Wir befinden uns in einem globalen Kampf um Erinnerung. Die
Frage lautet, ob die europäische Unschuldsgeschichte überlebt. Oder
ob wir eine andere Geschichte erzählen. Eine, wie W.E.B. Dubois, Aimé
Cesaire oder Walter Benjamin sie zu erzählen versuchten. Eine, die
den europäischen Faschismus als Kehrseite des europäischen
Zivilisationsprojekts versteht. Als ein Projekt, dem das vernichtende
Element stets inhärent war.
Naomi Klein im Interview mit FR vom 11. Januar 2024
Wenn alle großen politischen Parteien in die Mitte, also nach rechts,
streben, dann gilt für den Staat nichts anderes. Mit Ausrufung einer
"Zeitenwende", deren strategische Leitlinien längst in den Schubladen
der Regierungsbürokratie lagen, bevor Russland im Februar 2022 die
Ukraine überfiel, nimmt die hegemonialpolitisch bestimmte Gangart
Deutschlands an Härte zu. Wo die Militarisierung der Gesellschaft und
die Vorbereitung des Landes auf den nächsten Krieg um Vorherrschaft
in Europa stramm den Ton angeben, werden auch nicht eigens im
Grundgesetz niedergelegte Staatszwecke dem unbeirrbaren Tritt des
Tambourmajors unterworfen. Exemplarisch für die weitreichenden
Folgen, die jenseits demokratischer Willensbildung gefasste
Entscheidungen haben können, ist die von Angela Merkel 2008 in einer
Rede vor der Knesset geäußerte Zusicherung, dass die Sicherheit des
Nationalstaats Israel zur deutschen Staatsräson gehöre, also für
keine Bundesregierung verhandelbar sei.
Das von der Hamas und anderen palästinensischen Akteuren beim Ausbruch aus dem Gazastreifen am 7. Oktober 2023 angerichtete Massaker an israelischen ZivilistInnen und SoldatInnen nahm mithin von Anfang an eine Sonderstellung unter den Schäden ein, für deren Entstehung der deutsche Staat und seine Wirtschaft mitverantwortlich sind. Waffenlieferungen, Kapitalinvestitionen, Wirtschaftssanktionen, die politische Unterstützung autokratischer Regimes, die Zerstörung von Natur und Klima, die aus den hohen Gewinnen transnationaler Unternehmen mit Sitz in Deutschland zu Lasten anderer Bevölkerungen herausgerechnet wird - fast nichts davon wird als nationale Schuld wahrgenommen, geschweige denn anerkannt. Hätte die von der Ex-Bundeskanzlerin in Anspruch genommene historische Verantwortung für die Vernichtung des europäischen Judentums durch Hitlerdeutschland für die Kolonialgeschichte des Deutschen Reiches wie die vielen Kriegsverbrechen von Wehrmacht und SS insbesondere in Ost- und Südeuropa einen nur annähernd analogen Stellenwert in den Staatszielen Deutschlands erhalten, dann wäre dies den außenpolitischen Entscheidungen Berlins deutlich anzumerken.
Während die systematische Massenvernichtung jüdischer Menschen in den Vernichtungslagern des NS-Regimes zweifellos eine historische Spitzenstellung einnimmt, was organisierte Gewaltanwendung in staatlichem Auftrag betrifft, bedeutet die Anerkennung dieser Singularität nicht, alle anderen genozidalen Verbrechen vernachlässigen zu müssen. Wo Staaten zu gruppenbezogener Gewalt mit dem Ziel der totalen oder teilweisen Auslöschung einer national, ethnisch, religiös definierten oder rassifizierten Bevölkerung und ihrer Kultur greifen, verstoßen sie gegen die Genozidkonvention von 1948. Die Bedeutsamkeit dieses von dem Juristen Raphael Lemkin anhand der Vernichtung und Verfolgung der Armenier im Osmanischen Reich von 1915 bis 1923 - auch daran war das Deutsche Reich beteiligt - entwickelten und insbesondere für die juristische Verfolgung der TäterInnen des Holocausts, dem fast die gesamte Familie des polnisch-jüdischen Anwalts zum Opfer fiel, gedachten Begriffs für das internationale Recht ist diesem beispiellosen Verbrechen geschuldet.
So löste die Ermordung und Entführung von 384 SoldatInnen und 815 ZivilistInnen wie die Geiselnahme von 251 Personen große Erschütterung und tiefe Anteilnahme weltweit aus, handelte es sich doch um das blutigste Ereignis seit dem Zweiten Weltkrieg, von dem vor allem jüdische Menschen betroffen waren. Es war angesichts der stets höchst asymmetrisch verlaufenden Kriege Israels gegen Gaza absehbar und lag wohl auch im Kalkül der Täter, dass dieses Massaker eine umfassende Reaktion der israelischen Regierung auslösen würde. Während es die Hamas und ihre Verbündeten mit diesem Gewaltakt geschafft hatten, Palästina wieder auf die Tagesordnung der Weltgemeinschaft zu setzen und die an ihnen vorbei verhandelte Verbesserung der Beziehungen Israels mit arabischen Staaten zu torpedieren, setzten sie die Bevölkerung Gazas einer Bedrohung aus, die seit 14 Monaten nicht nur in den Augen des Internationalen Gerichtshofs (IGH) Charakteristika eines Genozids aufweist.
Während der IGH im Januar 2024 lediglich vorläufige Maßnahmen anordnete und kein Urteil über den Sachverhalt des von Südafrika eingeleiteten Verfahrens gegen Israel wegen Verstoßes gegen die Genozidkonvention traf, dabei allerdings die Plausibilität des Vorwurfs anerkannte, sind inzwischen zahlreiche JuristInnen, AktivistInnen und PolitikerInnen dazu übergegangen, einen Genozid ohne Anführungsstriche anlässlich des mit dem Recht auf Selbstverteidigung immer weniger zu begründenden Ausmaßes der Zerstörungen und Todesopfer in Gaza zu attestieren. Sie berufen sich dabei zum einen auf zahlreiche Äußerungen israelischer RegierungspolitikerInnen, die die Absicht dokumentieren, alle in Gaza lebenden Menschen kollektiv zu bestrafen und auf ihre zumindest teilweise Vertreibung aus dem kleinen Küstenstreifen als auch eine israelische Wiederbesiedlung hinzuarbeiten. Zum andern wird der Vorwurf des Genozids damit begründet, dass die israelischen Streitkräfte in den vergangenen 14 Monaten nicht nur Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen haben sollen, so der Inhalt der gegen den israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu, den ehemaligen Verteidigungsminister Joaw Galant und den mutmaßlich bereits getöteten Hamas-Führer Mohammed Deif ergangenen Haftbefehle des Internationalen Strafgerichtshofes (IStGH), sondern dass die dabei freigesetzte Zerstörungsgewalt die konsequente Umsetzung einer initialen Absicht darstellt. Letzteres muss nicht der Fall sein bei Mittäterschaft, wie frühere Urteile in internationalen Rechtsverfahren belegen, die Haftstrafen wegen der bloßen Beteiligung an genozidalen Verbrechen verhängten, und könnte theoretisch die Waffenlieferungen aus den USA und Deutschland an Israel zum Gegenstand von Ermittlungen machen.
Unerwünscht, aber unvermeidlich - palästinasolidarische
Demonstration in Köln
Videostill: © 2024 by Brandfilme
Berufen können sich die KritikerInnen der Kriegführung Israels auf diverse Studien, Untersuchungen und Investigativrecherchen von Menschenrechtsorganisationen, UN-Institutionen, AkademikerInnen und JournalistInnen, die Israel wenn nicht Genozid, dann Kriegsverbrechen wie ethnische Säuberungen anlasten und dies mit umfassendem Datenmaterial dokumentieren. Die UN-Sonderberichterstatterin für die besetzten Gebiete Palästinas, Francesca Albanese, legte im März 2024 dem Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen in Genf ihren Bericht "Anatomy of a Genocide" vor, laut dem Israel sich beim Angriff auf Gaza zumindest drei der in der Genozidkonvention aufgeführten Tatbestände schuldig gemacht habe.
"A Cartography of Genocide" ist der Titel des 827seitigen Reports der am Goldsmith-College in London angesiedelten Recherchegruppe Forensic Architecture. Die häufig von ihrem Gründer und Leiter, dem Architekturprofessor Eyal Weizman, repräsentierten GeowissenschaftlerInnen machen nicht nur hochaufgelöste Daten zur israelischen Kriegführung in Gaza öffentlich zugängig, sondern visualisieren auch den Stand der Zerstörung in einer interaktiven Landkarte gleichen Namens. Auf ihr können anhand einer regelmäßig aktualisierten Zeitleiste verschiedene Vektoren ins Bild gesetzt werden, anhand derer sich zeigt, wie planmäßig Israel Gaza in eine lebensfeindliche Trümmerwüste verwandelt hat.
Die systematische Elimination aller Voraussetzungen dafür, in dem hermetisch durch tödliche israelische Grenzanlagen abgeschlossenen, weitgehend urbanisierten Gebiet von 365 Quadratkilometern - zum Vergleich: das historische Ost-Berlin umfasste 403 Quadratkilometer - ein halbwegs normales gesellschaftliches Leben vollkommen unmöglich zu machen, zeigt sich desto deutlicher, je länger der Krieg dauert. 90 Prozent der Bevölkerung wurden, nicht selten mehrfach, vertrieben, dabei verfolgt Israel die Strategie, die mittlerweile 84 Prozent des Gebiets betreffenden Evakuierungsorder durch den Beschuss und die Bombardierung als sicher ausgewiesene Zonen de facto für ungültig zu erklären. Auch von direkten Angriffen auf die Flüchtenden wurde berichtet, was schlussendlich die Gewissheit unter den Betroffenen zementiert, dass kein Ort in Gaza sicher ist.
Forensic Architecture belegt auch den systematischen Charakter der Aushungerung der Bevölkerung Gazas - 70 Prozent der landwirtschaftlichen Flächen und 45 Prozent aller Gewächshäuser zerstört, über 300 militärische Angriffe auf Hilfskonvois und Orte der Lebensmittelverteilung, und das bei permanenter Unterversorgung des ohne Nahrungsmittelimporte nicht überlebensfähigen Gebietes. 74 Prozent der zivilen Infrastruktur Gazas wurden zerstört - Schulen, Universitäten, Krankenhäuser und andere medizinische Einrichtungen, Regierungsgebäude, religiöse Institutionen und Orte des kulturellen Gedächtnisses.
Dabei wurden unterschiedlichen Quellen zufolge bis zu 190 JournalistInnen, 340 MitarbeiterInnen von Hilfsorganisationen wie UNRWA, mehr als 1000 ÄrztInnen und PflegerInnen getötet. Über 45.000 PalästinenserInnen wurden in Gaza insgesamt getötet, darunter 17.500 Kinder, wobei von einer weit höheren Dunkelziffer unter den Trümmerbergen verborgener Toter ausgegangen wird. Laut WHO verfügt Gaza pro Kopf der Bevölkerung über die höchste Zahl von Kindern, denen mindestens eine Extremität amputiert wurde, wobei dies häufig ohne Betäubung erfolgt ist, weil der Nachschub an Medikamenten nicht ausreicht. Mehr als 10.000 KrebspatientInnen, die dringend behandelt werden müssten, warten in Gaza darauf, dass ihnen die Grenze geöffnet wird.
