Schattenblick → INFOPOOL → POLITIK → KOMMENTAR


HERRSCHAFT/1816: Ankara - leere Versprechen ... (SB)



Das Volk leidet. Heute wird nicht mehr in Kilo gekauft, sondern im Gramm oder in Stückzahl. Dasselbe mit Fleisch. Und dann kommt ein Minister daher und sagt, dann sollen die Leute halt mehr Gemüse essen. Ja, aber Gemüse ist auch teuer. Was sollen die Bürger machen? In den Küchen brennt's, aber der Herr Staatspräsident kriegt's nicht mit. Warum? Na, weil er in einem Palast lebt.
Kemal Kilicdaroglu (Vorsitzender der Oppositionspartei CHP) [1]

Recep Tayyip Erdogans Versprechen, er werde die Türkei zu neuer Größe führen und Wohlstand für alle schaffen, ist fadenscheinig geworden. Vor den Kommunalwahlen am 31. März hat sich die dramatische Talfahrt der türkischen Wirtschaft und Währung noch einmal beschleunigt, ist der Lebensstandard weiter Teile der Bevölkerung weiter gesunken. Die Inflation ist gestiegen, Strom, Fleisch oder Tomaten sind für viele Menschen kaum noch bezahlbar. Die Regierung verkauft in Ankara und Istanbul an extra Ständen verbilligtes Gemüse, und die langen Schlangen von Bedürftigen passen so gar nicht ins Bild der aufstrebenden Wirtschaftsnation, als die Erdogan die Türkei gerne darstellt.

Die offizielle Arbeitslosequote beträgt inzwischen 13,5 Prozent, unter Jugendlichen sogar 24,5 Prozent, und allein in den letzten sechs Monaten hat fast eine Million Menschen Arbeitslosengeld beantragt. Anfang 2018 betrug der Mindestlohn, mit dem fast die Hälfte der Lohnabhängigen auskommen muß, umgerechnet 375 Euro im Monat. Als vor kurzem die türkische Währung zusammenbrach und die Preise, insbesondere für Nahrungsmittel explodierten, stürzte die Kaufkraft des Mindestlohns ab. Trotz einer 26prozentigen Erhöhung entsprach sie im Vergleich nur noch 327 Euro. [2]

Wenngleich sein Amt nicht zur Disposition steht, hat der Präsident den Urnengang zu einer Wahl ums Überleben der Nation erklärt und in den letzten Tagen unermüdlich Wahlkampf gemacht. Ein Absturz der Regierungspartei AKP ins Bodenlose ist zwar nicht zu erwarten, doch legen Prognosen nahe, daß ihren Kandidaten in den großen Städten wie Ankara, Istanbul und Izmir Niederlagen drohen. Für diesen Fall hat Erdogan bereits angedeutet, daß er die Hauptstadt unter Zwangsverwaltung stellen werde, wie das in den Kurdengebieten auf breiter Front verfügt worden ist. Dort wurden fast alle HDP-Bürgermeister abgesetzt und neue Kandidaten als Terrorunterstützer und Feinde des Landes bezichtigt.

Der regierenden "Volksallianz" der AKP mit der rechtsradikalen MHP steht als wichtigster Rivale die "Nationalallianz" gegenüber, zu der sich die Republikanische Volkspartei (CHP), die Gute Partei (eine Abspaltung der MHP) und die kurdisch geprägte Demokratische Partei der Völker (HDP) zusammengeschlossen haben. Sie unterstützen vielfach die jeweils aussichtsreichste oppositionelle Kandidatur und rufen ihre Anhängerschaft zu deren Unterstützung auf. Auf diese Weise sollen die Kräfte vereint werden, um das Regime zu schwächen.

Wie vor allen Wahlen brandmarken Erdogan und MHP-Führer Devlet Bahceli auch diesmal sämtliche Oppositionsparteien als "terroristische" Gruppen und behaupten, sie seien sowohl mit der PKK als auch mit der sogenannten Fethullahistischen Terrororganisation (FETO) im Bunde. Zugleich wird die Unterdrückung führender politischer Gegner mit juristischen Mitteln verschärft, um sie zu diskreditieren oder auszuschalten. So wurde CHP-Führer Kemal Kilicdaroglu beschuldigt, vor zehn Monaten in einer Fernsehansprache den Innenminister beleidigt zu haben. Die Staatsanwaltschaft hat ein Verfahren eingeleitet, um seine parlamentarische Immunität aufzuheben, damit er angeklagt und verurteilt werden kann. Ebenso werden der stellvertretende Vorsitzende der HDP, Sezai Temelli, und der Bürgermeisterkandidat der CHP in Ankara, Mansur Yavas, juristisch belangt.

