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HERRSCHAFT/1784: Solingen - im Großen wie im Größeren ... (SB)



Man solle sich vor Augen führen, daß Fremdenfeindlichkeit zu dem abscheulichen Verbrechen von Solingen geführt habe. Daher müsse man gegen jegliche Form des Extremismus, gegen Haß und Intoleranz zusammenstehen, um für ein friedliches und vielfältiges Zusammenleben in der Gesellschaft zu sorgen. Vom Saulus zum Paulus - Bundesinnenminister Horst Seehofer ist nicht wiederzuerkennen, seit er aufgrund des Todes von fünf Frauen und Kindern, die vor 25 Jahren Opfer des Fremdenhasses jugendlicher Nazis geworden waren, realisiert hat, daß in diesem Land Menschen sterben müssen, wenn seinesgleichen mit fremdenfeindlichen Parolen davon ablenken, was tatsächlich im argen liegt. Doch bekanntlich ist es nie zu spät, und warum sollte man nicht einem eingefleischten CSU-Populisten abnehmen, die fatalen Auswirkungen eigener Machtstrategien erkannt und überwunden zu haben.

Nicht anders der türkische Außenminister Mevlüt Cavusoglu. Auch er präsentierte sich bei einem Besuch in der Staatskanzlei in Düsseldorf als Vorkämpfer antirassistischer Ideale und internationaler Solidarität. Er sei gekommen, um eine Botschaft des Zusammenhalts zu senden und gegen Rassismus in jeder Form anzutreten, so der türkische Regierungspolitiker, in dessen Haus noch vor kurzem der militärische Überfall auf das mehrheitlich kurdische Selbstverwaltungsgebiet Afrin in Nordsyrien bejubelt wurde. Die AKP ist in der Türkei mit jener faschistischen MHP ein Wahlbündnis eingegangen, die als türkisches Äquivalent zu AFP und NPD gelten kann. Insofern könnte die Annahme seines Angebotes, der Bundesregierung in jeder Hinsicht in ihrem Kampf gegen Rassismus beizustehen, die paradoxe Folge haben, daß kurdische Menschen in der Bundesrepublik noch mehr um ihr Leben fürchten müssen als angesichts der Mesalliance deutscher und türkischer Nationalisten ohnehin schon.

Zweifellos haben die Hinterbliebenen der Opfer von Solingen allen Grund, nach der Kette rassistischer Verunglimpfungen und Anschläge der letzten 25 Jahre der Friedenspredigt nicht zu trauen. Ob der SPD-Politikers Thilo Sarrazin über muslimische Gebärfreude schwadroniert, ob AfD-Chef Alexander Gauland hofft, die türkischstämmige Integrationsbeauftragte Aydan Özoguz nach Anatolien entsorgen zu können, ob die Morde des NSU in ihrer Aufklärung erfolgreich verschleppt werden und zahlreiche Brandanschläge auf Asylbewerberheime stattfinden, ohne daß die Täter auch nur einen annähernd ähnlichen Verfolgungsdruck befürchten müssen wie politische Attentäter, die aufgrund ihrer Gesinnung schon als sogenannte Gefährder des Terrorismus verdächtigt werden - immer wieder wird die Elle einer Staatsräson angelegt, die eingemeindet und ausgrenzt, aber nicht Gleiches mit Gleichem vergilt.

Sich auch nur auf ein Zweckbündnis mit PolitikerInnen einzulassen, denen rassistische Ressentiments jedweder Art stets dann willkommen sind, wenn sie auf fruchtbaren Boden fallen, also fast immer, wird nicht dadurch besser, daß es sich um einen Vertreter der türkischen Regierung handelt. Als Repräsentant der in Deutschland nach wie vor diskriminierten Minderheit türkischer Menschen ist Cavusoglu denkbar schlecht geeignet, ist er doch wie alle Parteigänger Erdogans dafür verantwortlich, daß Menschen linker Gesinnung und kurdischer Herkunft in der Türkei umgebracht, verfolgt und eingeschüchtert werden.

Das Gedenken von Solingen abzukoppeln von heutigen Ereignissen politischer Willkür und Verfolgung nimmt der blutigen Tat denn auch jede Wirkung, die über die flüchtige Wirkung symbolpolitischer Pflichttermine hinausgehen könnte. Derartige Rituale bleiben hohl, wenn die dabei ausgeblendeten Widersprüche nicht bearbeitet werden. Diese liegen im Falle der Tat von Solingen, die bis heute trotz der politischen Motivation der vier Täter als Brandanschlag und nicht als Terrorakt bezeichnet wird, in der maßgeblichen Beteiligung von PolitikerInnen an ihrem Zustandekommen. So versöhnlich sie sich am Tag des Gedenkens geben, so harsch skandalisieren sie am nächsten die angeblich regelwidrige Anerkennung flüchtender Menschen, wozu es im Falle regelwidrig abgeschobener Menschen noch nie gekommen ist. Wenn SchülerInnen oder Flüchtlinge versuchen, die Abschiebung von Asylbewerbern zu verhindern, macht der Lärm ihrer Empörung jeden Gedanken daran zunichte, daß diese Menschen Zivilcourage zeigen und wertvollen Idealen wie dem aktiven Eintreten für schwache und verletzliche Menschen folgen.

Ein Gedenken ohne politische Forderungen, die den zweckdienlichen Konsens eines Friedens sprengen, dem jeder zustimmen kann, weil dieses Ja so beliebig ist wie das Nein, das kurz darauf an seine Stelle tritt, hat bestenfalls Verweischarakter für Menschen, die zu jung sind, um von dem gewürdigten Ereignis zu wissen. Sein realer politischer Wert besteht in der Beschönigung jener Ignoranz und Grausamkeit, die in diesem Falle ganz konkret durch die Allianz Berlin-Ankara bekräftigt und gedeckt werden. Sollte die Kritik am Rassismus einmal so inhaltsleer werden, daß sich ein Seehofer und ein Cavusoglu damit schmücken können, ohne scharfen Widerspruch aus der Mitte der Gesellschaft zu erhalten, dann tun Menschen, denen es um die Sache selbst geht, gut daran, sehr deutlich klarzustellen, wo die Trennscheide zwischen affirmativer Beschwichtigung und streitbarer Solidarität verläuft.

30. Mai 2018


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