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HERRSCHAFT/1776: Die Grünen - flügellos geht's geradeaus ... (SB)



Als parteipolitische Sammlungsbewegung verschiedener Strömungen weisen die Grünen zwei Flügel auf, die zeit ihrer Geschichte den internen Machtkampf um den Kurs der Gesamtpartei besonders prägnant und von der Öffentlichkeit wahrgenommen ausgetragen haben. Daß man beim rechten Flügel immer noch von "Realos", hingegen beim linken kaum noch von "Fundis" spricht, legt nahe, welche Fraktion sich in diesem Ringen noch immer durchgesetzt hat. Da sich die Grünen nicht einer Fundamentalopposition verschrieben, sondern nach Regierungsbeteiligung strebten, mußten sie ihre Regierungsfähigkeit beweisen, was sie denn auch mit Brachialgewalt taten. Der erste Angriffskrieg unter offizieller Beteiligung der Bundeswehr seit dem Untergang des NS-Staats und der beispiellose Kahlschlag des Sozialstaats mittels Agenda 2010 und Hartz IV unter dem rot-grünen Duo Schröder/Fischer wurden bezeichnenderweise nicht von einer konservativ geführten Administration, sondern einer linksbürgerlich-reformistischen Allianz auf den Weg gebracht. Der wohl bedeutendste Innovationsschub der Herrschaftssicherung und Kapitalverwertung seit Gründung der Bundesrepublik bedurfte eines sozialtechnokratischen Akzeptanz- und Befriedungsmanagements, das bei dem Schein nach fortschrittlichen Kräften damals in besseren Händen war. Das ist keineswegs ein Treppenwitz der Geschichte, sondern zeugt von der unablässigen Teilhaberschaft und Indienstnahme jener Interessen, die ihr Ohr in gewissem Ausmaß am Puls der zu unterwerfenden Bevölkerungsgruppen haben.

Um ihre Flügel- und Fraktionskämpfe soweit zu zügeln, daß die Partei nicht daran zerbrach, verordneten sich die Grünen als Korsett einen Flügelproporz bei der Besetzung von Spitzenämtern, eine Doppelspitze aus Frau und Mann sowie die Trennung von Amt und Mandat. Zudem hat die Basis bei den Grünen mehr Mitspracherechte, als dies in anderen Parteien der Fall ist, weil sie über Parteitage hinaus bei wichtigen Fragen per Urwahl an der Entscheidung beteiligt wird. Dies wurde im Laufe der Jahre von innen und außen immer wieder als Kinderkrankheit belächelt, als Hindernis in Abrede gestellt und als einer reifen Partei unwürdig der baldigen Abschaffung anempfohlen. So wenig diese Strukturen die Partei zu einer genuin basisdemokratisch organisierten Form politischen Kampfes machen und so sehr sie eine konsequente Beschneidung von Hierarchie und Führungsmacht vortäuschen mögen, bleiben sie doch zumindest eines: Ein Seismograph für innerparteiliche Erdbeben, wenn populäre Realos wieder einmal versuchen, die Grünen auf ihre Interessen einzuschwören und diese mit dem Willen der Partei gleichzusetzen, so daß der Gegenflügel endlich in der Versenkung verschwinden möge.

Wer sich diesem Anliegen verschrieben hat, darf freilich nicht wie ein Elefant im Porzellanladen zu Werke gehen, riefe er doch augenblicklich geharnischten Protest jenes Teils der Basis auf den Plan, der an den für ehern erachteten Prinzipien nicht rütteln will. Aufstrebende Bannerträger und selbst Idole des Parteivolks brauchen Fingerspitzengefühl, Timing und nicht zuletzt wortakrobatische Überzeugungskraft, um die Entsorgung verbliebener Prinzipien als pragmatische Erfolgsrezepte zugunsten aller zu verkaufen. Fliegende Farbbeutel wie einst der Kriegstreiber Joseph Fischer haben sie wohl eher nicht mehr zu befürchten, aber Einbußen in der Gunst der Parteimitglieder schon, solange die noch ein Wort mitzureden haben.

Als die Jamaika-Verhandlungen aus Sicht der Grünen immer besser liefen, schien der Zug für innerparteiliche Umwälzungen auf lange Zeit abgefahren zu sein. Cem Özdemir und Katrin Göring-Eckardt profilierten sich derart, daß selbst die Konzernpresse sie als Fels in der Brandung koalitionären Gezerres sah. Der schwarz-grüne Schulterschluß auch auf Bundesebene schien zum Greifen nah, was dazu beigetragen haben mochte, daß Lindner, den Katzentisch für die FDP in einer künftigen Bundesregierung fürchtend, plötzlich die Reißleine zog.

