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HERRSCHAFT/1719: Eingezwängt zwischen Staatsgewalt und Konkurrenzdruck (SB)



Mit der Forderung, die Bundespolizei solle bei illegalen Grenzübertritten notfalls von der Schußwaffe Gebrauch machen, rennt AfD-Chefin Frauke Petry nicht nur bei ausgesprochenen Fremdenfeinden offene Türen ein. De facto spricht sie aus, was der Forderung nach einer Beschränkung des legalen Zutritts vor Krieg und Not flüchtender Menschen zugrundeliegt. Den Vertretern der Regierungsparteien, die für diese Politik verantwortlich sind, fährt die Äußerung Petrys in die Parade, macht sie doch deutlich, daß ihr Rechtspopulismus in Struktur und Vollzug herrschender Gewaltverhältnisse angelegt ist. Da sich der Versuch, auf diese oder jene Weise Menschen vor der Tür zu lassen, an deren Not die Destabilisierungspolitik der EU im Nahen und Mittleren Osten mitverantwortlich ist, quer durch alle im Bundestag vertretenen Parteien zieht, ist der Aufschrei der Empörung so verständlich wie irreführend.

Der SPD-Fraktionsvorsitzende Thomas Oppermann etwa vergleicht Petrys Forderung mit dem Schießbefehl in der DDR. Doch weder die AfD-Chefin noch eine andere Partei verlangt, den Reiseverkehr der Bundesbürger mit Gewalt einzuschränken, ganz im Gegenteil. Was bei der anwachsenden Feindseligkeit, die den Flüchtenden hierzulande auf mehr oder weniger offene Weise entgegenschlägt, völlig untergeht, ist die prinzipielle Einseitigkeit eines Grenzregimes, das einreisende Menschen mit Verdächtigungen und Verboten aller Art traktiert, während die Ausreise der eigenen Staatsbürger in alle Welt selbstverständlich gewährleistet ist. Dies gilt nicht nur für die Sachwalter eines Kapitalexports, der zwar in anderen Ländern Arbeitsplätze schafft, dies jedoch unter arbeitsrechtlichen und lohntechnischen Bedingungen tut, die hierzulande inakzeptabel sind, dabei einheimische Unternehmen verdrängt und repressive Regimes unterstützt, die Ausbeutung und Unterdrückung garantieren. Die interkontinentalen Flugreisen, auf denen sich eine privilegierte Elite über die Nöte der am staubigen Boden klebenden Armen erhebt, machen auch einen neokolonialen Tourismus möglich, bei dem sich die Reisenden Dienstleistungen kaufen können, die hierzulande weder rechtlich noch moralisch integer sind. Das unterentwickelte Interesse für die Probleme der Bevölkerungen, die von Strömen zahlungsfähiger Touristen heimgesucht werden, entspricht den kulturalistischen Ressentiments, mit denen die nicht zahlungsfähigen Flüchtenden hierzulande empfangen werden.

So wird an den Grenzen der EU und der Bundesrepublik eine globale Klassengesellschaft konstituiert, in der zwischen legalen und illegalen Flüchtlingen, zwischen EU-Bürgern und Nicht-EU-Bürgern, zwischen Reisenden aus dem globalen Norden und dem globalen Süden mit zum Teil über Leben und Tod gebietender Konsequenz unterschieden wird. Die Selektionskriterien dieses Grenzregimes bilden das von Nord nach Süd steil abstürzende Reichtums- und Produktivitätsgefälle im Interesse des Erhalts der vertikalen Ordnung des kapitalistischen Weltsystems ab.