Unterdessen zieht Erdogan alle Register, um die Wählerschaft auf seine Seite zu ziehen. Er spielt die Religionskarte und hat im Fernsehen verkündet, daß die Hagia Sophia in Istanbul wieder eine Moschee werden soll. Die im 6. Jahrhundert erbaute "Heilige Weisheit" war fast ein Jahrtausend lang das größte Gotteshaus der Christenheit. Nach der Eroberung des damaligen Konstantinopels 1453 wandelten die Osmanen die Kirche in eine Moschee um. Seit 1934 ist sie ein Museum und zieht jährlich Hunderttausende Besucher an. Das Thema kochte nach den Moscheeangriffen im neuseeländischen Christchurch wieder hoch, da der Attentäter in einem Manifest offenbar auch von einer Hagia Sophia "ohne Minarette" gesprochen hatte. Erdogan nutzte die Anschläge in Wahlkampfreden zu Angriffen gegen den "islamfeindlichen Westen" und ließ unablässig verpixelte Ausschnitte aus den Aufnahmen des Attentäters von der Tat ausstrahlen, während es in aller Welt Versuche gab, das Gewaltvideo aus dem Internet zu entfernen. [3]

Der 65jährige Staatspräsident reiste durchs Land, hielt jeden Tag mehrere Reden, gab Fernsehinterviews und veranstaltet virtuelle Begegnungsrunden mit jungen Leuten in den sozialen Medien. Diese Versuche, möglichst große Portionen der 57 Millionen Wahlberechtigten für sich einzunehmen, ging mit der in der Türkei seit langem üblichen Gleichschaltung der Medien einher. Nach Oppositionsangaben befaßte sich der Staatssender TRT im Februar 53 Stunden lang mit AKP und MHP, aber nur sechs Stunden mit der säkularistischen CHP und der konservativen IYI Parti, während die pro-kurdische HDP in den Regierungsmedien ausschließlich als bezichtigtes Feindbild vorkam.

Erdogan droht seinen politischen Gegner offen mit Verfolgung und warnt die Wähler eindringlich davor, ihre Stimme dem "falschen" Kandidaten zu geben. Die Opposition darf sich zwar beteiligen, um den letzten verbliebenen Anschein demokratischer Wahlen zu wahren, aber keinesfalls gewinnen. Sollte der in den Umfragen führende Oppositionskandidat Mansur Yavas in der Hauptstadt die meisten Stimmen erhalten, würden er selbst und ganz Ankara das teuer bezahlen, so der Präsident. Mehr als 300 weiteren Oppositionskandidaten will Erdogan die Mandate wieder wegnehmen lassen, sollten sie am Sonntag gewinnen, da sie Verbindungen zu Terrororganisationen hätten. [4]

Die größte Gefahr droht dem Erdogan-Regime derzeit nicht von der massiv verfolgten Opposition, sondern dem längst an seine Grenzen gestoßenen Wirtschaftsmodell, das jahrelang auf ein Wachstum gesetzt hat, das mit einer negativen Handelsbilanz und einer hohen Auslandsverschuldung erkauft ist. 18 Jahre lang ist die türkische Wirtschaft unter der Herrschaft Erdogans gewachsen, doch im dritten und vierten Quartal 2018 sank das Bruttoinlandsprodukt gegenüber dem jeweiligen Vorjahreszeitraum, was nach technischer Definition als eine Rezession gilt. Im Januar wurde Istanbuls Börse noch als die stärkste der Welt gefeiert, jetzt ist der türkische Leitindex in nur neun Tagen um 11,4 Prozent gesunken. Die Inflationsrate ist hoch, von Februar 2018 bis Februar 2019 stiegen die Preise um 19,67 Prozent. Weltweit sind die Preise nur in neun Ländern schneller gestiegen.

Die türkische Lira hat seit ihrer Krise im Sommer 2018 rund 30 Prozent ihres Wertes verloren, in den vergangenen fünf Jahren steht sogar ein Minus von rund 63 Prozent. Da die Türkei ein Importland ist, bremst die schwache Lira die türkische Wirtschaft aus. Pro Monat liegt das Handelsdefizit bei zwei bis drei Milliarden Euro, wobei die Einkäufe meist in US-Dollar erfolgen. Der Wertverlust der Landeswähung verteuert also die Importe. Hinzu kommt eine ganze Reihe weiterer Faktoren, die darauf schließen lassen, daß sich die Türkei diesmal nicht so schnell wei nach früheren Krisen erholen wird. [5]

Erdogan geht auf Konfrontationskurs mit den internationalen Finanzmärkten und erklärt, westliche Länder wollten die Türkei "mit einer Währungsattacke in die Falle locken". "Die Banken spielen ein Spiel mit der türkischen Lira." Böswillige Investoren würden einen "sehr hohen Preis" zahlen, droht der Präsident. Die türkische Bankenaufsicht leitete Ermittlungen gegen die amerikanische Großbank JPMorgan unter dem Vorwurf ein, die skeptische Analyse zweier Währungsexperten in Sachen Lira sei "irreführend und manipulativ". [6]