Der im Westjordanland immer aggressiver auftretende Siedlerkolonialismus - zahlreiche SiedlerInnen gehören selbst den Israel Defense Forces (IDF) an und wären rechtlich eigentlich dazu verpflichtet, Angriffen auf die palästinensische Bevölkerung Einhalt zu gebieten - hat seit Kriegsbeginn rund 800 Todesopfer zur Folge, darunter 170 Kinder. Was zuvor ein international beachteter Krieg eigener Art gewesen wäre, verläuft heute im Schatten größerer Katastrophen praktisch unbemerkt. Für das Vorhaben expansiver Besiedlung gibt es kaum eine bessere Gelegenheit, als sie im Rahmen einer permanenten, immer mehr Nachbarländer Israels betreffenden Eskalation durchzusetzen.
Die Bodenoffensive der IDF in Gaza hat inzwischen zum Ergebnis, dass mehr als ein Drittel des Territoriums durch Abstandszonen an den Grenzanlagen und Militärstützpunkten, durch für israelische Truppen reservierte Straßen, den von ihnen besetzten Philadelphi-Korridor an der Südgrenze zu Ägypten und den Netzarim-Korridor, der den Norden um Gaza-Stadt vom Süden abtrennt, praktisch dem Zugang der PalästineserInnen entzogen wurde.
Die sich dem Evakuierungsbefehl der IDF widersetzende Bevölkerung im Norden Gazas wird von den Vereinten Nationen auf 65.000 bis 75.000 Menschen geschätzt. Seit Anfang Oktober ist insbesondere die Stadt Beit Lahiya permanenten Angriffen ausgesetzt. Die Menschen haben fast nichts zu essen und trinken, es gibt kaum noch medizinische Hilfe, die von verwesenden Leichen kontaminierte Trümmerwüste ist derart zerstört, dass selbst Einheimischen die Orientierung schwerfällt. Auf den Straßen droht nicht nur konventioneller Beschuss, sondern mit Maschinenwaffen versehene Quadcopter sind auf Menschenjagd, während es immer wieder zu Angriffen auf Wohnhäuser kommt, denen ganze Familien zum Opfer fallen.
Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW) wirft Israel anlässlich ihres Mitte November veröffentlichten, 154 Seiten starken Berichts "Hopeless, Starving, and Besieged: Israels Forced Displacement of Palestinians in Gaza" Verbrechen gegen die Menschlichkeit vor. Bei der Präsentation des Reports erklärte seine Hauptautorin Nadia Hardman: "Die israelische Regierung kann nicht behaupten, das Leben von Palästinensern zu schützen, wenn sie diese gleichzeitig auf den Fluchtrouten tötet, sogenannte Sicherheitszonen bombardiert und den Zugang zu Nahrungsmitteln, Wasser und sanitärer Versorgung unterbricht."
Amnesty International (AI) und Medico International erheben regelmäßig Forderungen an die Adresse Israels, seinen Menschenrechtsverpflichtungen nachzukommen, wobei zumindest auf der englischsprachigen AI-Seite angesichts der Situation im Norden Gazas klar ausgesprochen wird, dass Israel trotz des vom IStGH zu Jahresbeginn ausgesprochenen Verdachts auf Genozid den vom Gericht angeordneten Maßnahmen in keiner Weise nachgekommen ist. Während die Stellungnahmen von HRW und AI etwa in den jugoslawischen Sezessionskriegen häufig Anlass zu spektakulären Überschriften in deutschen Medien gaben, bleiben diese in Sachen Israel und Palästina eher zurückhaltend. Schon der 2021 durch HRW und 2022 durch AI bekräftigten Aussage, dass die Besatzungspolitik Israels den Tatbestand eines Apartheid-Regimes erfüllt, wurde in der Bundesrepublik nur wenig Aufmerksamkeit zuteil.
Auch israelische Menschenrechtsorganisationen wie B'Tselem oder Addameer nehmen kein Blatt vor den Mund, wenn es um die Anprangerung menschenrechtswidriger Praktiken der israelischen Regierung und Streitkräfte geht. Beide Akteure sind insbesondere in der Gefangenenhilfe aktiv. So hat B'Tselem mit dem Report "Welcome to Hell" Zeugnis von den Folterungen abgelegt, die PalästinenserInnen in israelischer Haft nicht erst, aber besonders seit Kriegsbeginn zu erleiden haben. Addameer bestätigt die Existenz von 10.200 palästinensischen politischen Gefangenen, darunter 270 Kinder und 3443 von Administrativhaft betroffene Insassen, deren zeitlich unabsehbarer Freiheitsentzug außerhalb rechtsstaatlicher Prozeduren erfolgt. Dabei von Geiseln zu sprechen fiele hierzulande kaum jemandem ein, zumal derartige Nachrichten meist unterhalb der Wahrnehmungsschwelle großer deutscher Medien bleiben. Umso mehr bleiben die Berichte palästinensischer Menschenrechtsorganisationen wie die des Palestinian Center for Human Rights (PCHR) ungenannt. Deutsche JournalistInnen zitieren zwar ohne Quellenangabe Informationen der IDF, sind aber dennoch bedacht darauf, Daten aus palästinensischer Hand als unüberprüfbar zu markieren.
Bislang ein leeres Versprechen - Mahnmal mit Text der UN-Resolution 194 von 1948 in Jenin
Foto: © 2013 by Sabine Werner
In den Medien der BRD war es eine Art running gag, sich über diejenigen Teile der DDR, die kein Westfernsehen empfangen konnten, als "Tal der Ahnungslosen" lustig zu machen. Entsprechendes könnte heute von ganz Deutschland behauptet werden, zumindest was die Berichterstattung über das von Israel besetzte Palästina betrifft. So ist hierzulande nur wenigen Menschen der Name Hind Rajab bekannt. Das Auto, in dem die fünfjährige Hind saß, war bei der Flucht aus Gaza-Stadt im Januar 2024 unter Beschuss geraten. Onkel, Tante und drei derer Kinder starben sofort, während es Hinds 15jähriger Kusine Layan Hamadeh noch gelang, telefonisch mit dem Palästinensischen Roten Kreuz Kontakt aufzunehmen. Während des Gespräches wurde sie von einem vorbeifahrenden Panzer unter lauten Schreien erschossen, so dass sich Hind als einzige Überlebende in dem Kia befand.
Die Kontaktperson vom Roten Kreuz, die daraufhin wieder anrief, sprach drei Stunden lang mit der verängstigten Hind und wies sie an, sich im Fahrzeug zu verstecken, bis Rettung eintreffe. Zwei palästinensische Mitarbeiter wurden nach Absprache mit den IDF in einem Krankentransporter losgeschickt, um Hind zu bergen, doch alle drei blieben zwölf Tage lang verschollen. Nach dem Abzug der israelischen Truppen wurde schließlich das von Kugeln durchsiebte Auto mit den Leichen Hinds und ihrer Verwandten entdeckt, unweit davon befand sich der ebenfalls völlig zerstörte Krankenwagen mit den zwei toten Fahrern. Laut der Untersuchung von Forensic Architecture hatte die Besatzung des Panzers trotz freier Sicht auf das Fahrzeug und seine Insassen 335 Schuss Maschinengewehrmunition verfeuert. Auch die zur Hilfe eilende Ambulanz soll dem Beschuss durch einen Panzer zum Opfer gefallen sein.
Diese Geschichte machte nach der Veröffentlichung der Telefonmitschnitte im Februar weltweit Schlagzeilen und wurde in sozialen Netzwerken vieltausendfach kommentiert. Die AktivistInnen der Palästina-Solidaritätsbewegung benannten das traditionsreiche Gebäude Hamilton Hall an der Columbia University in New York City im Rahmen der landesweiten Campusbesetzungen in "Hind's Hall" um, getreu der Tradition früherer Protestbewegungen, die Hamilton Hall 1972 als Zeichen des Widerstands gegen den Vietnamkrieg und 1985 gegen die Apartheidpolitik Südafrikas für besetzt erklärt hatten. Der damals vergebene Name "Mandela Hall" erinnert daran, dass der Befreiungskämpfer ein großer Unterstützer des palästinensischen Kampfes war. So erklärt er 1997 am Internationalen Tag der Solidarität mit Palästina: "Wir wissen sehr genau, dass unsere Freiheit unvollständig ist ohne die Freiheit der Palästinenser."
Weitgehend unbekannt geblieben ist hierzulande auch der Name Aaron Bushnell. Der 25jährige sozial engagierte Soldat der US Air Force hatte sich am 25. Februar dieses Jahres, vor der israelischen Botschaft in Washington D.C. stehend, angezündet. Auf dem Weg zu seiner Selbstverbrennung, den er in einem Livestream übertrug, erklärte Bushnell: "Ich stehe im aktiven Dienst der United States Air Force und will nicht länger mitschuldig am Genozid sein. Ich habe vor, einen extremen Akt des Protestes zu verüben. Das ist jedoch verglichen mit dem, was die Menschen in Palästina durch die Hände der Kolonisatoren erleben mussten, keineswegs extrem. Das ist die Normalität, für die sich unsere herrschende Klasse entschieden hat."
Als seine "Free Palestine"-Rufe verstummten und der brennende Bushnell zu Boden ging, hielt ein Sicherheitsbeamter so lange die Waffe auf ihn gerichtet, bis ihn ein Helfer anschrie, nicht auf ihn zu schießen, sondern einen Feuerlöscher zu holen. Das Ereignis wurde weltweit wahrgenommen und ausführlich kommentiert, nur in Deutschland sollte nicht darüber nachgedacht werden, wie ein offensichtlich verantwortungsbewusster junger Mensch darauf kommen konnte, sein Leben für einen freiwilligen Akt des Widerstands zu geben. Allein die beispielhafte News Show des US-Fernsehkanals Democracy Now, die ausführlich über Bushnells Schritt berichtet hatte, vermittelte in zehn Minuten und anschließenden Interviews mehr und umfassendere Informationen über diesen Krieg als manch deutscher Radio- oder TV-Sender mit weit größerem Personal in einer ganzen Woche.
Vor allem kommen dort die direkt Betroffenen, seien es von Polizeigewalt betroffene Schwarze, an der militärisch befestigten US-Südgrenze gestrandete MigrantInnen, aufgrund ihres Eintretens für den Erhalt der Wälder angegriffene Indigene oder am Rande des Todes stehende PalästinenserInnen, ausführlich und regelmäßig zu Wort. In Deutschland hingegen sind sich JournalistInnen einig darin, etwa in der viel Raum einnehmenden Debatte um Flüchtende keinesfalls diejenigen unverschnitten sprechen zu lassen oder gar in die Talkrunde einzuladen, die aus erster Hand Bericht erstatten könnten, sondern über ihre Köpfe hinweg die Festung Europa auszubauen. Das ist kein Problem von Sprachkenntnissen, heute sind die Möglichkeiten einer schnellen Übersetzung auch in Live-Situationen so weit entwickelt, dass es sich dabei um eine durchsichtige Ausrede handelt.
Informationen über die Folgen der Angriffe Israels auf Gaza sind im World Wide Web frei verfügbar, so etwa die herausragende Berichterstattung des +972-Magazins, dessen ReporterInnen in den Kriegsgebieten arbeiten oder Investigativrecherchen in Israel durchführen. Die dort veröffentlichten Artikel des Journalisten Yuval Abraham über die verheerende Bilanz der AI-gestützten Zielauswahl bei Bombenangriffen der IDF auf Gaza haben weltweit für Aufsehen gesorgt und werden bis heute herangezogen, wenn es um militärische Analysen der Kriegführung Israels geht.