Das unverhoffte Scheitern der Koalitionsverhandlungen war für die Grünen eine herbe Enttäuschung, schuf aber schlagartig ein günstiges Klima zur Durchsetzung langgehegter Ambitionen, Führungspositionen neu zu besetzen und zugleich den Einfluß des linken Flügels massiv zu beschneiden. Özdemir machte mit seiner Entscheidung, beim Parteitag Ende Januar das Amt des Parteichefs abzugeben, den Weg für einen Umbruch frei. Seine Chancen, Mitte Januar zum Fraktionsvorsitzenden gewählt zu werden, gelten jedoch als gering, weil nach dem Flügelproporz neben der Realo-Frau Katrin Göring-Eckardt nur ein Vertreter des linken Flügels in Frage kommt. Als neue Parteichefs sind die Realos Robert Habeck und Annalena Baerbock favorisiert. Einem Durchmarsch des rechten Flügels auf ganzer Linie stehen also (nur noch) die traditionellen Strukturen zur Verteilung und Beschneidung innerparteilicher Macht entgegen.

Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann, erfolgreicher Sachwalter einer grün-schwarzen Koalition in seinem Bundesland und wirtschaftsfreundlicher Protagonist derselben auf Bundesebene, hat seine Partei dazu aufgerufen, den Flügelproporz bei der Besetzung von Spitzenämtern zu beenden. "Die Bevölkerung interessiert sich nicht für unsere Flügel, die interessiert sich für unser Programm und für glaubwürdige Personen, die das vertreten. Es sollte eine Bestenauswahl geben, keine Flügelauswahl", forderte Kretschmann und legte der Bundestagsfraktion die Wahl von Cem Özdemir nahe. "Er wäre ein guter Fraktionschef", betonte er und verwies dabei auf die schwierige Rolle der kleinsten Oppositionsfraktion im neuen Bundestag. "Bei Debatten kommen wir immer als Letzte dran. Deshalb müssen wir die besten Leute nach vorn stellen - bei der neuen Spitze der Bundespartei und bei der neuen Fraktionsspitze. Dann können wir diese Nachteile aushalten und eine gute Rolle spielen als Konzeptpartei mit Realitätssinn. Aber das muss die Bundestagsfraktion entscheiden." [1]

Bei der Parteilinken kommt der Vorstoß Kretschmanns natürlich gar nicht gut an. "Flügel sind kein Selbstzweck, sie transportieren Inhalte und organisieren die verschiedenen Meinungen innerhalb der Partei", unterstrich die Sprecherin der Grünen Jugend, Ricarda Lang. Deshalb sei es wichtig, daß die Flügel auch in Spitzenämtern repräsentiert seien. Lang setzt sich dafür ein, daß der Parteilinke Anton Hofreiter als Co-Fraktionschef im Amt bleibt.

Auch die Vorsitzende der Grünen, Simone Peter, hat sich im Streit um die Zukunft der Partei gegen Kretschmann gestellt. "Wir sind eine progressive, links verortete Kraft", so Peter. "Mir ist wichtig, dass wir das auch bleiben." Deshalb sollten im Bundesvorstand unterschiedliche Strömungen der Grünen repräsentiert sein. "Sonst drohen Ungleichgewichte, die unserer Partei nicht guttun." Es seien vor allem Parteilinke, die Themen wie Verteilungsgerechtigkeit in den Fokus rückten, hob auch sie die unterschiedlichen inhaltlichen Schwerpunkte und Ausrichtungen der Flügel hervor, die Kretschmann bei seinem Vorstoß zugunsten einer "Bestenauswahl" zu verschleiern versucht. [2]

Für den Bundesparteivorsitz hat der schleswig-holsteinische Umweltminister Robert Habeck eine Kandidatur angekündigt, wenn er ein Jahr lang oder jedenfalls für eine angemessene Frist zugleich Landesminister bleiben kann. Dazu müßte allerdings die Parteisatzung der Grünen aufgeweicht werden, was Kretschmann unterstützt: "Ich halte viel von Robert Habeck", sagte er. "Folglich bin ich auch für eine Änderung der Parteisatzung." Bei der Urwahl zum Spitzenkandidaten seiner Partei fehlten Habeck nur 75 Stimmen zum Sieg gegen Cem Özdemir. Daraufhin hatte der grüne Kreisverband Landau angeregt, die Satzung der Grünen zu ändern, damit Mitglieder von Landesregierungen auch Teil des Bundesvorstands werden können. Habeck selbst hatte sich zu dem Antrag, der auf dem Parteitag Ende Januar zur Debatte steht, lange nicht direkt geäußert.

