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HERRSCHAFT/1789: Chemnitz - Erfüllung und Versagen ... (SB)



Kippt die Zivilgesellschaft? Dlf-Moderator Philipp May fragt angesichts von über 5000 Personen , die Parolen wie "Für jeden toten Deutschen einen toten Ausländer", "Ausländer raus" oder "Deutsch, sozial und national" skandieren und Jagd auf aus ihrer Sicht nichtdeutsch aussehende Menschen machen, ob es vorbei sei mit der bürgerlichen Zivilität in Chemnitz. Wo sich, so die jüngsten im Deutschlandfunk wiedergegebenen Schätzungen, am Montag nur einige hundert GegendemonstrantInnen dieser entfesselten Masse entgegenstellen, ist deren Herrschaft über die Straße wohl kaum zu bezweifeln. Inwiefern es sich um organisierte Neonazis, Hooligans und andere Rechtsradikale handelt, ist vom Ergebnis pogromhafter Übergriffe her betrachtet nicht entscheidend. Wenn größere Gruppen der Bevölkerung für Angriffe auf ethnische Minderheiten wie in Hoyerswerda 1991, wo es zu tagelangen Angriffen auf ein Flüchtlingswohnheim kam, zu mobilisieren sind, dann nimmt der Bürgerkrieg, den einzuhegen das treibende Motiv des bürgerlichen Rechtstaates sein soll, unverkennbar Gestalt an.

Über den originären Anlaß, einer mit Messern ausgetragenen Auseinandersetzung zwischen mehreren Personen, bei der ein Deutschkubaner erstochen wurde, ein Iraker und ein Syrer unter Verdacht des Totschlages festgenommen wurden und zwei Rußlanddeutsche beteiligt gewesen sein sollen, ist wenig mehr bekannt, als daß es sich um eine gewalttätige Konfrontation zwischen jungen Männern handelte. Als Anlaß zur Mobilisierung Tausender Personen, die sich zumindest teilweise als Neonazis zu erkennen geben, taugen auch andere Gewaltdelikte wie etwa die Vergewaltigung einer deutschen Frau durch einen nichtdeutschen Mann. Solange das Bild einer von Ausländern bedrohten "Volksgemeinschaft" befeuert werden kann, sind die Aggressionspotentiale offensichtlich ohne weiteres abrufbereit. Anschläge auf MigrantInnen oder Linke hingegen werden in der immer länger werdenden Statistik rechtsradikaler Aggressionen verbucht, ohne daß sich in der Bevölkerung viel Empörung regte.

Diese politische Gewichtung massenhafter aggressiver Übergriffe legt nahe, daß die Zivilgesellschaft nicht etwa kippt, sondern zu sich selbst, zu den sie fundierenden Gewaltverhältnissen, kommt. Was unter dem dünnen Firnis des vom staatlichen Gewaltmonopol gesicherten Friedens hervortritt, sieht genauso häßlich aus, wie es sich anfühlt, voller Haß angeschrieen oder einen Faustschlag ins Gesicht verpaßt zu bekommen. Die Feindseligkeit einer auf Überlebenskonkurrenz errichteten Gesellschaftsordnung ist keine unerwünschte Nebenwirkung, sondern Produktivfaktor einer politischen Ökonomie, die Mangel an verfügbaren Lebensmitteln produziert, um geldförmige Werte überhaupt als solche bestimmen zu können. Wo Tauschwert und Warencharakter die relevanten Faktoren des kapitalistischen Gemeinwesens darstellen, erzeugen Menschen keine kollektiv zu nutzenden Gebrauchswerte, sondern treten zueinander in einen Wettbewerb, dem der tendenziell unerfüllte Bedarf an elementaren Lebensmitteln konstitutiv ist.

Die auf der Materialität des sozialen Gegeneinanders errichtete Zivilgesellschaft vollzieht die Abgrenzung zum Krieg aller gegen alle (Bellum omnium contra omnes), den der Staatstheoretiker Thomas Hobbes als gesellschaftlichen Naturzustand bezeichnete, um die Übertragung der Macht auf einen staatlichen Souverän als die beste aller schlechten Lösungen propagieren zu können, als notgedrungenen Negativentwurf. Der positive Ruf der Zivilität wäre ohne die systematisch hergestellte Kultur des Vergessens und der Ignoranz, wie sie sich in der kulturindustriellen Ödnis der ästhetischen Animationen und spektakulären Sensationen nicht besser spiegeln könnte, nicht aufrechtzuerhalten. Sämtliche Grausamkeiten, derer es bedarf, um die industrielle Produktivität und das hohe Verbrauchsniveau an natürlichen Ressourcen zu gewährleisten, werden mehr oder minder wirksam unter den Teppich der selbstzufriedenen Gewißheit gekehrt, daß man das satte Leben und seine luxuriöse Stimulierung verdient habe.

Das inzwischen verbreitete Bewußtsein für die Endlichkeit natürlicher Lebensressourcen führt keineswegs zu einem Bruch mit dieser Gewißheit, soll die vielleicht etwas knapper bemessene Umverteilung doch mit grünkapitalistischer Effizienz beheben, was zu Recht an der imperialen Lebensweise ungehemmten Verbrauches kritisiert wird. Die gegen ausländische MitbewerberInnen gerichtete Demagogie neuer Volkstribune, die mit einem angeblich allein von Deutschen erwirtschafteten Wohlstand hausieren gehen, der schon durch die schlichte Existenz einer weltweit tätigen Kreditwirtschaft widerlegt wird, kann nur verfangen, weil die globalen Zusammenhänge eigener Überlebenssicherung weit vor dem Punkt, an dem die Rechnung nationalen Erfolges aufgemacht wird, ausgeblendet werden. Das Lamentieren bürgerlicher PolitikerInnen über den "rechten Mob" ist so unglaubwürdig wie die falsche Emphase, mit der an dieser Stelle beklagt wird, was an anderer Stelle, namentlich im Verhältnis zur imperialen Peripherie und zum globalen Süden, für gegenstandslos erklärt wird.

Dementsprechend leichtfertig werden die GegendemonstrantInnen von Chemnitz als "links" tituliert. Zweifellos befanden sich unter ihnen auch Menschen, die sich nicht zu diesem politischen Ort bekennen, sondern schlicht ihre Aversion gegen die Brutalisierung und Barbarisierung ihrer Lebenswirklichkeit zum Ausdruck bringen. So wie der elementare Unterschied zwischen rechts und links mit dem Ziel dementiert wird, die Wirksamkeit politischer Positionen emanzipatorischer, radikalökologischer, antipatriarchaler, antikapitalistischer und revolutionärer Art zu leugnen, so wird das Begriffspaar im Falle dieser Auseinandersetzung auf eine Weise verkürzt, die rassistische Ausfälle und ihre Bekämpfung zum alleinigen Unterscheidungskriterium erhebt. Die Probleme einer Vergesellschaftung inklusiver und solidarischer Art, die ernst macht mit der Aufhebung aller staatlichen Grenzen wie der durch sie stabilisierten Klassenwidersprüche auch zum Preis eigener materieller Einschränkungen, sind damit in keiner Weise angesprochen.

28. August 2018


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