Die Konfrontation zwischen Angela Merkel, die die Durchlässigkeit der Grenzen für Wanderungsbewegungen und Handelsströme nicht aus humanitären, sondern hegemonial- und wirtschaftspolitischen Gründen verteidigt, und den Verfechtern einer strikteren Flüchtlingsabwehr in der eigenen Partei dreht sich vor allem um die Frage, wie weit der Bogen der durch Migration veränderten Klassenzusammensetzung gespannt werden kann, ohne die Basis eigener Herrschaft in Frage zu stellen. Daß von allen Beteiligten Länder wie der Jemen oder die Türkei als "sichere Herkunftsstaaten" anerkannt werden, zeigt, wie einig sich die Kontrahenten darin sind, die Gewaltverhältnisse in anderen Staaten zu den eigenen zu machen.

Aus einer ähnlich gelagerten Zweckrationalität heraus sprechen sich deutsche Unternehmerverbände dafür aus, den massenhaften Zustrom flüchtender Menschen nicht voreilig zu unterbinden, erweitern diese doch die Basis der Lohnabhängigen zugunsten der Kostensenkung der Ware Arbeit und schaffen darüberhinaus wertsteigernde Verknappung auf dem Wohnungsmarkt. Die Zurichtung der Menschen auf die Konkurrenz am Arbeitsmarkt läßt aber auch das Potential an sozialem Widerstand durch die schiere Masse der Lohnabhängigen wie ihre Internationalisierung anwachsen. In den Arbeitskämpfen der siebziger Jahre standen Migrantinnen und Migranten häufig an vorderster Front der Streikenden, und auch heute ist keineswegs gewährleistet, daß sich die Flüchtenden auf längere Sicht mehr als die in Deutschland lebenden Arbeiterinnen und Arbeiter gefallen lassen. Wenn diese ihrer Unterwerfung unter das Diktat der Lohnarbeit den Vorzug geben, indem sie sich rechtspopulistischen Bewegungen und Parteien anschließen, heißt das keineswegs, daß sie mit der Bekundung, Staat und Kapital zuverlässig dienen zu wollen, dauerhaft am längeren Hebel sitzen. Mit dem Zustrom von Flüchtenden, die den Besitzstand der einheimischen Bevölkerung, das Vorrecht auf die verfügbare Arbeit zu haben, in Frage stellen, verändert sich die Basis der Lohnabhängigen in eine für nationalistische Politik nach innen wie außen eher unverträgliche Weise.

Wer soziale Widersprüche in alle Welt exportiert, indem er das kostengünstige Überleben der lohnarbeitenden Bevölkerung durch Konsumartikel sichert, die Näherinnen in Bangladesch, Fließbandarbeiterinnen in China und Lohnsklaven auf den Feldern Brasiliens im wortwörtlich zu verstehenden Sinne abgepreßt werden, schreckt bei der Einflußnahme auf die Verhältnisse in anderen Ländern auch vor militärischer Gewalt nicht zurück. Um die materiellen Unterschiede zwischen Menschen bewirtschaften zu können, werden nicht nur Klassenwidersprüche reguliert, sondern auch Staatsgrenzen verteidigt, und das geht in absehbarer Konsequenz nur unter Schußwaffeneinsatz. Den Anspruch zu erheben, Fluchtbewegungen unmöglich zu machen, ohne die absehbar tödliche Folge dieser Forderung einzugestehen, heißt den Menschen etwas über die Gewaltbereitschaft des Staates vorzumachen.

Der Bevölkerung mit dem Argument Sand in die Augen zu streuen, ihre verbriefte Zugehörigkeit zur nationalen Notgemeinschaft garantiere per se, von der Unbill globaler Verteilungskämpfe verschont zu bleiben, ist keine Strategie, die Pegida und AfD erfunden haben. Die Menschen darüber im Unklaren zu lassen, daß sie mit oder ohne Zuwanderung soziale Verschärfungen zu erwarten haben, die ihre Lebenslage drastisch verschlechtern können, ist essentieller Bestandteil einer Regierungspolitik, die den Schwächsten auflastet, die Rechnung für die Sicherung der Herrschaft, die über sie ausgeübt wird, zu begleichen.

31. Januar 2016


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