Warum davon so wenig für das deutsche Publikum übernommen wurde? Bei dem Israeli Yuval Abraham handelt es sich um jenen Filmemacher, der mit dem palästinensischen Co-Regisseur Basel Adra im Februar 2024 auf der Bühne der Berlinale den Preis für ihren Film "No Other Land" entgegennahm. Darin wird der zivile Widerstand gegen die Gewalt israelischer SiedlerInnen aus eigenem Erleben heraus dokumentiert. Indem Abraham in seiner spontanen Dankesrede die militärische Besatzung, unter der PalästinenserInnen im Westjordanland leiden, unter Applaus des Publikums als Apartheid bezeichnete, löste er einen veritablen Antisemitismusskandal aus. Die anwesende Kulturbeauftragte des Bundes, Claudia Roth, gab später zu Protokoll, ihr Applaus habe ausschließlich dem jüdisch-israelischen Filmemacher gegolten, nicht seinem palästinensischen Kollegen. Sie bestätigte damit praktisch die Klage Abrahams, trotz räumlicher Nähe zu Adra durch den völlig anderen Rechtsstatus, den er als Israeli im Unterschied zu ihm genieße, Welten von seinem Kollegen getrennt zu sein.
Auch die traditionsreiche Haaretz, mit ihrer Gründung 1918 älteste Tageszeitung Israels, wird in der Bundesrepublik nur gelegentlich zitiert, obwohl ihre englischsprachige Ausgabe umfassende Einblicke in israelische Debatten rund um den Krieg gewährt. Seit ihr Herausgeber Amos Schocken, dessen Familie die Zeitung seit 1935 in ihrem Besitz hat und Mehrheitsaktionär ist, Premierminister Netanjahu Ende Oktober dafür kritisierte, ein Apartheid-Regime über die palästinensische Bevölkerung verhängt zu haben und "palästinensische Freiheitskämpfer" als "Terroristen" zu bezeichnen, wird Haaretz von der Regierung trotz Entschuldigung Schockens boykottiert. Das sind nur wenige Beispiele für die insbesondere in den USA, dem Land mit der größten jüdischen Bevölkerung außerhalb Israels und einer nennenswerten palästinensischen Community, reichhaltige Medienlandschaft, die sich kritisch und häufig aus entschieden linker Sicht mit Israels Besatzungspolitik und Kriegführung auseinandersetzt.
Von den vielen signifikanten Entwicklungen, die seit dem 7. Oktober 2023 Millionen von Menschen bewegen und zu den größten Straßenprotesten gegen einen Krieg seit den Demonstrationen gegen den bevorstehenden US-Angriff auf den Irak 2003 führten, ist die Bevölkerung der Bundesrepublik bis auf eigens an widerständigem Aktivismus interessierte Kreise weitgehend verschont geblieben. Vermutlich soll es gar nicht erst so weit kommen, dass das Entsetzen einer wachsenden Zahl von Menschen angesichts der Vorgänge in Gaza und darüber hinaus in offenen Protest umschlägt, soll doch die Bundesrepublik auch weiterhin ein Land der Ahnungslosen bleiben.
Alltag der Besatzungspolitik - Graffiti an der Sperrmauer im
Westjordanland
Foto: © 2013 by Sabine Werner
Das könnte jedoch aus mehreren Gründen schiefgehen, häufen sich mit anhaltender Dauer der humanitären Katastrophe in Gaza doch die Ereignisse, die die fortgesetzte Rechtfertigung des militärischen Vorgehens Israels durch die Bundesregierung als politische Willkür erscheinen lassen. So hat die Verfügbarkeit praktisch ungefilterter Informationen in Bild, Ton und Text aus dem Krieg dazu geführt, dass inzwischen vom ersten live übertragenen Genozid der Geschichte die Rede ist. Das ist nicht nur Polemik, sondern beschreibt die emotionale Wucht einer Bildproduktion von schonungsloser Direktheit.
Die audiovisuelle Qualität der meist mit Smartphones aufgenommenen Bilder von Menschen in abgerissener Kleidung, die zwischen Schuttbergen herumstolpern und sich offensichtlich in einem elenden Zustand befinden, den Einschlägen von Bomben in nur einige Dutzend Meter entfernte Häuser, die mit dröhnendem Krachen inmitten einer sich schnell ausbreitenden Staubwolke in sich zusammenstürzen, von nichtsahnenden Personen, die eine ländliche Straße entlanggehen und von einem Augenblick auf den anderen durch eine Drohne zerfetzt werden, von halb verhungerten oder mit Kopfschuss getöteten Kindern, von verzweifelten Angehörigen, die nach einem Bombenangriff vom Tod des größten Teils ihrer Familie erfahren, von einem Gang durch ein Haus, in dem zahlreiche Leichen liegen, die einem Massaker zum Opfer gefallen zu sein scheinen, mag unscharf und wacklig sein - jedoch können diese Bilder das Gefühl einer tiefen Bedrohung auslösen, von der jeder Mensch instinktiv weiß, dass es keine wirklich sichere Distanz zu ihr gibt.
Dass die in fast jedem schrecklichen Detail reproduzierbare Grausamkeit dieses Krieges in eine Art von kognitiver Dissonanz umschlägt, könnte neben der Ausweitung des Konflikts auf einen Flächenbrand in Westasien das vielleicht folgenreichste Ergebnis dieser Auseinandersetzung um das Recht der PalästinenserInnen auf Selbstbestimmung und Eigenstaatlichkeit sein. Zu wissen, dass an anderen Orten unter mittelbarer Beteiligung des eigenen Landes Fürchterliches geschieht, sich davon aber nicht in seinen eigenen alltäglichen Pflichten und Interessen irritieren zu lassen, bedarf systematisch induzierter und zugleich moralisch integrer Ignoranz. Eine solch große, beunruhigende Widersprüche beschwichtigende Klammer zur Stärkung der Akzeptanz dieses Krieges in Deutschland zu schaffen, wurde im Bundestag mit zweifelhaftem Erfolg versucht.
Angesichts dieser Schrecken bürgerliche Konformität und subjektives Wohlbefinden zu kultivieren, ist insbesondere Jugendlichen nicht ohne weiteres gegeben. Es ist die Folgenlosigkeit gezielt und systematisch begangener Tötungs- und Zerstörungshandlungen, die es ihnen insbesondere bei selbst erlebten Einschüchterungen und Einschränkungen durch administrative Gewaltanwendung schwerfallen lässt, an die Funktionsfähigkeit des demokratischen Rechtsstaates zu glauben. Es ist die Fassungslosigkeit über die offenkundige Straflosigkeit zum Himmel schreiender Taten, die in der vergleichbaren Situation des Angriffs Russlands auf die Ukraine ganz andere Konsequenzen zeitigen, die ihre Skepsis gegenüber den Lautsprechern des herrschenden Konsensmanagements steigert. Es ist das Gefühl, hinters Licht geführt zu werden, wenn EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen den unter russischen Angriffen auf ihre Energieinfrastruktur leidenden UkrainerInnen und ihren im Abwehrkampf gegen die vorrückenden Truppen des Kreml sterbenden SoldatInnen felsenfeste Solidarität versichert, um Israel gleichermaßen die ungeteilte Unterstützung der EU in diesem Krieg zuzusichern. Nach 14 Monaten Krieg, in dem mindestens 45.000 PalästinenserInnen getötet und Hunderttausende vertrieben, traumatisiert und verletzt wurden, fällt es allerdings schwer zu akzeptieren, dass Israel seitens der EU immer noch das Recht auf Selbstverteidigung gegenüber einer Aggression zugestanden wird, die nicht allein von der Hamas ausgehen soll, sondern für die die ihrer Aushungerung und Dezimierung ohnmächtig ausgelieferte Bevölkerung Gazas insgesamt in Haftung genommen wird.
Dieses Aufbrechen des schon aufgrund herrschender Klassenwidersprüche schwer herstellbaren gesellschaftlichen Zusammenhalts kann durch Maßnahmen staatlicher Ideologieproduktion wie des Verabschiedens einer Resolution zum Schutz jüdischen Lebens, die die Akzeptanz der unterstellten Identität des Staates Israels mit dem weltweiten Judentum praktisch zur Bedingung ihrer Durchsetzungskraft erhebt, nur weiteren Auftrieb erhalten. Der am 7. November 2024 durch die Abgeordneten der SPD, Unionsparteien, Grünen, FDP und AfD verabschiedete Antrag "Nie wieder ist jetzt: Jüdisches Leben in Deutschland schützen, bewahren und stärken" wurde in einem bei Angelegenheiten, die der Unterstützung Israels dienen, nie dagewesenen Ausmaß öffentlich kritisiert. In zahlreichen Pressekommentaren und Rundfunkbeiträgen wurde die Resolution schon im Vorfeld als Einschränkung der Meinungsfreiheit und Angriff auf die politische Autonomie von Kunst und Kultur bewertet. In der FAZ wurde ein alternativer Formulierungsvorschlag, der den Vorwurf des Antisemitismus bei Kritik des Staates Israel entkräftet, bis zum 6. November von fast 5000 Personen unterzeichnet.
Ohne Hilfswerk der Vereinten Nationen gibt es für Palästina-Flüchtlinge
im Nahen Osten (UNRWA) kein Ãœberleben
Foto: © 2013 by Sabine Werner
Während außer Frage steht, dass die organisierte Bekämpfung von Antisemitismus wie jedes Rassismus in einer pluralistisch verfassten Gesellschaft unabdinglich ist, zumal in einer Zeit, in der faschistoide Tendenzen weltweit auf dem Vormarsch sind, werden die Kriterien, anhand derer Antisemitismus festgestellt wird, in der Resolution auf eine Weise formuliert, dass von besagter Staatsräson abweichende Positionen, selbst wenn sie strafrechtlich und grundgesetzlich nicht zu beanstanden sind, repressiven Wirkungen aller Art ausgesetzt sein können.
Dies ist insbesondere auf den zur Grundlage der Resolution erhobenen Gehalt der Arbeitsdefinition der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) zurückzuführen. In der inzwischen breit entfalteten Debatte um den Inhalt dieser Definition wird von vielen Rechtsgelehrten die Ansicht vertreten, dass sie als Grundlage für eine wirksame Bekämpfung des Antisemitismus ungeeignet sei. Einem von 13 RechtswissenschaftlerInnen verfassten Text unter dem Titel: "Die Implementation der IHRA-Arbeitsdefinition Antisemitismus ins deutsche Recht - eine rechtliche Beurteilung", der am 18. Dezember 2023 auf dem Verfassungsblog veröffentlicht wurde, sind folgende sechs Punkte zum Zwecke einer schnellen Orientierung vorangestellt:
1. Die IHRA-Arbeitsdefinition ist ausdrücklich als nicht rechtsverbindlicher Text von der IHRA verabschiedet worden und auch nicht wie ein solcher formuliert. Sie dient dem Monitoring. Sie zum faktisch bindenden Text zu machen, geht gegen ihre Rechtsnatur. Sie ist viel zu unpräzise, um Rechtssicherheit zu erzeugen oder Behördenpraxis zu etablieren. Zudem ist der Status der elf Anwendungsbeispiele, die nicht zur Definition gehören, aber oft mit hinzugezogen werden, völlig unklar.
2. Die Annahme der IHRA-Arbeitsdefinition als Regulierungsinstrument würde teilweise weitreichende verfassungsrechtliche Verwerfungen erzeugen, die nicht überblickt werden können. Insbesondere ist eine darauf gestützte Behördenpraxis ganz unvorhersehbar. Erfahrungen aus Kontexten, in denen die IHRA-Arbeitsdefinition als Regulierungsinstrument diente, zeigen, dass sie für erhebliche Einschränkungen von Grundrechten genutzt wird sehr häufig auch gegen Juden, die die Politik der jeweiligen Regierung Israels kritisieren.
