Schattenblick →INFOPOOL →POLITIK → KOMMENTAR

HERRSCHAFT/1569: Sarrazins Weihnachtstirade - Pseudostreit der Eliten (SB)



In seiner Weihnachtsbotschaft kündigt Thilo Sarrazin den Verlierern dieser Gesellschaft einen Siegeszug sozialdarwinistischer Grausamkeiten an. Nicht, daß er Niedriglöhner, Hartz-IV-Empfänger, Randständige, Muslime und wen immer er zur Bedrohung deutschen Wohlstands und deutscher Kultur erklärt und von den knapper werdenden Fleischtöpfen verdrängt wissen möchte, eigens erwähnt: Im Volk stimme man ihm zu, befindet der selbsternannte Retter vor der gierigen Anspruchshaltung wertloser Taugenichtse, überhäuften ihn doch die Leser seines Buches "auf Bahnsteigen, in Zügen oder Buchhandlungen" mit Lob und rissen sich um Autogramme: "99 Prozent aller für mich wahrnehmbaren Reaktionen sind positiv". [1] "Die junge Frau indischer Herkunft", "der türkische Taxifahrer" oder "der Hauptschullehrer aus Mainz" - sie alle hätten ihm die Hand geschüttelt, gedankt und Recht gegeben. [2]

Nachdem Sarrazin Volkes Stimme kurzerhand auf jenen Kreis seiner Leser eingegrenzt hat, die im Visier seiner Wahrnehmung als begeisterte Anhängerschaft in Erscheinung treten, kommt er in seinem persönlichen Jahresrückblick auf einen Herzenswunsch zu sprechen. In der Weihnachtsausgabe der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung", die dem Autor von "Deutschland schafft sich ab" ihre Feuilleton-Titelseite zur Verfügung gestellt hat, bläst er zur Generalabrechnung mit seinen Kritikern in Politik und Medien, die ihn auf schändliche Weise niedermachen wollten. Wohl wissend, wie sehr er im Trend massivster Umlastung existentieller Bürden auf die Ärmsten und Schwächsten liegt, die des Versagens zu bezichtigen zur neuen Leitdoktrin der Eliten avanciert, fordert er den ihm zustehenden prominenten Platz eines visionären Vordenkers ein, der offen auszusprechen wage, was andere aus Feigheit verschwiegen oder nur hinter vorgehaltener Hand zu flüstern wagten.

"Ich habe etwas gesagt, das man aus der Sicht der Einen keinesfalls denken geschweige denn sagen darf, und eben der Umstand, dass ich dies gesagt habe, löst die Begeisterung der Anderen aus", geriert sich Sarrazin selbstgefällig als kompromißloser Streiter für die Wahrheit, der sich zu verschließen von einem verachtenswerten Mangel an demokratischen Tugenden zeuge. In Politik und Medien sieht er heute "eher weniger Zivilcourage und wirklich unabhängiges Denken als in der Weimarer Republik oder in den ersten Jahrzehnten der Bundesrepublik". Der 65jährige ehemalige Berliner Finanzsenator und Chef der Bundesbank klagt über eine "beispiellose Medienkampagne" mit "verleumderischen Zügen", der er ausgesetzt gewesen sei. Ihm sei "Hass aus der politischen Klasse und einem Teil der Medien" entgegengeschlagen.

Er habe eine tiefe Verachtung für diejenigen entwickelt, "die verurteilten, ohne gelesen zu haben", setzt er die Überzeugungskraft seiner Thesen als selbstevident voraus. "Zornig war ich nur kurze Zeit", fährt er in populistischer Manier fort, denn mit der wachsenden Zahl der Leser sei ein "Gegengewicht in der öffentlichen Meinung" entstanden. Mit 1,2 Millionen verkauften Exemplaren seines Buches im Rücken fühlt er sich gewappnet für die "Lektionen eines Jahres", wie es im Vorspann des "FAZ"-Artikels heißt. Lektionen, die er Bundeskanzlerin Merkel erteilt, die sein Buch mit der Äußerung, es sei nicht hilfreich, auf den Index gesetzt habe - "so wie es früher die Heilige Inquisition tat". "An die Stelle des Scheiterhaufens trat nach ihrer Planung die Verbannung aus der Bundesbank, dazu forderte sie Präsident (Axel) Weber öffentlich auf. Der frisch gewählte Bundespräsident (Christian Wulff) stolperte eilfertig hinterher und bot seine Hilfe bei meiner Entlassung an, ohne vorher den Rechtsrat seiner Beamten einzuholen."

Nachdem sich Sarrazin ins Kleid verfolgter Unschuld gehüllt hat, macht er in der ihm eigenen Überheblichkeit geltend, wie zurückhaltend er sich doch in diesem Konflikt verhalten habe: "Mit ein bisschen Michael Kohlhaas im Blut hätte ich eine Staatskrise herbeiführen können." [3] Dabei sei er angesichts harscher Kritik an seinem Buch immer wieder Passagen daraufhin durchgegangen, "ob Fakten tendenziös dargestellt waren oder die Sprache kränkend war. Ich fand aber nichts". Seine Sprache sei gemäßigt, "beleidigt habe ich niemanden". Worin der Tabubruch eigentlich bestehe, sei ihm unverständlich: "Die von mir genannten Statistiken und Fakten hat keiner bestritten."

Wie sehr er sich als herausragenden Exponenten einer Geisteselite sieht, dem selbst hochrangige Politiker nicht das Wasser reichen können, unterstreicht Sarrazin in seiner mit bildungsbürgerlichen Zitaten von Johann Wolfgang von Goethe und Anspielungen auf Heinrich von Kleist gespickten Tirade gegen die Banausen. So wirft er dem Bundespräsidenten vor, von der Halbbildung seiner Redenschreiber abhängig zu sein und den "West-östlichen Divan" von Goethe nicht zu kennen. Schließlich habe der Nationaldichter schon vor 200 Jahren auf "die totalitäre Gefahr" des Islams hingewiesen und kenne diese Religion viel besser als der frühere niedersächsische Ministerpräsident.

"Weh uns, wenn sich die Verhältnisse, in denen wir uns so behaglich und selbstgerecht aufgehoben fühlen, einmal zu unseren Ungunsten ändern sollten. Wir werden uns dann wundern über den überbordenden Opportunismus und die kriecherische Feigheit rings um uns", appelliert Thilo Sarrazin an den Konsens der Eliten, die sich vor der Hungerrevolte wappnen müßten. Daß er mit dieser Warnung bei seinesgleichen offene Türen einrennt, dürfte ihm nur zu bewußt sein. Was er zur Weihnachtszeit als Pseudostreit mit Politik und Medien auftischt, ist daher in erster Linie eine fortgesetzte Inszenierung zur Einbindung jener, die ihre Ausgrenzung keinesfalls in Streitbarkeit ummünzen dürfen.

Anmerkungen:

[1] Sarrazins persönlicher Jahresrückblick (24.12.10)
http://www.sueddeutsche.de/politik/abrechnung-mit-politik-und-medien-von-staatskrisen-und-scheiterhaufen-sarrazins-persoenlicher-jahresrueckblick-1.1040088

[2] 2010-Bilanz. Sarrazin vergleicht Merkels Kritik mit Heiliger Inquisition (24.12.10)
http://www.spiegel.de/politik/deutschland/0,1518,736526,00.html

[3] Migrationsdebatte. Sarrazin rechnet mit Politik und Medien ab (24.12.10)
http://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2010-12/sarrazin-politik-medien

25. Dezember 2010