Die Versuche der USA, die Türkei wirtschaftlich zu bestrafen, haben in der Tat signifikante Auswirkungen auf die schon zuvor angeschlagene türkische Ökonomie. Nachdem Trump im vergangenen Jahr Zölle auf türkische Exporte in die Vereinigten Staaten verhängt hatte, stürzte die Wirtschaft der Türkei in ihre erste Rezession seit einem Jahrzehnt. Wenngleich Erdogans Tiraden gegen fremde Mächte, die sich gegen die Türkei verbündet hätten, also nicht ganz aus der Luft gegriffen sind, blendet er doch zugleich mit diesem Feindbild die Schwächen und Probleme seiner eigenen Wirtschafts- und Finanzpolitik aus. Die Grundstrategie des Machthabers, jegliche Widerstände durch brachialen Frontalangriff niederzuwalzen, scheitert im Falle des internationalen Finanzkapitals, das nicht nur eine Nummer zu groß für ihn, sondern auch keine Person oder Entität ist, die er bedrohen, einschüchtern oder hinters Licht führen könnte.

Die Investoren scheren sich nicht um überfüllte Gefängnisse, gefolterte Häftlinge, unterdrückte Oppositionelle, Gleichschaltung der Medien, Krieg gegen die Kurdinnen und Kurden, Aushebelung der Gewaltenteilung und vieles mehr, was man Erdogans Regime zur Last legen kann. Aus Geld soll mehr Geld werden, lautet die einzig relevante Logik kapitalistischer Verwertung. Ist das in der Türkei absehbar möglich, wird dort investiert. Mehren sich die Zeichen der Krise, so daß Verluste drohen, ziehen die Akteure der sogenannten Finanzmärkte ab, was sie derzeit massenhaft tun.

Sollte die AKP siegreich aus den Kommunalwahlen hervorgehen, hätte Erdogan freie Hand und viel Zeit, um bis zur nächsten Wahl im Jahr 2023 einige notwendige, aber unpopuläre Entscheidungen vor allem in der Wirtschaftspolitik zu treffen. Ein Richtwert ist das Abschneiden der AKP-MHP-Allianz bei den Parlamentswahlen im vergangenen Jahr, als die beiden Parteien zusammen 53,7 Prozent der Stimmen holten. Sollte das Bündnis nun unter 50 Prozent rutschen und zudem noch eine Großstadt wie Ankara oder Istanbul verlieren, könnte dies eine völlig neue Dynamik auslösen. Dann könnte Erdogans Partner Devlet Bahceli zu dem Schluß kommen, daß er sich von der Regierungspartei lösen muß, um dem Abwärtsstrudel zu entkommen. Zudem mehren sich Anzeichen, daß die AKP auseinanderbrechen könnte. Berichten zufolge erwägen der ehemalige Premierminister Ahmet Davutoglu, der ehemalige Präsident Abdullah Gul sowie andere frühere AKP-Amtsträger die Gründung einer neuen Partei. Angeblich haben sie bereits mehr als 50 Parlamentsabgeordnete aus der AKP und der CHP auf ihrer Seite, was ausreichen würde, um das AKP-MHP-Bündnis im Parlament zu stürzen.

Insofern ist es keine bloße Rhetorik eines Machtpolitikers, wenn Erdogan vor dem kommunalen Urnengang von einer Schicksalswahl nach innen und außen spricht. Gewinnt die Opposition in Ankara oder in Istanbul, bekommt die AKP Probleme. Siegt die Opposition in beiden Städten, öffnen sich die Schleusentore, so eine Prognose, die dieser Tage von seinen Gegnern gern zitiert wird.


Fußnoten:

[1] www.deutschlandfunk.de/kommunalwahlen-in-der-tuerkei-erdogans-akp-droht-ein.1773.de.html

[2] www.wsws.org/de/articles/2019/03/29/turk-m29.html

[3] www.n-tv.de/politik/Erdogan-Hagia-Sophia-soll-Moschee-werden-article20933799.html

[4] www.tagesspiegel.de/politik/erdogan-erklaert-wahl-zur-volksabstimmung-kommunalwahlen-in-der-tuerkei-als-stimmungsbild/24157718.html

[5] www.focus.de/finanzen/boerse/kurz-vor-kommunalwahlen-lira-im-keller-wirtschaft-im-abschwung-warum-die-tuerkei-in-der-rezession-steckt_id_10522553.html

[6] www.sueddeutsche.de/wirtschaft/tuerkei-lira-boerse-1.4386814

30. März 2019


Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang