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HERRSCHAFT/1582: Münchner Sicherheitskonferenz - Suche nach Wegen zur Kontrolle von Revolten (SB)



Die 47. Münchner Sicherheitskonferenz, die am Sonntag zu Ende ging, stand ganz im Zeichen des Aufruhrs in der arabischen Welt. Wenn alte diktatorische Regime stürzen, die bislang zuverlässige Sachwalter westlicher Hegemonialinteressen in ihrer Region waren, und diese Revolten nicht von den eigenen Geheimdiensten initiiert wurden, gibt das den herrschenden Kräften Anlaß zu größter Sorge.

NATO-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen, der auf der Sicherheitskonferenz die europäischen Akteure innerhalb des transatlantischen Pakts von der Notwendigkeit höherer Militärausgaben überzeugen wollte, sah sogar die Weltordnung gefährdet. Er meinte damit nicht allein das wirtschaftliche und militärische Erstarken der BRICS-Schwellenländer, sondern vor allem den unkalkulierbaren Auf- und Umbruch in Tunesien, Ägypten und weiteren Ländern: "Das Ergebnis dieses Aufruhrs bleibt unklar, seine langfristigen Folgen unabsehbar. Aber eines wissen wir: Alte Sicherheiten halten nicht länger, die tektonischen Platten geraten in Bewegung. Heute steht nicht nur die Weltwirtschaft auf dem Spiel, sondern die Weltordnung. Warum sollte Europa ausgerechnet jetzt beschließen, daß es nicht länger in die Verteidigung investieren muß?" [1]

Die militärische Schlagkraft der NATO wird noch gebraucht, um innerhalb der eigenen hegemonialen Sphäre wie auch außerhalb - das wäre dann der potentielle Expansionsraum - Aufstände einzudämmen oder zu lenken, also alte Regime zu stärken oder gegebenenfalls fallen zu lassen. Und um Rasmussens vom geopolitischen Raumbegriff gefärbtes Bild der Plattentektonik aufzugreifen: Auch die Abwehr von Flüchtlingsströmen von der afrikanischen und arabischen Platte auf den westlichen Teil der eurasischen Platte wäre eine Aufgabe der NATO in Ergänzung zur Grenzschutzagentur Frontex, sollten eines Tages größere Bevölkerungsgruppen aus ihren Notstandsgebieten in die privilegierten Regionen des Nordens aufbrechen.

Beispielsweise aus Tunesien. Einzig und allein der rasche Sieg der Aufständischen, der in der Flucht des tunesischen Präsidenten Zine el-Abidine Ben Ali seinen vorläufigen Höhepunkt erreichte, hat die französische Außenministerin Michèle Alliot-Marie zu einer verbalen Vollbremsung mit anschließendem Wendemanöver um 180 Grad genötigt. Noch kurz vor dem Umsturz hatte sie dem Regime Unterstützung bei der Unterdrückung von Aufständen angeboten und die französischen Erfahrungen auf diesem Gebiet betont - dabei hob sie womöglich auf den von Frankreich mit äußerster Härte geführten Algerienkrieg ab -, doch überraschenderweise erwies sich der Pakt mit dem alten Regime in Tunis als nicht mehr opportun, und Alliot behauptet inzwischen naßforsch, sie sei falsch verstanden worden.

Das transatlantische "Verteidigungs"-Bündnis NATO steht zwar regelmäßig im Mittelpunkt der Münchner Sicherheitskonferenz, weil die vorherrschende Verwertungsordnung letztlich militärisch abgesichert werden muß, aber Militär allein genügt nicht. Die (alte) NATO bildet nicht das einzige Mittel zur Durchsetzung der Vorherrschaft des Westens. Letztlich wäre sogar eine Zusammenarbeit mit ideologischen Gegnern oder Kräften der systemimmanenten Wirtschaftskonkurrenz denkbar. Zwar bedienen sich die herrschenden Kräfte bei der Absicherung ihrer privilegierten Position gerne nationaler Kategorien, um auf diese Weise Bevölkerungen gegeneinander in Stellung zu bringen und kontrollieren zu können, damit sie die Ordnung an sich, in der die Herrschaft des Menschen über den Menschen vorangetrieben wird, unhinterfragt bleibt. Aber die NATO käme auch mit Rußland als Partner gut zurecht. Insbesondere dann, wenn die Aussicht besteht, seine Atomwaffen unter Kontrolle zu bekommen. An diesem Ziel wird nicht zuletzt mit dem neuen START-Vertrag, den US-Außenministerin Hillary Clinton und ihr russischer Amtskollege Sergej Lawrow am Rande der Sicherheitskonferenz austauschten und der damit in Kraft trat, gearbeitet.

Seit dem Ende des Ost-West-Gegensatzes vor rund 20 Jahren versucht die NATO, sich neu zu erfinden und gesellschaftlich unverzichtbar zu machen, statt die historisch einmalige Chance zu nutzen und weltweit als Vorreiter einer massiven Abrüstungsbewegung aufzutreten. Da "nukleare Abschreckung" allein nicht mehr als Begründung des umfassenden militärischen Zerstörungspotentials genügt, werden Bezeichnungen wie "asymmetrische Kriegführung", "Kampf der Kulturen", "globaler Krieg gegen Terror", "Notfalloperationen in Übersee" (Overseas Contingency Operations) als Vorwände für den Erhalt des Militärapparats erfunden.

Schwindende Ressourcen, Klimawandel und Cyberangriffe sind drei weitere der geläufigen Bedrohungen, um die sich die NATO in Zukunft kümmern will. Ihren Strategen schwebt anscheinend etwas ganz anderes vor als die Aufrechterhaltung des mit Abstand umfangreichsten und entwickeltsten Militärapparats der Welt. Am liebsten sähen sie es, würde ihre Organisation mit umfassender, das heißt globaler Verfügungsgewalt ausgestattet. Eine Art Heimatschutzministerium und Pentagon unter einem Dach. Man könnte solch eine neue NATO auch als die militärisch-geheimdienstliche Sicherheitssäule innerhalb einer zukünftigen globalen Hyperadministration bezeichnen.

Viele Unwägbarkeiten liegen auf dem Weg zur Bildung einer solchen Institution. Andere Länder, die nicht unter den "Verteidigungs-"Schirm der NATO genommen werden, werden sich zusammenschließen, um einen Gegenpol zu bilden, wie das Beispiel Shanghai Corporation Group zeigt. Ob und in welcher Form es die NATO in zehn Jahren noch gibt, wenn die nächste Doktrin vorgestellt wird, läßt sich heute nicht absehen. Was jedoch erkennbar ist, das hat die Münchner Sicherheitskonferenz unmißverständlich gezeigt, daß Befreiungsbewegungen, wie sie jetzt in Ägypten an Wucht gewonnen haben, keineswegs die uneingeschränkte Unterstützung der NATO bzw. des Westens erhalten. Als Beispiel sei der Standpunkt von US-Außenministerin Hillary Clinton genannt, die einen demokratischen Wandel der alten Regierung in Zusammenarbeit mit zivilgesellschaftlichen Kräften befürwortete. [2] Reform statt Revolution lautet die herrschaftstreue Botschaft der Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Münchner Sicherheitskonferenz an die Aufständischen in der arabischen Welt.

Quelle:
[1] Übersetzung Schattenblick nach:

http://www.securityconference.de/Rasmussen-Anders-Fogh.620+M53db17c337d.0.html?&L=1

[2] Übersetzung Schattenblick nach:
http://www.securityconference.de/Clinton-Rodham-Hillary.626+M53db17c337d.0.html?&L=1

6. Februar 2011