Nun aber erklärte er, es schade nicht, wenn die Vision von grüner Politik mit der Umsetzung grüner Politik verzahnt sei. "Davon können wir profitieren. Wie weit wir als Partei bei unserer Satzung dabei gehen wollen, wird der Parteitag oder werden vielleicht sogar die Mitglieder entscheiden." Sollte Habeck gewählt werden, will er für eine Übergangszeit Minister bleiben. "Ich habe meinem Land gegenüber eine Verpflichtung", begründete er seine Forderung nach einer Sonderregel. "Das, worum ich bitte, ist, damit verantwortungsvoll umgehen zu können und einen geordneten Übergang möglich zu machen." In Schleswig-Holstein seien die nächsten Monate in der dortigen Jamaika-Koalition mit CDU und FDP entscheidend für die Energiewende und die Klimaschutzziele. "Da kann ich mich doch nicht holterdiepolter davonmachen. Aber selbst wenn wir die Trennung von Amt und Mandat grundsätzlich aufheben würden", so Habeck, "würde ich aus Respekt vor beiden Aufgaben, beiden Ämtern, wie angekündigt aus dem Ministeramt scheiden". [3]

Habeck spricht sich nicht nur für die Abschaffung der Trennung von Amt und Mandat aus, sondern entwickelt auch ein Konzept der Einbindung der Parteiflügel, als sei er nicht den Realos zuzurechnen, sondern stehe als Instanz darüber. Er charakterisiert seine Partei mit ihren mehr als 60.000 Mitgliedern als ein dynamisches Gebilde, das sich durch eine Vielfalt der Meinungen auszeichne. Die Grünen seien "eine vitale, brodelnde Gruppe von Menschen, die sich einbringen, streiten, ringen. Das brauchen wir. Da bin ich also ganz basisgrün." Auf der anderen Seite müsse sich diese Parteiorganisation seines Erachtens nicht "zwingend abbilden in Unter- und Spiegelstrich-Gruppen. Das spiegelt heute einfach nicht mehr die Komplexität von grüner Wirklichkeit wider." Für ihn sei nicht die entscheidende Frage: "Wer wird was bei den Grünen?, sondern: Wer sind die Grünen?" Und diese Frage könne er gut mit den Flügeln, aber ohne Fixierung auf Flügelzugehörigkeit beantworten. [4]

Die Ankündigung Habecks und auch Baerbocks, die Parteiflügel einbinden zu wollen, nannte Simone Peter ein "hehres Anliegen". Da beide zum gleichen Flügeltreffen gingen, entgehe ihnen allerdings ein Teil der innerparteilichen Diskussion. "Ich werbe daher für Ausgewogenheit an der Spitze", so die Parteivorsitzende. Sie sprach sich dafür aus, die Doppelspitze in der bisherigen Form beizubehalten: "Eine Doppelspitze aus Mann und Frau ist gelebte Macht- und Aufgabenteilung. Die Aufteilung nach Strömungen demonstriert innerparteiliche Demokratie." Dieser Proporz sei "zeitgemäßer denn je". Peter tritt Ende Januar noch einmal um das Amt der Vorsitzenden an, wird dabei aber von der Bundestagsabgeordneten Annalena Baerbock herausgefordert. Zugleich signalisierte sie Interesse, sich um die Spitzenkandidatur bei der nächsten Bundestagswahl zu bewerben. [5]

Zum Auftakt des neuen Jahres kündigt sich also bei den Grünen ein veritables Armdrücken um den künftigen Kurs der Partei an. Die prominentesten Vertreterinnen und Vertreter der Realos wollen die Malaise der verhinderten Regierungsbeteiligung nutzen, um den bislang für unantastbar gehaltenen Modus der Besetzung von Führungspositionen aus der Welt zu schaffen oder zumindest die Weichen in diese Richtung zu stellen. War diese Struktur bislang ein Minderheitsschutz für den linken Flügel, so wäre deren Beseitigung zweifellos mit einem weiteren Verlust der von der Parteilinken vertretenen Positionen verbunden. Statt ihr Profil als Opposition gegen eine große Koalition zu schärfen, wären die Grünen dann in den kommenden vier Jahren vor allem damit beschäftigt, sich mit flügellosem Realitätssinn schwarzkompatibel zu formieren.


Fußnoten:

[1] http://www.rp-online.de/politik/deutschland/winfried-kretschmann-will-die-besten-der-gruenen-statt-fluegelproporz-aid-1.7291608

[2] http://www.zeit.de/politik/deutschland/2017-12/simone-peter-bundesvorsitzende-die-gruenen-debatte-programmatik

[3] http://www.spiegel.de/politik/deutschland/gruene-robert-habeck-fuer-ende-der-trennung-von-amt-und-mandat-a-1185218.html

[4] https://www.welt.de/politik/deutschland/article171843227/Robert-Habeck-im-Interview-Der-Patriotismus-muss-doch-groesser-sein-als-Deutschland.html

[5] https://www.focus.de/politik/deutschland/chaos-bei-den-gruenen-simone-peter-macht-front-gegen-robert-habeck_id_8160018.html

2. Januar 2018


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