3. Eine Annahme der IHRA-Arbeitsdefinition würde Verstöße gegen höherrangiges Recht, insbesondere das Grundgesetz und die Europäische Menschenrechtskonvention, nach sich ziehen oder zumindest wahrscheinlich machen. Das betrifft insbesondere das Recht der freien Meinungsäußerung und seine Anwendungen etwa im Versammlungsrecht und im politischen Strafrecht. Es betrifft auch die Kunstfreiheit, für die die IHRA-Arbeitsdefinition nicht passt, sowie die Freiheit von Forschung und Lehre.
4. Die IHRA-Arbeitsdefinition zur prinzipiellen Grundlage von Förderungsrichtlinien zu machen, ist rechtlich problematisch. Offensichtlich ist das für die Forschungsförderung. Denn die Definition des Antisemitismus ist selbst Gegenstand der Wissenschaft; ihr kann eine bestimmte Definition nicht vorgeschrieben werden. Aber auch bei der Kunstfreiheit fragt sich, ab wann die Kunst nicht mehr frei ist (wie das Grundgesetz fordert), weil eine zu extensive Nutzung der IHRA-Arbeitsdefinition und eine Selbstzensur auch dort eingreifen, wo es die Bekämpfung von Antisemitismus nicht mehr erfordert. Schließlich kann die Meinungsfreiheit betroffen sein, wenn früher in anderem Kontext gemachte Aussagen in die Beurteilung der Förderwürdigkeit mit einbezogen werden.
5. Die IHRA-Definition ist für eine antidiskriminierungsrechtliche Bekämpfung von Antisemitismus nicht erforderlich; sie ist teilweise hinderlich für die wirksame Bekämpfung der Diskriminierung von Jüd:innen. Das Antidiskriminierungsrecht kennt keine vergleichbare staatliche Definition von Rassismus, Sexismus oder Homo- und Transphobie.
6. Im Aufenthalts- und Asylrecht würde die Implementierung der IHRA-Definition erhebliche Probleme schaffen und kann zu Konflikten mit der Genfer Flüchtlingskonvention führen, die enge Voraussetzungen stellt.
Am Fuße der Mauer
Foto: © 2013 by Sabine Werner
Die maßgebliche Gültigkeit der IHRA-Arbeitsdefinition wird in der Resolution, wie es im gemeinsamen Antrag der Fraktionen der SPD, CDU/CSU, Bündnis 90/Die Grünen und FDP vom 1. November heißt, bekräftigt: "Die Bundesregierung wird aufgefordert, sich gegenüber den Ländern und Kommunen dafür einzusetzen, dass sie entsprechende Regelungen implementieren und, sofern noch nicht geschehen, die IHRA-Antisemitismusdefinition als maßgeblich heranziehen." Die zahlreichen Einwände gegen ihre Verabschiedung haben nicht verhindern können, dass der Kampf gegen Antisemitismus auf parlamentarischer Ebene eine gesinnungspolitische Schieflage erhalten hat. Diese resultiert insbesondere daraus, dass die Resolution nicht rechtsverbindlich ist, dennoch mit Normen und Kriterien der Maßregelung öffentlich geäußerter Ansichten arbeitet, die praktische Auswirkungen wie den Entzug von Subventionen im Wissenschafts- und Kulturbereich, das Verhängen von Vereins- und Betätigungsverboten wie rechtliche Verschärfungen, die die Betätigungs- und Bewegungsfreiheit verschiedener gesellschaftlicher Gruppen betreffen, auslösen können.
Angesichts der Uneindeutigkeit dessen, was den Tatbestand des Antisemitismus laut der Resolution ausmacht, und der angeführten Beispiele - unter anderem wird der Auftritt von Yuval Abraham und Basel Adra auf der Berlinale als exemplarischer Akt von Antisemitismus angeführt -, eignet sich dieser parlamentarische Beschluss als Mittel zur Unterdrückung oppositioneller Stimmen, die sich gegen die Unterstützung Israels in diesem Krieg im Besonderen wie seiner Besatzungspolitik im Allgemeinen wenden. Die Abgeordneten berufen sich ausdrücklich auf den BDS-Beschluss des Bundestages von 2019, der ebenfalls keine Rechtsverbindlichkeit beansprucht, aber zur starken Einschränkung der Arbeit dieser am Boykott des Apartheidregimes in Südafrika orientierten Bewegung geführt hat.
Auch damals war in allerdings weniger breitem Ausmaß Einspruch gegen die Verabschiedung dieses Instruments der Delegitimierung einer zivilgesellschaftlichen Protestform mit Hilfe des Antisemitismusvorwurfes erhoben worden. So hatte der Professor an der Abteilung für Jüdische Geschichte und Modernes Judentum an der Hebräischen Universität Jerusalem, Amos Goldberg, im Einklang mit 240 AkademikerInnen kritisiert, dass der Beschluss an den politischen Interessen der Regierung Israels orientiert sei und den Antisemitismusvorwurf benutze, um deren Menschenrechtsverletzungen zu schützen. Goldberg lehnt auch die IHRA-Antisemitismusdefinition als repressives Mittel gegen Kritik an der israelischen Politik ab und schlägt an Stelle dessen wie viele andere die Jerusalemer Erklärung zum Antisemitismus als normative Grundlage vor. Sie wurde 2021 erklärtermaßen als Alternative zur IHRA-Arbeitsdefinition von 20 AkademikerInnen erarbeitet und von 359 KollegInnen unterzeichnet.
Während die nicht vorhandene Rechtsverbindlichkeit der am 7. November verabschiedeten Resolution auf den ersten Blick wie eine Minderung des regulatorischen Drucks erscheint, der aus beiden genannten Versuchen hervorgeht, das Attribut des "israelbezogenen" Antisemitismus im Verhältnis zu allgemein gültigeren Definitionen dieser Form rassistischer Feindseligkeit aufzuwerten, bewirkt die dadurch unmöglich gewordene verfassungsrechtliche Prüfung das glatte Gegenteil dessen. Die Frage, warum eine von mehr als 90 Prozent der Abgeordneten des Deutschen Bundestages, also von einer Mehrheit, die sogar Verfassungsänderungen beschließen könnte, getragene Erklärung zugunsten jüdischen Lebens in Deutschland nicht in ein wasserdichtes Gesetz gegossen, sondern der Unangreifbarkeit einer Meinungsbekundung des Parlaments überantwortet wurde, erklärt sich sicher auch dadurch, dass der Inhalt der Resolution einer verfassungsrechtlichen Überprüfung voraussichtlich nicht standgehalten hätte.
Auch jüdischen KritikerInnen der teilweise rechtsextremen Regierung Israels werden Steine in den Weg gelegt, die ihre persönliche Reputation und berufliche Existenz bedrohen können. Jüdischen Menschen gegenüber die am weitesten rechts stehende Regierung, die Israel jemals hatte, für sakrosankt zu erklären, kann zumindest in ihrem Fall nichts mit dem Kampf gegen Antisemitismus zu tun haben. Da ihre Bedrohung auf Demonstrationen vor allem von der deutschen Polizei ausgeht, ist es schon paradox, wenn diese selbst durch die Verfolgung des Antisemitismus geschützt werden muss.
So wird Berlins Polizeipräsidentin Barbara Slowik Meisel in Die Zeit vom 18. November 2024 mit der Aussage zitiert, dass es bei 6.200 Ermittlungen zum Thema Antisemitismus und Volksverhetzung in 1.300 Fällen um physische Gewaltanwendung ging, bei denen es sich "zumeist um Angriffe oder Widerstand gegen die Polizei bei Demonstrationen" handelte. "Gewaltdelikte" gegen jüdische Menschen fielen "glücklicherweise gering" aus, so Slowik Meisel an gleicher Stelle, nicht ohne zu betonen, dass "ohne Frage jede Tat eine zu viel ist".
Da es zahlreiche im Bild dokumentierte Beispiele für aggressives Eingreifen der Berliner Polizei in Proteste zwecks Verhinderung Israel betreffender Meinungsbekundungen gibt, deren antisemitischer Gehalt nicht ad hoc gegeben sein muss, um zu schmerzhaften Mitteln zu greifen, und das heutige Polizeirecht die Zugriffsgewalt der BeamtInnen sehr weitreichend zu deren Gunsten auslegt, verfügen nichtjüdische PolizistInnen über einen Rechtsschutz, der jüdischen AktivistInnen im Sinne des angestrebten Schutzes jüdischen Lebens nicht zugestanden wird.
Grenzübergang für Personenverkehr zwischen Westjordanland und
Israel
Fotos: © 2013 by Sabine Werner
Gewalt gegen Jüdinnen und Juden zu verhindern ist in jedem Fall erforderlich, Gleiches gilt für andere Minderheiten wie in Deutschland lebende PalästinenserInnen. Ihnen allerdings wird kein besonderer Schutz zugestanden, obwohl sie eine mittelbare Opfergruppe des von Deutschland begangenen Holocausts sind. Im Gegenteil, die Resolution fordert in einer alle MigrantInnen und AsylbewerberInnen gleichermaßen betreffenden Weise, "repressive Möglichkeiten konsequent auszuschöpfen", was "in besonderem Maße im Strafrecht sowie im Aufenthalts-, Asyl- und Staatsangehörigkeitsrecht" gelte. Damit werden in Deutschland lebende Menschen mit unsicherem Aufenthaltsstatus, die sich aus persönlicher Betroffenheit äußern wollen, etwa weil ihre Angehörigen in Gaza leben, wirksam eingeschüchtert.
Entsprechendes gilt für Gruppen aus dem linksradikalen Spektrum, die die Staatspraxis Israels deutlich kritisieren. Sie werden in der Resolution eines "vermehrt israelbezogenen und links-antiimperialistischen Antisemitismus" bezichtigt. Die Konsequenzen einer solchen Stigmatisierung von MigrantInnen und AsylbewerberInnen sowie der Reste einer staatskritischen Opposition, die sich machiavellistischen Manövern der Grundrechtseinschränkung und Ermächtigungspolitik nicht anschließen, sind beträchtlich. Wenn sich der Fokus der Antisemitismusbekämpfung in diese Richtung verschiebt, führt das zu einer Entlastung rechtsextremer Kreise, deren rassistische Feindseligkeit vor allem gegen nichtweiße Menschen aus dem Globalen Süden gerichtet ist. Besonders betroffen davon sind MuslimInnen, denen die rassistische Rechte anlastet, die Dominanz des weißen Europas durch den "Großen Austausch" brechen zu wollen. Der jüdische Staat hingegen wird bei vielen AktivistInnen aus dem rechtsextremen Spektrum längst als potentieller Verbündeter in diesem Kampf betrachtet.
Einen Blick auf die ideologische Schnittmenge zu werfen, die der Regierung Netanjahu die Unterstützung rechtsextremer Akteure in der EU verschafft, zeigt, wie sich das Schlagwort vom "importierten Antisemitismus" zu einer Generalformel der Minderung historischer Verantwortung der Bundesrepublik gegenüber jüdischen Menschen bei gleichzeitiger Stärkung restriktiver Maßnahmen in Sachen Flucht und Migration entwickelt hat. Fast alle im Bundestag vertretenen Parteien sind beteiligt an der Aushöhlung des Asylrechts und der Prekarisierung der Existenz in Deutschland lebender Menschen, die vor Krieg und Vertreibung, als Opfer sexistischer Gewalt oder der Klimakatastrophe aus ihren Herkunftsländern fliehen mussten.
