größten Kapitalverwalters und -investoren der Welt, Blackrock, sowie mit Sitz und Stimme in zahlreichen Aufsichtsräten und Vorständen großer deutscher Unternehmen vertreten - empfiehlt sich als Sachwalter einer EU, die ihre Stärke in traditioneller Westbindung und als Juniorpartner der globalen Führungsmacht USA ansiedelte. Zwar wird die Feindschaft zwischen Merz und Merkel bei jedem Bericht über den Kandidaten für den Parteivorsitz der CDU erwähnt, aber in Hinsicht auf die Kontinuität einer deutschen EU-Hegemonie, die sich über das Bündnis mit den USA globalstrategisch rückversichert, liegen beide auf einer Linie.

In Anbetracht der seit 2008 anhaltenden Krise des Kapitals und künftiger Katastrophen sozialökologischer Art käme der nationalkonservativen Leitkultur, die Merz propagiert, der Rang einer Staatsideologie zu, die den anwachsenden Nationalchauvinismus herrschaftsstrategisch produktiv machte. Die im Vorfeld der Wahl zum CDU-Parteivorsitz aufgezeigten Feindschaften und Konflikte mögen den Theaterdonner der politischen Bühnenshow mit einem ordentlichen Wumms versehen, für die Leitlinien eines Krisenmanagements, das vor diktatorischen und kriegerischen Ermächtigungsschritten nicht zurückschrecken wird, sind sie fahle Erinnerungen an eine parlamentarische Scharade von begrenzter Haltbarkeit. Was Merkel einst mit "Durchregieren" gemeint hat, ist für die Zukunft der auf ihrem Vermächtnis aufsattelnden Union Handlungsmaxime und Bekenntnis in einem.

31. Oktober 2018


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