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HERRSCHAFT/1810: AfD - wohlfeile Versprechen ... (SB)



Der Rechtspopulismus sagt den Leuten, auch wenn du unten bist, wenn du nichts bist, kannst du doch stolz darauf sein, ein Deutscher zu sein. Das vermittelt dann in einer entfremdeten Weise [...] so etwas wie Lebenssinn. Wie insgesamt ja die Fähigkeit der rechten Ideologie sich dadurch auszeichnet, daß sie in der Lage ist, den Menschen in einer Situation des Unverständnisses, der Orientierungslosigkeit, Orientierungspunkte zu geben auch indem sie wieder auf Alltagserfahrungen zurückgreift. Der traditionelle Faschismus ist genauso wie der Neoliberalismus der Geist geistloser Zustände, wie Marx es hinsichtlich der Religion gesagt hat. Gerade das sozial verunsicherte Individuum braucht Orientierungsmuster, und diese Muster werden ihm von den traditionellen Organisationen nicht mehr gegeben.
Werner Seppmann im Schattenblick-Interview [1]

Im Herbst 2019 finden in drei ostdeutschen Bundesländern Landtagswahlen statt, und den dort etablierten Regierungsparteien steht das Wasser bis zum Hals. Beim Urnengang am 1. September in Brandenburg und Sachsen wie auch am 27. Oktober in Thüringen droht ein triumphaler Durchmarsch der AfD, die derzeit in allen Umfragen ausgezeichnet im Rennen liegt. Am besten sind ihre Aussichten in Brandenburg, wo die SPD seit 1990 den Ministerpräsidenten stellt. Dort steht sie, gleichauf mit den Sozialdemokraten, an erster Stelle. In Sachsen holte die AfD bei der Bundestagswahl 2017 die meisten Zweitstimmen noch vor der CDU. Aktuell sehen Demoskopen sie mit rund 24 Prozent hinter der Union. In Thüringen liegen CDU, Linke und AfD mit jeweils gut 20 Prozent eng beieinander. Eine Regierungsbildung an der AfD vorbei wird in allen drei Ländern schwer sein. Das zeigte bereits 2016 die Landtagswahl in Sachsen-Anhalt, wo die AfD mit 24 Prozent zweitstärkste Partei wurde. Um sie nicht an der Regierung beteiligen zu müssen, war eine schwarz-rot-grüne Koalition nötig. Sollte die AfD in Brandenburg oder Sachsen stärkste Kraft werden, steigerte dies das Dilemma der parteipolitischen Konkurrenten um so mehr. [2]

Wenngleich die Übereinkunft, Bündnisse zu schmieden, um die Rechten nicht ans Ruder kommen zu lassen, durchaus Argumente auf ihrer Seite hat, treibt eine bloße Arithmetik der Mehrheitsbeschaffung die Platzhalter der repräsentativen Demokratie erst recht in die Defensive. Derartige Notgemeinschaften unter weitgehendem Verzicht auf eigenständige inhaltliche Kontur verschärfen den ohnehin vorherrschenden Trend der bürgerlichen Parteien, sich selbst überflüssig zu machen und öffnen ihre Flanke sperrangelweit für die Attacken von AfD und Konsorten auf das sogenannte Establishment. Auch der ins Gespräch gebrachte defätistische Vorschlag, man solle die AfD ganz im Gegenteil an die Regierung kommen lassen, da sie sich dort mangels fundierter Programmatik und Kompetenz in den Augen der Wählerschaft schon selbst entlarven werde, mutet auf fatale Weise geschichtsvergessen an. Und selbst für die vage Hoffnung, diese vergleichsweise junge Partei werde sich angesichts der Dynamik ihrer verschiedenen Strömungen in Richtungskämpfen selbst zerlegen, finden sich keinerlei Anhaltspunkte.

Zwar zeichnet sich die Binnendifferenzierung der AfD durch einen abnehmenden Flügel der neoliberalen Wirtschaftsprofessoren, dann die gewöhnliche rechte Mitte und schließlich eine sozialfaschistische Fraktion aus, die man voneinander unterscheiden kann und jeweils für sich genommen ernstnehmen muß. Die Partei ist jedoch unter heftigen internen Machtkämpfen über den Rückzug Bernd Luckes, die Ausbootung Frauke Petrys und den explizit verhinderten Ausschluß Björn Höckes immer weiter nach rechts gewandert, ohne daß ihr das in der Gunst ihrer Anhängerschaft im mindesten geschadet hätte. Alexander Gauland und Jörg Meuthen halten das Ruder fest in der Hand, ohne sich von der Parteispendenaffäre Alice Weidels oder dem aktuellen Ausschlußverfahren gegen Doris von Sayn-Wittgenstein in Schleswig-Holstein in die Parade fahren zu lassen. Sie geben die rechtschaffenen Demokraten, werfen im Zweifelsfall Ballast ab und entsorgen dabei innerparteiliche Konkurrenz, während sie den strategischen Pakt mit der extremen Rechten offenhalten.