Während die enge Freundschaft zwischen Israels Premierminister Benjamin Netanjahu und Ungarns Ministerpräsident Viktor Orban allgemein bekannt ist, findet das Engagement rechtsextremer Parteien in der EU wie des Rassemblement National, der Fratelli d'Italia oder der PVV von Geert Wilders im Kampf gegen Antisemitismus eher unter dem Radar öffentlicher Wahrnehmung statt. Selektive Praktiken der Antidiskriminierung, die nicht von allen Menschen unabhängig von nationaler Zugehörigkeit und ethnisch-religiöser Herkunft in Anspruch genommen werden können, eignen sich dazu, grundrechtlich legitimierten Minderheitenschutz als Vehikel zur Erwirtschaftung politischen Legitimationskapitals zweckzuentfremden. Gegen den Gleichheitsgrundsatz verstoßende Maßnahmen bedürfen denn auch einer Staatsräson, die eigens als solche ausgewiesen wird, weil sie im Verfassungsrecht nicht aufgeht, sondern mit seinen Maßgaben bricht.
"Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet." - Mit diesem berühmten Grundsatz hat der bis heute vielzitierte Verfassungsrechtler und NS-Kronjurist Carl Schmitt die Legitimität diktatorischer Entscheidungsvollmacht begründet. Sie kann sich der Aussetzung des Rechts bedienen, um das Recht vorgeblich zu schützen und damit Schaden von Staat und Nation abzuwehren. Das ist der innere Gehalt jeglicher Ausnahmeverfügung, in der Bundesrepublik verankert in den Notstandsgesetzen, die die Exekutive zu Handlungen ermächtigt, die ansonsten ihre Befugnis weit überschritten. Die Aufhebung des Rechts durch dasselbe ist ein Paradox, das staatlicher Autorität nach dem Grundsatz "Not kennt kein Gebot" administrative Verfügungskompetenzen zugesteht, die alles in Frage stellen, was in rechtsstaatlicher Hinsicht zulässig ist.
"Souverän ist in der Bundesrepublik, wer entscheidet, wann etwas antisemitisch ist, und damit den Rahmen von legitimen und illegitimen Positionen einseitig bestimmen kann. Diese Souveränität hat der Bundestag, indem er eine Form findet, die sich der gerichtlichen Kontrolle entzieht." Andreas Engelmann, Professor für Rechtswissenschaften an der University of Labour und Bundessekretär der Vereinigung Demokratischer Juristinnen und Juristen (VDJ), wendet das Schmittsche Diktum auf die Ermächtigung des Bundestages an, aufgrund einer Gesinnung zivilgesellschaftlicher Akteure auch dann in deren Leben einzugreifen, wenn diese im Rahmen des rechtlich Erlaubten verbleibt. Sein in der Zeitschrift Jacobin am 11. November 2024 veröffentlichter Meinungsbeitrag "Mit der Antisemitismus-Resolution schafft sich der Staat eine Schattenverfassung" lässt keinen Zweifel daran, dass sich das Parlament zu Gunsten weitreichender Handlungsfreiheit in Sachen Israel sehr bewusst um eine gerichtlich überprüfbare Festlegung der Definition gedrückt hat, wann genau der Tatbestand des Antisemitismus gegeben sei und wann nicht.
Wo der Anspruch auf Souveränität in sich selbst begründet bleibt, sind faschistische Akteure nicht fern. Die offengelassene Frage, was einen Herrschaftsanspruch auf demokratisch verfasste Weise legitimiert, macht es möglich, vermeintlich selbstevidente staatsrechtliche Instanzen wie die des Volks und der Nation an als angeboren und natürlich mystifizierte Identitätsmerkmale zu heften, um die Ausgrenzung demgegenüber als Feind markierter Gruppen voranzutreiben - hierzu gibt die rechtswissenschaftliche Debatte über das Feindstrafrecht nach Carl Schmitt umfassend Aufschluss. Wo die inhaltliche Unbestimmtheit und mangelnde grundrechtliche Verankerung des Antisemitismusvorwurfes eine Leerstelle im legitimatorischen Überbau des ideologischen Staatsapparates lässt, werden sich interessierte Kreise dieser stets zu bedienen wissen. So hat sich die AfD an die Spitze der Bewegung gesetzt und weiß sich der repressiven Folgen derartiger Parlamentsentscheidungen bestens zu bedienen.
"Gernika 1933 - Palestine 1948 - ?" - Historische Kontinuitäten
im Westjordanland
Foto: © 2013 by Sabine Werner
Ein gutes Beispiel dafür hat die Antisemitismusbeauftragte der AfD, Beatrix von Storch, bei Auftritten im Bundestag gegeben. Ob sie am 9. November 2022 zum Tagesordnungspunkt "Antisemitismus bekämpfen - Erinnern heißt handeln" die BDS-Bewegung als "das dreckige Bindeglied zwischen dem linken und muslimischen Antisemitismus von Intellektuellen, Künstlern, Aktivisten, von Greta Thunberg und Claudia Roth und dem gewaltbereiten muslimischen Antisemitismus von Hisbollah und Hamas" geißelt, eine Lobrede auf das besonders fremdenfeindliche Ungarn unter Viktor Orban als für Jüdinnen und Juden sicherstes Land Europas anstimmt, um schließlich zu fordern, sich anstelle der Verleumdung Hans-Georg Maaßens "unseren linken Klimaterroristen um Luisa Neubauer und dem Antisemitismus in ihrer Klimasekte zu widmen", stets versteht es die prominente AfD-Politikerin, ein vermeintliches Übel mit dem andern so zu verknüpfen, dass in der Summe das Feindbild woker TerrorsympathisantInnen entsteht.
So auch in der Debatte zu dem Antrag der CDU "Historische Verantwortung wahrnehmen - Jüdisches Leben in Deutschland schützen" am 12. April 2024, in der sie einen regelrechten Rundumschlag gegen Personen vollzog, die irgendwie auch mit Flüchtenden aus mehrheitlich islamischen Staaten gemeinsame Sache machten, wie dem Plenarprotokoll 20/164 zu entnehmen ist:
"Seit dem Hamasmassaker am 7. Oktober sollte jedem klar sein, dass jüdisches Leben in Deutschland nicht von rechts bedroht wird, sondern von dem fanatisierten islamischen Mob (...) und von der woken postkolonialen Linken, personifiziert in Ihrer aller Klimaikone Greta Thunberg und Ihrer Säulenheiligen, der Urmutter des Gender-Gaga, Judith Butler. (...) Dunkeldeutschland ist nicht in Sachsen oder Thüringen. Dunkeldeutschland sind die Berlinale, die documenta und die links-grünen Universitäten. Wenn die AfD in Sachsen, Thüringen oder Brandenburg an die Regierung kommt, dann wird Ostdeutschland ein Safe Space für jüdisches Leben, so wie heute Orbáns Ungarn."
Mit sichtlichem Vergnügen listet die AfD-Abgeordnete dann die vermeintlichen Verdienste ihrer Partei für den Schutz jüdischen Lebens in Deutschland auf:
Zum Antrag. Sie fordern jetzt, antisemitischen Straftätern mit Doppelpass die deutsche Staatsbürgerschaft zu entziehen. Wir haben nichts anderes immer gefordert, und dafür werden wir dämonisiert - auch von Ihnen -, bis heute.
Sie fordern jetzt, den tatsächlichen politischen Hintergrund antisemitischer Straftaten zu erfassen, der meist islamisch ist und nicht rechts. Wir haben nichts anderes immer gefordert. Ich verweise dazu auf unsere Kleine Anfrage vom Juni 2021, Drucksache 19/30591.
Sie fordern jetzt ein Organisationsverbot der BDS-Bewegung. Wir haben den Antrag bereits im April 2019 - Drucksache 19/9757 - gestellt. Sie haben ihn abgelehnt.
Sie fordern jetzt ein hartes Vorgehen gegen Hisbollah und islamischen Terror. Wir haben den Antrag für ein Organisationsverbot bereits im Juni 2019 - Drucksache 19/10624 - gestellt. Sie haben ihn abgelehnt.
Sie fordern jetzt die Schließung des Islamischen Zentrums in Hamburg. Wir, die AfD-Fraktion in Hamburg, haben diesen Antrag bereits im September 2017 - Drucksache 21/10476 - gestellt. Die CDU in Hamburg hat ihn abgelehnt.
Sie fordern jetzt, die Terrorfinanzierung über die Entwicklungshilfe zu beenden, - nennen wir es beim Namen - der UNRWA den Geldhahn zuzudrehen. Wir haben das bereits im Juni 2021 - Drucksache 19/30414 - und noch einmal im Oktober 2023 - Drucksache 20/8739 - beantragt. Sie haben das jeweils abgelehnt."
Von Storch beschloss ihre Rede damit, dass sie Ex-Kanzlerin Merkel für "das Problem mit islamischem Terror und Antisemitismus" verantwortlich machte, und forderte die Union auf, offen mit deren Vermächtnis zu brechen. Für diesen Fall und weil alle von ihr aufgezählten, seitens der AfD bereits vorvollzogenen Forderungen des CDU-Antrags "richtig und überlebenswichtig" seien, bedürfe es zu ihrer Verwirklichung "einer politischen 180-Grad-Wende". Da diese weder mit SPD noch mit den Grünen möglich sei, sondern nur mit der AfD, liege der "überlebenswichtige Politikrichtungswechsel Deutschlands (...) in Ihrer Hand. Sie entscheiden, ob es ihn geben wird oder ob die Rettung Deutschlands an Ihrer Brandmauer zerschellt."
Durchs Schlüsselloch in die Vergangenheit Palästinas blicken
Foto: © 2013 by Sabine Werner
Welches Deutschland ist damit gemeint, und warum kann sich die AfD erhoffen, insbesondere bei den Unionsparteien mit ihrem völkischen Nationalismus offene Türen einzurennen? Die Zukunft dieses Deutschlands soll über eine ethnisch homogene Basis per Blutlinie als deutsch ausgewiesener BürgerInnen verfügen, die sich über die heterosexuelle Kleinfamilie mit patriarchaler Rollenverteilung reproduzieren. Die Souveränität des Landes soll durch eine noch umfassendere Militarisierung gesichert werden als ohnehin geplant, und es soll in bündnispolitischer Hinsicht einem eurozentristischen Westen angehören, der gute Beziehungen vor allem zu Staaten mit weißer, christlicher und patriarchaler Agenda unterhält. Letzteres umfasst die USA, die in Sachen weißer Suprematie deutlich weiter sind als die Bundesrepublik, wie auch Russland, dessen autoritäre gesellschaftliche Ordnung, identitär wesentlich gestützt von einem nationalorthodoxen Klerus und einem streng binären Geschlechterkodex, in rechtsextremen Kreisen viel Sympathien genießt. Doch auch Israel erfreut sich in ethnonationalistischen Kreisen wachsender Beliebtheit. Die Koalitionsregierung Netanjahus hat das Ansehen des Staates als kulturell europäische und exklusiv jüdische Nation inmitten einer Region als feindselig eingestufter muslimischer Staaten erfolgreich gesteigert, und das mit einer nationalreligiösen Agenda, die nicht nur die arabische Bevölkerung, sondern auch jüdische Frauen trotz der Tatsache, dass die IDF über den höchsten Anteil weiblicher Soldatinnen unter allen Streitkräften der Welt verfügen, benachteiligt.
