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HERRSCHAFT/1427: OECD verordnet neoliberale Rezeptur zur Krisenbewältigung (SB)



Als konstitutives Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell ist der Neoliberalismus keineswegs vom Tisch. Zwar haben seine ökonomischen Rezepturen an Überzeugungskraft eingebüßt, doch die bisher getroffenen Maßnahmen zur Krisenbewältigung sind meist auf deren Fortsetzung nach befristeter Intervention durch den Staat ausgerichtet. Gerade weil der neoliberale Kapitalismus nicht nur wirtschaftspolitisch determiniert ist, sondern eine auf Überlebenskonkurrenz basierende Vergesellschaftung propagiert, hat er alles andere als ausgedient. Der Widerspruch, einer marktfundamentalistischen Weltanschauung mit staatlichen Mitteln wiederaufzuhelfen, tritt nur in der äußersten Peripherie ideologischer Sinnstiftung als solcher in Erscheinung. Ansonsten ist der Neoliberalismus kaum weniger als sein keynesianischer Gegenpart auf die staatliche Gewährleistung systemischer Grundlagen wie eine auf Privateigentum basierende Rechtsordnung und die machtpolitische Absicherung seiner ideologischen Hegemonie angewiesen. Staatsferne wird immer nur dann angemahnt, wenn die kapitalistische Akkumulationspraxis eingeschränkt werden soll, ansonsten besteht kein Einwand dagegen, wenn mit öffentlichen Mitteln sozial gerechte Alternativen unterdrückt oder Standortbedingungen optimiert werden.

Von daher handelt es sich bei der Empfehlung der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) an die Adresse der Bundesregierung, die Liberalisierung der Wirtschaft auch in der Krise voranzutreiben, nur scheinbar um eine Außenseiterposition. In ihrem diese Woche vorgelegten Bericht "Going for Growth" wird die ganze Litanei sattsam bekannter Maßnahmen wie die Senkung von Sozialversicherungsbeiträgen und Steuern auf Niedriglöhne, der Abbau von Mehrwertsteuerermäßigungen, die Stärkung des Wettbewerbs im Gesundheitsweisen und die Ausrichtung der Bildung auf ökonomische Ziele (Financial Times Deutschland, 03.03.2009) mit unbeirrter Wachstumslogik gepredigt.

Im vulgären Glauben an das Mehr wird das Weniger zum Anlaß genommen, die Durchsetzung des Marktparadigmas gegen protektionistische Maßnahmen, die immer dann besonders heftig kritisiert werden, wenn sie den Schutz des Schwächeren betreffen, oder den Verzicht auf die sozialpolitische Kompensation des Abbaus von Arbeitsplätzen als krisenfeste Politik zu umwerben. Zwar gesteht man bei der OECD zu, daß eine bessere Aufsicht über die Finanzmärkte notwendig wäre, ansonsten jedoch sei uneingeschränkter Wettbewerb auch weiterhin der Königsweg zur Bewältigung aller wirtschaftlichen Schwierigkeiten. Bezeichnenderweise erheben die Verfasser des OECD-Berichts keine Einwände gegen die staatliche Alimentierung der Banken, da eine Vertrauenskrise auf dem Finanzmarkt eine existentielle Bedrohung der Volkswirtschaften darstelle. In Not geratene Industrieunternehmen wie Opel sollten hingegen auf keinen Fall staatliche Mitteln erhalten, da dies eine inflationäre Steigerung staatlicher Eingriffe zur Folge habe, während bankrott gegangene Hersteller ohne weiteres von Mitbewerbern ersetzt würden.

Zurückübersetzt auf den Glaubenskodex des Neoliberalismus bedeutet dies, daß die angebliche Selbstregulierung des Marktes zwar in den meisten Fällen funktionieren, jedoch gerade im kapitalistischen Kerngeschäft, dem Kreditwesen, keine Gültigkeit besitzen soll. Einen besseren Beleg für den fiktiven Charakter dieses Theorems als die willkürliche Verwendung des Marktdogmas durch die OECD, jener Interessengemeinschaft der Regierungen 30 führender Industriestaaten, die ganz der Durchsetzung und Einhaltung wirtschaftsliberaler Grundsätze verpflichtet ist, könnte man nicht anführen.

Der Maßnahmekatalog der OECD läuft in der Summe auf ein knallhartes Programm des Entzugs aus sozialpolitischen Gründen gewährter Vergünstigungen und Leistungen insbesondere für Menschen, die im kapitalistischen Sinne nicht produktiv sind, hinaus. Man verfährt nach wie vor nach der Devise, die Starken zu fördern, indem man die Schwachen zu einem Leben voller Not und Entbehrungen verurteilt. Was schon in wirtschaftlich erträglicheren Zeiten für Millionen von Menschen eine Zumutung ist, entwickelt sich in einer Rezession zur lebensbedrohlichen Mangelsituation. Daß diese Not nicht nur das unbeabsichtigte Nebenprodukt einer Wirtschaftsdoktrin ist, die die Begünstigung von Kapitalinteressen zum zentralen Motor der Verwertung erhebt, sondern funktionaler Bestandteil einer sozialdarwinistischen Gesellschaftstheorie, mit Hilfe derer die Menschen für das Bündnis aus Kapital und Staat noch verfügbarer als ohnehin schon gemacht werden sollen, ist das schmutzige Geheimnis der neoliberalen Doktrin und ihrer Fortschreibung.

4. März 2009