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HERRSCHAFT/1733: Gegen Freihandel und darüber hinaus ... (SB)



Wenn über 300.000 Menschen in sieben deutschen Großstädten gegen die Freihandelsabkommen TTIP und CETA auf die Straße gehen, dann handelt es sich zum wiederholten Male um die größte Mobilisierung gegen ein Regierungsprojekt, das von einflußreichen Teilen des Kapitals und der Bourgeoisie getragen wird. Daran ist anzuknüpfen, denn die Menschen protestieren nicht nur gegen ein Vorhaben, das in Zukunft realisiert werden könnte. Sie entwickeln Interesse an dem Thema aus einer bereits widersprüchlichen Lage heraus, die zu überwinden das primäre Anliegen ist, ansonsten gäbe es keinen Grund, nicht die Propaganda der Wachstum, Wohlstand und Jobs schaffenden Auswirkungen transatlantischer Handelsverträge zu schlucken.

Der Instinkt trügt nicht - es kann nicht nur um einen "gerechten" oder "fairen" Welthandel gehen, wie die Parolen der Veranstalter und im Anti-TTIP-Bündnis aktiven NGOs glauben machen. Die Misere ist nicht damit zu beheben, daß die regulatorischen und neoliberalen Auswüchse eines krisenhaften Weltsystems begrenzt werden, denn der soziale Krieg gegen den globalen Süden ist längst im Gange und erreicht in Form verschärfter Klassenkämpfe auch die Komfortzonen der westlichen Metropolengesellschaften. Die Lebenslüge eines im Prinzip, wenn nur alle guten Willens sind und sich ein klein wenig zurücknehmen, zum allgemeinen Wohl gereichenden Kapitalismus ist als solche schon daran zu erkennen, daß es keiner weiteren Liberalisierungen und Deregulationen bedarf, ist das Leben von Millionen Menschen doch längst zur Hölle auf Erden geworden.

Von einer sinnvollen internationalen Arbeitsteilung kann nicht ausgegangen werden, polarisiert sich die Welt doch zusehends in Zonen massiv zerstörerischer Rohstoffextraktion und Inseln lukrativer industrieller Endfertigung. Verschärft wird der soziale Widerspruch durch einen Klimawandel, der nicht alle gleichermaßen betrifft, sondern tropische und subtropische Regionen längst mit Dürrekatastrophen heimsucht, die den ohnehin verarmten Bevölkerungen einen durch Mangel und Hunger beschleunigten frühen Tod bescheren. Werden Produktionsstufen auf der Suche nach den billigsten Fertigungskosten zwischen Kontinenten hin und her verfrachtet, dann zeitigt die kapitalistische Globalisierung im Rahmen der Welthandelsordnung ganz ohne den Turbo zusätzlicher Freihandelsabkommen nicht wiedergutzumachende Schäden. Das gleiche gilt für einen von den Geschäftsinteressen der Unternehmen und des Tourismus getriebenen Flugverkehr, der einem kleinen Teil der Weltbevölkerung den Luxus einer Kontinente übergreifenden Mobilität beschert, während er anderen immer längere strapaziöse Fußmärsche zu immer sparsamer sprudelnden Trinkwasserquellen aufnötigt [1].

Doch auch die Gesellschaften der sogenannten Industriestaaten treten mit technisch hochentwickelten und essentielle Ressourcen verschlingenden Produkten gegeneinander an, um im Endeffekt eine Überproduktion in die Welt zu setzen, für die es nicht einmal genügend zahlungsfähige Nachfrage gibt, geschweige denn eine sozialökologisch sinnvolle Verwendung. Der Automobilismus ist die Paradedisziplin destruktiven Überaufwandes, das gilt nicht nur für seine fossile, sondern auch elektrifizierte Variante. Millionen Fahrzeuge, die sich ohnehin nur eine wohlhabende Klientel leisten kann, unter erheblichem Verbrauch mineralischer und fossiler Rohstoffe für einen Individualverkehr herzustellen, der zu immer mehr Flächenversiegelung und klimaschädlicher Zementproduktion führt, ist einer Verwertungslogik geschuldet, die vom Bedarf der Menschen wie dem Schutz der Natur völlig entkoppelt ist.

Die Internationalisierung des Kapitals verschärft die globale Krisenkonkurrenz, indem die Produktivkräfte an den Basisbedürfnissen der Menschen nach trinkbarem Wasser, gesunden Lebensmitteln, erschwinglichem Wohnraum und inklusiver medizinischer Versorgung vorbei und damit gegen sie entfesselt werden. Knappheit und Mangel sind die Voraussetzungen aller tauschwertgestützten Ökonomie und damit eines Welthandels, dessen Gerechtigkeit darin besteht, das Recht der herrschenden Eigentumsordnung zum Nachteil eigentumsloser Menschen privatwirtschaftlich durchzusetzen. Auf der Suche nach verwertbaren Anlagemöglichkeiten stehen die Kapitale zueinander in Konkurrenz, was die Entwertung des Geldes bei gleichzeitig immer unerschwinglicher werdenden Lebensmöglichkeiten und zusehends prekärer Lohnarbeit vorantreibt. Die Externalisierung der Kosten durch unmäßigen Naturverbrauch und monströse Tierausbeutung wird durch die geplanten Freihandelsabkommen vielleicht begünstigt, gehört aber längst zum Alltag kapitalistischen Krisenmanagements.

Der Widerstand gegen TTIP, CETA und TiSA ist ein positives Zeichen, auch wenn es unter den Gegnern der Freihandelsabkommen nicht wenige gibt, die einer nationalökonomisch und standortpolitisch verkürzten Kritik an diesen Herrschaftsprojekten folgen [2]. Gerade weil die Gesellschaft stramm nach rechts marschiert, gilt es antikapitalistische und sozialökologische Grundsatzkritik zu üben, die nationale Grenzen und sozialökonomische Barrieren überwindet, sonst wäre es keine. Um notwendige Kritik am Produktivismus der Wachstums- und Wettbewerbsdoktrin zu üben, kann auch eine an Verteilungskämpfen orientierte Linke dazulernen. Herrschafts- und Systemkritik ohne ideologische Scheuklappen betrifft stets auch das Verhältnis von Kapital und Arbeit, ist ohne die soziale und Klassenfrage unvollständig. Um aber auch die vielen Menschen anzusprechen, deren Widerstand gegen ökologische Zerstörung, kulturelle Gleichschaltung oder Tierausbeutung empathisch begründet ist, können Analyse und Kritik der politischen Ökonomie gesellschaftlicher Gewaltverhältnisse helfen, ihr Interesse in eine Richtung zu öffnen, die immun ist gegen sozial- und nationalchauvinistiche Feindbilder.


Fußnoten:

[1] RAUB/1091: Black Lives Matter ... nicht im internationalen Flugverkehr (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/politik/kommen/raub1091.html

[2] BERICHT/083: TTIP Nein danke - Innovativverwertung humaner Ressourcen ... (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/buerger/report/brrb0083.html
http://www.schattenblick.de/infopool/buerger/report/brrb0084.html

18. September 2016


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