Da Israel ohne den stetigen Zufluss militärischer Mittel aus den führenden NATO-Staaten nicht überlebensfähig wäre, ist der Vorwurf, es handle sich um eine Ausgründung des westlichen Imperialismus, der als hochgerüsteter stationärer Flugzeugträger die ganze Region unter Kontrolle behält, nicht leicht zu widerlegen. Indem sich israelische Regierungen darauf berufen, eine Heimstatt und Schutzmacht für verfolgte Jüdinnen und Juden in aller Welt zu sein, dient das Vermächtnis der von Deutschland begangenen Vernichtung des europäischen Judentums als Legitimation einer Staatlichkeit, deren Existenz, wie die Expertin für internationales Recht, Francesca Albanese, einen Journalisten belehrte, gar nicht in Frage gestellt werden könne, weil es kein Existenzrecht für Staaten, sondern nur für Menschen gebe. Während der Vorwurf, gegen dieses zu verstoßen, auch verhindern soll, die Legitimität des Siedlerkolonialismus und der Annexionspolitik Israels zu hinterfragen, bleibt das staatliche Existenzrecht der PalästinenserInnen als bloßer Anspruch mit kaum noch verwirklichbarer Perspektive auf der Strecke einer Staatspraxis, die mit machtpolitischen Mitteln Tatsachen schafft.
Im 1977 verfassten Programm der von Netanjahu geführten Regierungspartei Likud heißt es unter der Überschrift "Das Recht des jüdischen Volkes auf das Land Israel (Erez Israel)" unter Punkt a: "Das Recht des jüdischen Volkes auf das Land Israel ist ewig und unverhandelbar (...), daher wird Judäa und Samaria nicht irgendeiner ausländischen Regierung unterstellt werden; zwischen dem Meer und dem Jordan gilt ausschließlich israelische Souveränität." Punkt b stellt ebenfalls eine Absage an die im Teilungsbeschluss der Vereinten Nationen 1947 angestrebte Zweistaatenlösung dar: "Ein Plan, der Teile des westlichen Erez Israel aufgibt, unterminiert unser Recht auf das Land und führt unvermeidlich zur Gründung eines 'Palästinensischen Staates', der die Sicherheit der jüdischen Bevölkerung gefährdet, die Existenz des Staates Israel bedroht und jegliche Aussicht auf Frieden vereitelt."
Unter der Überschrift "Besiedlung" heißt es in dem kurzen Dokument: "Besiedlung des urbanen wie ländlichen Raums in allen Teilen des Landes Israel ist der zentrale Punkt des zionistischen Versuchs, das Land zu erlösen, lebenswichtige Sicherheitsgebiete zu behalten und als Quelle der Stärke und Inspiration zur Erneuerung des Pioniergeistes zu dienen." Zwar fordert der Likud die jüngere Generation Israels dazu auf, dafür nur brachliegendes Land zu nutzen und niemanden zu enteignen, doch zum einen handelt es sich dabei um eine originäre Illusion der zionistischen Bewegung, in Palästina praktisch leeres Land vorzufinden, zum andern hat die aggressive Praxis des israelischen Siedlerkolonialismus gezeigt, dass diese Forderung weitgehend ignoriert wird. (Zitate in Übersetzung der Redaktion Schattenblick aus dem Englischen aus: Likud Official Website; Walter Laqueur and Barry Rubin, ed, "The Israel-Arab Reader: A Documentary History of the Middle East Conflict, 6th Edition" (New York, NY: Penguin Books, 2001).
Wenn Netanjahu bei Auftritten vor der UN-Generalversammlung Landkarten zeigt, auf denen Israel ohne palästinensische Präsenz abgebildet ist, dann kann er sich dabei auch auf Israels Nationalstaatsgesetz berufen, dass 2018 mit 62 zu 55 Gegenstimmen in der Knesset verabschiedet wurde. Darin wird unter Artikel 1 - Grundprinzipien festgestellt: "(a) Das Land Israel ist die historische Heimat des jüdischen Volkes, in welchem der Staat Israel gegründet wurde. (b) Der Staat Israel ist der Nationalstaat des jüdischen Volkes, in dem es sein natürliches, kulturelles, historisches und religiöses Recht auf Selbstbestimmung ausübt. (c) Die Verwirklichung des Rechts auf nationale Selbstbestimmung ist im Staat Israel einzig für das jüdische Volk." Hauptstadt ist "das gesamte und vereinigte Jerusalem", zudem sieht der Staat Israel unter Artikel 7 "in der Weiterentwicklung der jüdischen Besiedlung einen nationalen Wert. Er setzt sich dafür ein, die Etablierung und die Konsolidierung jüdischer Besiedlung anzuspornen und voranzutreiben." (Anhang zu SWP-Aktuell 50, September 2018 [1])
Sich dieses konstitutiven Fundaments israelischer Staatlichkeit zu vergewissern heißt anzuerkennen, dass der demokratische Anspruch des Landes nicht auf der prinzipiellen rechtlichen Gleichsetzung seiner BürgerInnen inklusive der arabischen Minderheit beruht, dass die Verwirklichung der völkerrechtlichen Forderung der Zweistaatlichkeit nicht vorgesehen ist, und dass die unter jüdischen Menschen weltweit verbreitete Ablehnung der originären Staatsdoktrin des Zionismus kein Antisemitismus sein kann, weil sie sich nicht gegen das Judentum als solches richtet, sondern seine Indienstnahme für das Staatsprojekt Israel.
Dessen Attraktivität für rechtsextreme Gruppen und Parteien in Nordamerika und Europa ergibt sich aus der entschiedenen Durchsetzung des ethnonationalistischen Charakters Israels auch und gerade gegen als "globalistisch" verschriene supranationale Organisationen wie die Vereinten Nationen und einen humanitären Universalismus, laut dem alle Menschen gleich welcher Hautfarbe und Geschlecht prinzipiell gleichberechtigt sind. Hinzu kommt, dass die militärische Stärke und erfolgreiche Kriegführung Israels gegen mehrheitlich islamische Bevölkerungen gerichtet war und ist, also auf der Linie des antimuslimischen Rassismus und der weißen Suprematie der modernen Neuen Rechten liegt, die synchron mit der Verbreitung des Christlichen Nationalismus evangelikaler US-Kirchen in Ländern wie Brasilien und Argentinien auch dort hegemonial geworden sind.
Für eine Bundesrepublik, deren führende Parteien sich darin einig zu sein scheinen, nicht auf diesen Zug aufzuspringen und einer Wiedererstarkung faschistischer Gesinnung Paroli zu bieten, birgt die Unbedingtheit der Israel betreffenden Staatsräson die Gefahr, sich auf Gedeih und Verderb an eine Regierung gebunden zu haben, die das Land nach Ansicht vieler Jüdinnen und Juden insbesondere in den USA keineswegs sicherer für seine jüdische Bevölkerung macht, sondern die Existenz des Staates durch eine offensive Kriegführung gefährdet, die sich zu einem Flächenbrand in der ganzen Region ausweiten könnte. Dabei hat die Regierung Netanjahu ihr erklärtes Ziel, die Hamas vollständig zu besiegen, auch nach 14 Monaten intensiver Bombardierung und Bodenoffensive in Gaza nicht erreicht. Die Befreiung der nach dort verschleppten Geiseln scheint für sie keine Priorität mehr zu haben und wird als legitimer Kriegsgrund immer unglaubwürdiger. All das hat dafür gesorgt, dass die internationale Kritik am Vorgehen der IDF in Gaza stetig zunimmt und das Ansehen des Landes damit schwer beschädigt wurde.
Darunter leidet auch die Reputation der Bundesrepublik nicht nur in der arabischen Welt, sondern allen Ländern, die über eine starke palästinasolidarische Bewegung verfügen. Dort artikuliert sich die Kritik an Israels Kriegführung häufig antikolonialistisch und stellt sich damit in die Tradition der erfolgreichen Boykottbewegung gegen den Apartheidstaat Südafrika, dessen Regierung die mit der Genozidkonvention begründete Klage gegen Israel vor dem Internationalen Gerichtshof angestrengt hat. Insbesondere im Umfeld des NATO-Krieges gegen Jugoslawien hat sich Deutschland als aktiver Sponsor internationaler Justiz präsentiert und mit dem Völkerstrafgesetzbuch 2002 deutsches Recht an das Römische Statut des Internationalen Strafgerichtshofs angepasst. Dadurch wird auch die Strafverfolgung von Verdächtigen ohne Inlandsbezug vor deutschen Gerichten möglich gemacht.
Nun steht die Bundesregierung angesichts des gegen Netanjahu und Galant ergangenen internationalen Haftbefehls vor dem Problem, die aus geostrategischen Gründen nützliche Erweiterung der Zuständigkeit Deutschlands für vor dem IStGH verhandelte Fälle von einem außenpolitischen Aktivposten in eine Belastung zu verwandeln. Sie hat sich damit auseinanderzusetzen, dass sie einer rechtsextremen, des Begehens von Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit beschuldigten Regierung auch militärisch den Rücken stärkt, während sie Brandmauern zu einer AfD errichtet, die wie der Igel längst vor dem Hasen ins Ziel der Staatsräson eingelaufen ist und anderen Parteien, die ihre Angebote verschmäht, eine lange Nase zeigt. Ohnehin nimmt die Bundesrepublik immer mehr das Gesicht des hässlichen Deutschen an, der in 14 Monaten fast 200 Veranstaltungen, Proteste und Events gegen den Krieg in Gaza verhindert hat, obwohl mindestens ein Viertel der angekündigten RednerInnen Jüdinnen und Juden waren.
Die Israel- bzw. Palästina-Politik der Bundesregierung scheint von vielen deutschen Medien als inoffizielle Leitlinie übernommen worden zu sein. Der Nahostwissenschaftler Tom K. Würdemann erklärte am 3. September 2024 in einem Gespräch mit der taz:
Würdemann: Ich finde, dass die deutsche Berichterstattung zu Israel und Palästina oft vielmehr deutsche Innenpolitik und deutsche Identitäten verhandelt, als sich mit dem eigentlichen Konflikt zu beschäftigen.
taz: Haben Sie ein Beispiel dafür?
Würdemann: Den Springer-Verlag sehe ich hier generell als negatives Beispiel: Nach dessen Logik ist Israel die erste Verteidigungslinie des Westens gegen Islamisierung und Migration. Und Bild und Welt vermutlich die zweite. Ein extremes Beispiel: Ende Oktober haben auch bekannte deutsche Journalisten wie Jan Fleischhauer ein Video geteilt, in dem gesagt wird, die Hamas sei schlimmer als die SS, weil die SS wenigstens noch so etwas wie ein schlechtes Gewissen beim Holocaust empfunden hätte.
In Sachen Israelkritik scheint sogar die traditionelle Westbindung der Bundesrepublik an Grenzen zu stoßen. Ansonsten hätten die angeblichen Antisemitismusskandale, die im Zusammenhang mit US-amerikanischen AktivistInnen, KünstlerInnen, AutorInnen und Intellektuellen in der Bundesrepublik inszeniert wurden, in linksliberalen Kreisen der US-Gesellschaft nicht für wachsendes Befremden gesorgt. Während in den USA immer wieder tausende jüdischer AktivistInnen auf die Straße gehen, um gegen Waffenlieferungen an Israel zu protestieren, es zu landesweiten Campusbesetzungen durch Studierende kam, die dabei ihre berufliche Zukunft aufs Spiel setzten, stellt sich die Bundesrepublik auf die Seite derjenigen, die selbst jüdische Menschen des Antisemitismus bezichtigen, wenn sie sich zu lauter Kritik am Staat Israel versteigen.