Die AfD ist nicht vom Himmel gefallen, sondern speist sich aus verschiedenen Quellen, die in der gesellschaftlichen Entwicklung der Bundesrepublik bereits vorgebahnt waren und in der kapitalistischen Lebenspraxis alltäglich erzeugt werden. So ist die neoliberale Ideologie ein wesentlicher Katalysator für konkurrenzorientierte Sichtweisen und bestätigt die entfremdete Alltagserfahrung, daß sich jeder selbst der Nächste und der Kampf aller gegen alle ein soziales Grundprinzip ist. Die Sozialdemokratie ist mit fliegenden Fahnen zum Neoliberalismus übergelaufen und hat unter anderem bereits Anfang der 90er Jahre zur Demontage des Asylrechts beigetragen. Und da sich autoritäre, fremdenfeindliche und rassistische Einstellungen in der einen oder anderen Kombination beim überwiegenden Teil der Bevölkerung diagnostizieren lassen, muß man von einem reaktionären Massenbewußtsein sprechen. An dieses Potential kann die AfD anschließen.

Mögen rechte Parolen auch kurzschlüssig sein, so können sie doch unmittelbar für das entfremdete Alltagsbewußtsein einsichtig sein. Hinzu kommt in diesem Zusammenhang, daß sich die Neue Rechte virtuos der neuen Medien bedient und in erheblichen Teilen als Produkt der Smartphone-Generation ausgewiesen werden kann. Auf diese Weise werden traditionelle Kommunikationswege unterlaufen und Meinungen jenseits unmittelbarer Formen direkter Diskussion formiert, die sich unter pauschaler Bezichtigung der "Lügenpresse" selbstreferentiell verbreiten. Dabei ist es für die AfD fast ein Kinderspiel, den krassen Widerspruch zwischen regierungsoffiziellen Behauptungen florierender Wirtschaft, zunehmender Erwerbsmöglichkeiten und solider Wohlstandsparameter im internationalen Vergleich auf der einen und der bitteren Lebensrealität zahlloser Menschen auf der anderen Seite auszubeuten. Etwa 40 Prozent der Lohnabhängigen verdienen heute weniger als 1995 und zehn bis zwölf Millionen Menschen werden im Laufe eines Jahres arbeitslos. Sie finden zwar oftmals wieder eine Stelle, die jedoch in der Regel schlechter bezahlt wird als die vorangegangene und dem prekären Sektor zugerechnet werden muß.

Hinzu kommen vor allem im Osten Deutschlands Enttäuschung, Wut und Angst. Die Menschen sind nach dem Anschluß der DDR enteignet, betrogen und entwürdigt worden, zum Verlust von Hab und Gut, mangelnden Löhnen und fehlenden Perspektiven gesellt sich das Gespür, Versprechen auf den Leim gegangen zu sein und noch immer über den Tisch gezogen zu werden. Die Hoffnung, sie könnten die Vorzüge der früheren DDR mit den Vorzügen der Bundesrepublik verbinden, verkehrte sich ins Gegenteil, zwingt sie das sogenannte freiheitliche System doch dazu, Eigenverantwortung zu übernehmen, was auf die vollständige Übernahme der Schuld für das eigenen Scheitern hinausläuft.

Die Parole "Hol dir dein Land zurück!", die an den Wähler als emanzipiertes Subjekt appelliert, die eigenen politischen Verhältnisse selbst zu gestalten, hätte auch aus der politischen Linken kommen können. Was die PDS für eine gewisse Frist, doch nie mit der gebotenen Entschiedenheit als ostdeutsche Identität bedienen konnte, ist heute das ideologische Sturmgeschütz der Rechten. Die AfD beschwört eine in weiten Teilen imaginierte Vergangenheit, sie zielt auf die Wiederherstellung der Vergangenheit als Zukunftsprogramm ab. Diese Parole ist deswegen so wirkmächtig, weil sich in sie alle Verlustängste projizieren lassen, die Menschen in den neuen Bundesländern gemacht haben, weil sie ihre individuelle Lebensgeschichte und ihre eigenen sozialen Verwundungen in dieses Angebot einer großen Erzählung integrieren können. [3]

Die AfD hat es erfolgreich verstanden, sich als institutionalisierter Protest zu etablieren, der den Abgehängten endlich eine Stimme gibt. Zuhören müsse man einander, sagte Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier in seiner Weihnachtsansprache. Zuhören und einander verstehen, das sei leicht gesagt, doch schwer getan. Ein mühseliger Weg, den man dennoch nicht scheuen dürfe, wolle man die Menschen erreichen. Warum das bestenfalls ein Anfang wäre, aber hinten und vorne nicht reicht, um den Vormarsch der Rechten zu bremsen, liegt auf der Hand. Von daraus folgenden politischen Taten wie beispielsweise der Abschaffung von Hartz IV, der Wiederherstellung eines solidarischen Versicherungssystems oder anderen substantiellen Elementen eines Sozialstaats sprach der Bundespräsident eher nicht.


Fußnoten:

[1] http://www.schattenblick.de/infopool/d-brille/report/dbri0106.html

[2] www.deutschlandfunk.de/wahljahr-2019-die-afd-ist-ein-symptom-keine-naturgewalt.720.de.html

[3] www.deutschlandfunk.de/wutbuerger-im-osten-deutschlands-vom-verdruss-an-der.724.de.html

3. Januar 2019


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