Diesen Dissens mit einer apologetischen Staatsräson zu bekämpfen ist vor allem ein innerdeutsches Problem. Ganz sicher hilft die bedingungslose Unterstützung Israels dabei, palästinensisches Leben in Gaza und in der Westbank zu gefährden. Ob mit der vorliegenden Resolution jüdisches Leben in Deutschland geschützt wird, wenn die meisten der dort angeführten Fallbeispiele Protestaktionen der palästinasolidarischen Bewegung betreffen oder einmal mehr Yuval Abrahams Rede auf der Berlinale als antisemitisch angeprangert wird, dessen Familie im Anschluss daran Morddrohungen erhalten hatte, darf bezweifelt werden. Der wichtigste, nur knapp an einem Massaker vorbeigegangene antisemitische Anschlag der letzten Jahre, der bewaffnete Angriff auf die Synagoge in Halle am 9. Oktober 2019, wird in der Resolution nicht aufgelistet, obwohl er von einem bekennenden Faschisten ausging.
Die repressive Maßregelung des innerdeutschen Meinungsklimas scheint vielmehr zu verhindern, dass das Verhältnis zwischen der Geschichte Israels und des von Deutschland begangenen Holocausts auf differenziertere, die jeweiligen nationalen Eigeninteressen nicht auslassende Weise diskutiert wird. Das rückte auch den erheblichen Unterschied im Umgang vieler linker und liberaler Jüdinnen und Juden mit der Kritik an Israels Kriegen und einer deutschen, von den Nachfahren der TäterInnen im Zeichen moralischer Schuld aufgeworfenen Frage nach der eigenen Verantwortung in den Mittelpunkt des Diskurses. Wie viele jüdische FriedensaktivistInnen sagen, kann die Lektion des "Niemals wieder" eigentlich nur darin bestehen, das koloniale Gewaltverhältnis Israels zur palästinensischen Bevölkerung in den von seinen Truppen besetzten Gebieten aufzuheben zugunsten eines demokratischen und in jeder Hinsicht gleichberechtigten Gemeinwesens.
Eine derartige Stärkung herrschaftskritischer linker Positionen ist nicht erwünscht, denn es könnte unwillkommene Auswirkungen auf die Machtverhältnisse innerhalb Deutschlands haben. So weist der repressive Umgang mit der palästinasolidarischen Protestbewegung einen rassistischen Unterton auf, der das migrationsfeindliche Klima in der Gesellschaft verschärft. Auch von PolitikerInnen der SPD und Grünen sind heute Forderungen nach der Abwehr flüchtender Menschen zu vernehmen, die vor einiger Zeit in der eigenen Partei stark kritisiert worden wären. Eingedenk dessen, dass internationalistische Positionen Staats- und Ländergrenzen seit jeher als Ausdruck klassenherrschaftlicher Spaltung verstanden haben und jeglichen Rassismus, der Herkunft und Hautfarbe zum Anlass des Ausschlusses und der Stigmatisierung macht, beim faschistischen Gegner verorten, sorgt das Gerücht vom "importierten Antisemitismus" vor allem dazu, den oft antikolonialistischen, antirassistischen und antikapitalistischen Charakter der weltweiten Proteste gegen den Krieg in Gaza unsichtbar zu machen.
Zweifellos beteiligen sich auch AnhängerInnen des politischen Islam an diesen Protesten oder organisieren eigene Demonstrationen, auf denen antisemitische Parolen zu vernehmen sind. Diese zeichnen sich dadurch aus, dass Israel und Judentum in eins gesetzt werden, also Jüdinnen und Juden pauschal zu Feinden der islamischen Welt erklärt werden. Hier schlägt auch ein türkischer Nationalchauvinismus negativ zu Buche, der die mit antisemitischer Rhetorik aufwartende Feindseligkeit Erdogans gegenüber Israel in der Bundesrepublik auf die Straße trägt, ohne den rein propagandistischen Charakter dieser Haltung des türkischen Präsidenten zu erkennen.
Gerade dies jedoch wird nicht explizit zum Problem des "importierten Antisemitismus" gemacht. Zum einen betrifft dies häufig türkischstämmige BundesbürgerInnen, die schon mehrere Generationen in Deutschland leben, zum andern arbeitet die Bundesregierung bei der Verfolgung Linksradikaler mit türkischer Staatsbürgerschaft und kurdischer Herkunft eng mit türkischen Sicherheitsbehörden zusammen. Ihnen drohen nach dem politischen Vereinigungsstrafrecht mehrjährige Haftstrafen, so dass in deutschen Knästen politische Gefangene sitzen, die in Opposition zur islamistischen Erdogan-Regierung stehen.
Wo Muslime jüdische Feindbilder produzieren, verallgemeinern sie auf eine antisemitische, ihren Absichten zweckdienliche Weise, die in der Idealisierung Israels als vom Judentum ununterscheidbarer Staat ihren paradoxen Widerpart erhält. Wenn Jüdinnen und Juden als AntisemitInnen oder, wie es oft heißt, "selbsthassende Juden" diffamiert werden, dann in der Regel, weil sie diese Überhöhung eines Staates nicht gutheißen. Daher ist jüdisches Leben in Deutschland nicht nur von islamistischen FundamentalistInnen bedroht, sondern auch von der deutschen Polizei, wenn es sich um jüdische AktivistInnen der palästinasolidarischen Bewegung handelt. Wie sehr Jüdinnen und Juden hierzulande den Schutz des Staates genießen, hängt also maßgeblich davon ab, wie ihr Verhältnis zum Staat Israel beschaffen ist.
Die vom Nazifaschismus geläuterte BRD hat jahrzehntelang personelle NS-Kontinuitäten in ihren Regierungen geduldet. Ihr erster Kanzler Konrad Adenauer machte schon 1952 mit der Politik der Entnazifizierung Schluss, das sogenannte Wiedergutmachungsabkommen mit Israel unterzeichnete er vor allem auf Druck der USA, wie 1982 freigegebene Akten des Auswärtigen Amtes belegen. Wer in Washington angeblich das Sagen hat, geht aus einer Aussage Adenauers hervor, die Alan Posener in der DGAP-Zeitschrift Internationale Politik am 1. April 2017 so wiedergibt: "Die Macht der Juden - auch heute noch, insbesondere in Amerika, sollte man nicht unterschätzen." Wenn dieses Deutschland sich einmal mehr die Definitionsmacht darüber anmaßt, nach welchen Kriterien Jüdischsein zu bemessen sei, dann sollte dies bei der Antisemitismusbekämpfung nicht vergessen werden.
Der in Berlin lebende jüdisch-israelische Schriftsteller und Aktivist Tomer Dotan-Dreyfus hat die Einschränkung der Meinungsfreiheit im Namen der Bekämpfung des Antisemitismus am 9. Oktober 2024 in der Zeitschrift ak unter dem Titel "In Deutschland ist das jüdische politische Denken geregelt" auf für die VerfasserInnen der Resolution eher peinliche Weise zugespitzt:
Durch diese neue Definition von Antisemitismus, der zufolge Israels Recht höher als das internationale Recht stehe, wird auch eine neue Definition von Jüdinnen*Juden geschaffen und deren Verhältnis zum Staat und zu Antisemitismus neu gefasst. In letzter Zeit wird zunehmend beansprucht - vorwiegend von Nicht-Juden -, dass jede offiziell verwendete Definition für Antisemitismus beinhalten müsse, dass Jüdinnen*Juden Antisemit*innen sein und dass auch Nicht-Jüdinnen*Juden Opfer von Antisemitismus werden können. Nach dieser Auffassung stehen nicht-jüdische Deutsche wie der Vorsitzende der Deutsch-Israelischen Gesellschaft, Volker Beck, oder der Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung, Felix Klein - beide begeisterte Unterstützer nicht nur des Staats Israel, sondern auch des Krieges in Gaza, der dem Ankläger des Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) und jeder Menschenrechtsorganisation vor Ort zufolge Kriegsverbrechen einschließt -, der jüdischen Gemeinschaft näher als antizionistische Jüdinnen*Juden, die es seit jeher gegeben hat.
Arafat und Mandela unvergessen - palästinasolidarische Demonstration in Düsseldorf
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Werden derartige Inkonsistenzen nicht beseitigt, dann trägt die Resolution eher zur Verwirrung als zur Aufklärung bei. Würde sie vermitteln, dass es sich bei Antisemitismus im Grundsatz um eine Feindseligkeit handelt, die jüdische Menschen diffamiert oder auf verallgemeinernde Weise verurteilt, weil sie Jüdinnen und Juden sind, wäre schon viel gewonnen. Kritik an Netanjahu ist nicht per se antisemitisch, wenn sie sein Verhalten als Regierungschef eines Staates betrifft. Sie wäre es allerdings, wenn sie seine Politik mit seiner jüdischen Identität begründete. Kritik an KapitalistInnen ist nicht antisemitisch, weil sie der jüdischen Religion angehören können. Sie wird antisemitisch, wenn das Gerücht vom "Finanzjuden" oder einer "jüdischen Weltverschwörung" verbreitet wird, das das Judentum sui generis in einen Hort des Bösen verwandelt. Ein wie auch immer geartetes Verhalten kann niemals aus sich heraus antisemitisch sein, es bedarf dazu einer so explizit gemachten wie generalisierten Verbindung zum Judentum. Analog dazu agiert niemand rassistisch, der ein bestimmtes Verhalten kritisiert, wenn es nicht als Folge einer spezifischen, nach physischen, sozialen oder kulturellen Kriterien definierten Gruppenzugehörigkeit monokausal verortet wird.
Werden Staatsverbrechen unter Verweis darauf, dass die dafür Verantwortlichen Jüdinnen und Juden sind, für sakrosankt erklärt, dann wird einer Entwertung der Abwehrfunktion dieser Form des Rassismus das Wort geredet, die schlimmstenfalls das begünstigt, wogegen sie originär in Stellung gebracht wurde. Dass Israels Krieg heute in weiten Teilen der Welt längst nicht mehr für eine legitime Form der Selbstverteidigung erachtet, sondern als Eskalation eines siedlerkolonialistischen Projekts betrachtet wird, das nur durch die Rückendeckung der westlichen Wertegemeinschaft straflos fortgesetzt werden kann, trägt nicht dazu bei, die Sicherheit jüdischen Lebens in aller Welt zu verbessern. Dass die Rechtfertigung der Kriegführung dieses Staates dazu genutzt wird, MigrantInnen in ein schlechtes Licht zu rücken, um den unter den Auswirkungen kapitalistischer Klassenherrschaft leidenden Menschen eine Adresse zu geben, auf die sie ihre Wut über ihre als Demütigung empfundene soziale Verelendung abladen können, wird den Schutz jüdischen Lebens ebenfalls nicht verbessern.
Indem deutsche Regierungen ihre internationale Handlungsfähigkeit auch mit der Notwendigkeit der Aufarbeitung deutscher Schuld begründen - das klassische Beispiel ist die Rechtfertigung des Jugoslawienkriegs der NATO mit der Verhinderung eines zweiten Auschwitz -, überformen sie die ethischen Ideale des Judentums, auf die sich viele jüdische AktivistInnen der Palästinasolidaritätsbewegung berufen, mit dem moralischen Imperativ einer angeblich historisch verankerten Selbstverpflichtung. Für jüdische AntizionistInnen geht die Lehre aus dem Holocaust und die Formel "Nie wieder ist jetzt" gerade darin auf, jeder Zuwiderhandlung gegen die aus dieser Katastrophe erstandenen moralischen Werte und rechtlichen Normen entschieden entgegenzutreten.
Das im UN-Teilungsplan 1947 statuierte Recht der PalästinenserInnen auf nationale Selbstbestimmung weist diese auch als TrägerInnen unveräußerlicher Menschenrechte aus. Dennoch werden sie seit Jahrzehnten auf kolonialistische Weise unterdrückt, so dass der Beginn dieses Krieges ein zwar nicht akzeptables Verbrechen war, nichtsdestotrotz in der Chronik der Besatzungspolitik Israels verankert ist. Dies als Rechtfertigung des Hamas-Massakers zu lesen ist übliche falsche Praxis und allein dazu gedacht, jeglichen Verweis auf die von Israel begangenen Gewaltakte zu unterlassen. Warum? Weil sich dabei zeigt, dass die angebliche Neigung der PalästinenserInnen zur Gewaltanwendung ein kolonialistisches Zerrbild ist ähnlich dem, das der europäische Kolonialismus von den grausamen - und daher mit Gewalt zu zivilisierenden - "Wilden" gezeichnet hat.
Bei den weitgehend friedlich verlaufenden Demonstrationen 2018 und 2019, bei denen sich zehntausende Menschen an der hermetisch abgesicherten Grenze Gazas sammelten, um gegen ihre dauerhafte Freiheitsberaubung zu protestieren, wurden mindestens 223 PalästinenserInnen getötet und allein 2018 mehr als 13.000 Demonstrierende zum Teil mehrmals durch Schüsse verwundet. Sie hatten die auf palästinensischem Gebiet befindliche, 200 bis 300 Meter breite Sicherheitszone missachtet, über die ein mit Androhung von Schusswaffengebrauch versehenes Betretungsverbot verhängt ist. So etwas wurde an der innerdeutschen Grenze "Todesstreifen" genannt und von der BRD niemals als legitimes Mittel der Grenzsicherung akzeptiert.
Neben der Verurteilung Israels durch eine Resolution der UN-Generalversammlung wurde der Schusswaffengebrauch der Grenztruppen in zahlreichen Berichten von Menschenrechtsorganisationen als willkürliche Gewaltanwendung kritisiert. Die gewaltsame Grenzöffnung durch die Hamas hat eine Vorgeschichte, die das dabei erfolgte Massaker nicht rechtfertigen kann, die jedoch zeigt, wie eingeschränkt die Möglichkeiten der Bevölkerung Gazas sind, sich gegen das von Israel über sie verhängte Verbot zu wehren, die Grenze des ihnen zugewiesenen Territoriums unbehindert zu überschreiten.
Daher verliert eine Bundesregierung, die sich bei der dauerhaften Legitimierung israelischer Kriegspraxis auf eine imperative Staatsräson beruft, nach 14 Monaten der umfassenden Zerstörung Gazas immer mehr an Glaubwürdigkeit. Der offene Widerspruch zwischen dem zur Letztbegründung überhöhten und in seiner blutigen Tragik monolithisch erstarrten Verbrechen des 7. Oktober 2023 auf der einen Seite und einem sich hochdynamisch entwickelnden Regionalkrieg, in dessen Schatten das permanente Massaker an der Bevölkerung Gazas immer weniger wahrgenommen wird, obwohl jeder Tag neue Schreckensmeldungen hervorbringt, drängt nun auch in Deutschland an die Oberfläche.
Vom Kopf auf die Füße - Aufbruch aus der Ohnmacht
Foto: © 2013 by Sabine Werner
Das zeigte sich im November 2024 an mehreren, die angestrengte Ruhestellung des Diskurses um Israel und Palästina störenden Ereignissen. Sie könnten sogar den Eindruck erwecken, dass mit der Verabschiedung der Resolution am 7. November der Zenith glaubwürdiger ideologischer Dissensabwehr überschritten wurde.
Als am 21. November der Haftbefehl des IStGH gegen Netanjahu und Galant offiziell durch den Chefankläger Karim Khan erlassen wurde, war die Aufregung in westlichen Hauptstädten auch deshalb groß, als damit erstmals überhaupt ein internationales Strafverfahren gegen eine Staatsführung angestrebt wird, die nicht dem Globalen Süden, sondern der westlichen Wertegemeinschaft angehört. Bislang konnten sich deren Regierungen darauf berufen, dass der IStGH als Ersatzgerichtsbarkeit lediglich ermittelt, wenn die Justizbehörden der Länder, in denen jemand wegen des Begehens von Kriegsverbrechen verdächtigt wird, selbst nicht aktiv werden. Da das in Israel unter Premierminister Netanjahu unwahrscheinlich ist, müsste die Regierung in Berlin im Falle eines Besuches des israelischen Regierungschefs alles Notwendige zu seiner Verhaftung veranlassen.
Ohnehin hat die internationale Strafverfolgung des führenden Politikers eines Staates, zu dessen unbedingter Unterstützung sich Deutschland verpflichtet hat, der Bundesrepublik bereits einen unsichtbaren Platz auf der Anklagebank verschafft. Das gilt auch für die USA, die Hauptquelle jener Bomben und Granaten, die zivile Ziele in Gaza und Teilen des Libanons dem Erdboden gleichgemacht haben. Es ist daher hoch wahrscheinlich, dass beide Administrationen jede Situation im Vorfeld verhindern werden, in denen der Ruf nach Verhaftung laut werden könnte. Zudem hat Washington häufiger unverhohlen damit gedroht, den IStGH bei Ermittlungen gegen US-AmerikanerInnen praktisch handlungsunfähig zu machen.
Wenn nun in Deutschland Stimmen laut werden, sich dem Haftbefehl des IStGH im Falle Netanjahus und Galants zu widersetzen, dann ist das nicht nur nach der Überzeugung vieler ExpertInnen für Internationales Strafrecht, an dessen Vollstreckung sich die Bundesrepublik grundgesetzlich gebunden hat, rechtswidrig, sondern auch in hohem Maße inkonsistent mit der allgemein begrüßten Ausstellung eines Haftbefehls gegen den russischen Präsidenten Wladimir Putin. Insgesamt ist die Bundesregierung dabei, sich der US-amerikanischen Verweigerung jeglicher Kooperation mit dem IStGH anzunähern, was angesichts der jahrelangen Lobreden auf diese Instanz internationaler Gerichtsbarkeit ein weiterer Knick im Ansehen Deutschlands ist.
Der skandalumwitterte Auftritt der Fotokünstlerin und Aktivistin Nan Goldin am 22. November in der Neuen Nationalgalerie war der vorläufige Höhepunkt in der Reihe von Events, die prominenten US-Intellektuellen, die für ihre Kritik an der Kriegführung Israels bekannt sind, eine Bühne geben sollten. 2023 wurde die 71jährige auf der Power 100-Liste des Art Review, des wohl bekanntesten Rankings internationaler KünstlerInnen, auf Platz 1 gesetzt. Auf ihren Fotos nehmen Transpersonen, Junkies und AussteigerInnen viel Raum ein, worin sich Goldins eigene Geschichte in den Subkulturen New Yorks spiegelt. Als Chronistin randständigen Lebens und alltäglicher Katastrophen, als Aktivistin für die vergessenen und verächtlich gemachten AIDS-Kranken, als Kämpferin gegen ein Leben in Konformität und Unterwürfigkeit hat Goldin eine Sensibilität für Gewaltverhältnisse entwickelt, die sie als Jüdin auch für die Opfer israelischer Aggression eingenommen hat. Als Aktivistin für Jewish Voice of Peace wurde sie schon kurz nach Kriegsbeginn bei einer Straßenaktion festgenommen. Als hunderte von AktivistInnen dieser Bewegung einen Sitzstreik vor der Freiheitsstatue abhielten, hielt sie eine zündende, in den Medien viel beachtete Rede.
So auch in Berlin zur Eröffnung einer Retrospektive auf ihr Werk unter dem Titel "This Will Not End Well", in der es nicht um Israel und Palästina geht. Dennoch begann Goldin ihren Auftritt vor gut tausend Gästen im Foyer dieses zu den renommiertesten Kulturtempeln Deutschlands zählenden Ortes mit einer vierminütigen Schweigepause für die palästinensischen, libanesischen und israelischen Kriegstoten. Dann verlieh sie ihrer Enttäuschung darüber Ausdruck, dass Berlin seinem Ruf als liberale Metropole für Menschen aller Art so wenig gerecht werde und schilderte ihre Angst, die sie als im Wissen um die antisemitische Bedrohung aufgewachsenes Kind hatte: "Was ich in Gaza sehe, erinnert mich an die Pogrome, denen meine Großeltern entkommen sind. Die gesamte Infrastruktur Palästinas ist zerstört worden. Die Krankenhäuser, die Schulen, die Universitäten, die Bibliotheken. Es ist auch ein kultureller Völkermord. Warum kannst du das nicht sehen, Deutschland?"
Die Gleichsetzung von Antizionismus und Antisemitismus sei falsch, "sie wird dazu benutzt, die Besatzung Palästinas aufrechtzuerhalten und diejenigen zu unterdrücken, die dagegen protestieren." Die Künstlerin warnte vor dem politischen Missbrauch des Antisemitismusbegriffs: "Indem man jede Kritik an Israel als antisemitisch deklariert, wird es schwieriger, gewaltsamen Hass gegen Juden zu definieren und zu stoppen. Wir sind nun weniger sicher. Ist das alles, Deutschland? Gleichzeitig wird Islamophobie ignoriert. Der Begriff Antisemitismus wird von der Regierung als Waffe gegen die palästinensische Community in diesem Land genutzt und gegen alle, die sie unterstützen." Der IStGH, die UNO, sogar der Papst sprächen vom Genozid, "dennoch sollen wir es nicht Genozid nennen. Hast du Angst, das zu hören, Deutschland? Die Kinder, die ihre gesamte Familie verlieren, bitten darum, zu sterben. Was hast du gelernt, Deutschland? 'Nie wieder' bedeutet nie wieder für alle Menschen."
Der anschließend ausgebrochene Eklat wird in den Feuilletons seitdem hin und her gewälzt, ganz sicher aber war die Rede Nan Goldins die bisher spektakulärste Einzelaktion zugunsten der palästinasolidarischen Bewegung. Im November gab es zahlreiche Artikel in der Hauptstadtpresse, die sehr deutlich Kritik am proisraelischen Kurs der Bundesregierung und der Verabschiedung der Resolution übten. Am 29. November erschien im Magazin Der Spiegel der erschütternde Bericht "Ärzte über Israel-Gaza-Krieg: 'Wie soll ich, nach dem, was ich gesehen habe, noch in dieser Welt leben?'" Zeugenberichte aus erster Hand in dieser Sichtbarkeit hatte es zumindest in großen deutschen Blättern bislang nicht gegeben.
Ebenfalls am 29. November fand im großen Saal der Bundespressekonferenz ein Podium zum Thema "Die Haftbefehle des IStGH und Deutschlands Rolle" statt. Moderiert von Stephan Detjen vom Deutschlandradio füllten die Wissenschaftlerinnen Prof. Dr. Christine Binzel und Prof. Hanna Kienzler, der Musiker Prof. Michael Barenboim und der Anwalt Wolfgang Kaleck vom European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR) 75 Minuten mit geballten Informationen und detaillierter Expertise nicht nur zum Vorgehen des IStGH, sondern zum Krieg in Gaza und den Israel zur Last gelegten Taten.
All das könnte den Eindruck vermitteln, dass es zu einer Wende im gesellschaftlichen Bewusstsein kommt, die nicht nur die bedingungslose Unterstützung Israels im Krieg gegen die PalästinenserInnen betrifft, sondern die Militarisierung Deutschlands auf den Prüfstand einer Zivilisierung stellt, die als Antwort auf die zunehmende Bereitschaft, Feindbilder aller Art zu produzieren und dementsprechend ruinös zu handeln, schmerzhaft vermisst wird.
8. Dezember 2024
Anmerkung:
[1] https://www.swp-berlin.org/publications/products/sonstiges/2018A50_Anhang_IsraelNationalstaatsgesetz.pdf
veröffentlicht in der Schattenblick-Druckausgabe Nr. 182 vom 14. Dezember 2024
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