Schattenblick → INFOPOOL → POLITIK → KOMMENTAR


HERRSCHAFT/1829: Europa - sich selbst erfüllende Prophetie der Schreihälse ... (SB)



Die Europäische Union repräsentiert einen Alptraum, keinen Traum. Und deshalb bin ich sehr froh, dass an diesem sonnigen Montagmorgen in Mailand Freunde gekommen sind, um neuen Saft, neues Blut, neue Hoffnung, neue Träume zu bringen. Am Tisch sind keine Extremisten und Rückwärtsgewandte. Diese ermüdende kleine Debatte Rechts-Links, Faschisten-Kommunisten, darauf habe ich keine Lust und darauf haben auch die 500 Millionen Einwohner Europas keine Lust.
Matteo Salvini beim Treffen der Vertreter rechter Parteien [1]

Wenige Tage vor den Wahlen zum Europaparlament kreisen die Diskussionen insbesondere um das Abschneiden der rechten Parteien und deren Vorhaben, durch Erfolge an den Urnen und einen Zusammenschluß im EU-Parlament die zweitstärkste Fraktion zu bilden. Eine Internationale der Nationalisten mutet zunächst wie ein Widerspruch in sich an. Gleiches ließe sich gegen die Kandidatur für ein Gremium einwenden, das die Rechte im Grunde für überflüssig erklärt, weil die EU kein Staat sei, der eines Parlaments bedürfe, und sie ihr die Legitimität und Tauglichkeit überstaatlicher Weisungskompetenz abspricht. Für die rechten Parteien ist Parlamentarismus jedoch letztendlich kein Selbstzweck oder Wert an sich, sondern ein vorübergehendes Mittel auf dem Weg zur Machtübernahme. Daher machen sie davon Gebrauch, soweit es ihrem Vorteil dient, setzen aber zugleich auf seinen Zusammenbruch oder seine Zerschlagung, um sich in dem Scherbenhaufen als dominanter gesellschaftlicher Ordnungsfaktor durchzusetzen.

Der programmatische Entwurf der "Europäischen Allianz der Völker und Nationen" sieht einen Schulterschluß in übergreifenden Fragen wie insbesondere der Flüchtlingsabwehr vor, während Themengebiete, bei denen sich die einzelnen Länder unterscheiden, auf nationaler Ebene gestaltet werden sollen. Mittels dieser Faustformel werden die offenkundigen Differenzen zwischen den beteiligten rechten Parteien kaschiert und für nachrangig erklärt, da in einem "Europa der Vaterländer" die nationale Identität unter vordringlichem Schutz stehe. Damit wird unter den Tisch gekehrt, daß Salvini beim Versuch, Geflüchtete auf andere Länder weiterzuverteilen, zwangsläufig bei der polnischen PiS und der ungarischen Fidesz auf taube Ohren stieß. Den Polen wiederum sind die guten Beziehungen zu Wladimir Putin, die Salvini, Marine le Pen und die FPÖ pflegen, ein Dorn im Auge. Le Pen bedient sich der Ressentiments ihrer Landsleute gegenüber Italien und setzt auf Protektionismus, den die AfD ebenso ablehnt wie Salvinis Umgang mit den Staatsschulden.

Aus diesen und weiteren inhaltlichen Kontroversen zu schlußfolgern, daß die rechte Allianz an ihren inneren Widersprüchen scheitern und im Streit enden müsse, griffe indessen zu kurz. Die rechten Parteien bündeln den Protest und fokussieren sich auf eine Ablehnung der EU, der sie eine radikale Reform oder gar Umwälzung verpassen wollen, die sie nicht näher ausführen. Sie kommen vorerst ohne jeden konstruktiven Zukunftsentwurf samt entsprechender Agenda aus und werden sich im EU-Parlament darauf konzentrieren, bei wichtigen Abstimmungen Weichen zu stellen oder Entscheidungen zu blockieren. Zu diesem Zweck wollen sie die bislang auf verschiedene Fraktionen verteilten Kräfte zusammenzuführen und so ihren beträchtlichen Stimmenanteil bündeln wie auch eine Reihe einflußreicher Positionen in den Kommissionen besetzen.

Bei ihrer zentralen Botschaft, sie seien die einzig relevante Stimme gegen den "Alptraum" der EU, da sie den Menschen Gehör schenkten und ihren Protest verkörperten, kommt ihnen die eklatante Schwäche linker EU-Kritik entgegen. Radikale Kritik an der Europäischen Union als einem Entwurf der maßgeblichen Kapitalfraktionen und führenden Nationalstaaten blieb nicht nur eine Minderheitsposition unter Linken, sondern wurde im Zuge der populären Forderung, man müsse die EU und die Eurozone verteidigen, um sie von innen zu reformieren, zunehmend marginalisiert. Das an Griechenland statuierte Exempel unter Zuhilfenahme Syrizas geriet zum zentralen Schlachtfeld des EU-Regimes, auf dem der Widerstand auf breiter Front niedergeschlagen wurde. Wer sich heute anschickt, die EU von links zu kritisieren, muß damit rechnen, augenblicklich als Steigbügelhalter der Rechten, wenn nicht gar deren Gesinnungsgenosse diskreditiert zu werden.

Übrig blieb der Chor ratloser bis verzweifelter Protagonisten einer europäischen Einigung, die zwar viele Schwächen aufweise, die es aber um so mehr zu beheben gelte. Zahllose Menschen vor allem im Osten und Süden der EU, aber zunehmend auch in den Kernländern, können dieser vagen Perspektive längst nichts mehr abgewinnen. Die anstehenden Wahlen blieben ein substanzloser Akt mit geringer Beteiligung, sprängen die rechten Parteien mit ihren brachialen Versprechen nicht in die Bresche. "Italiener zuerst!", ruft Salvini seinen Landsleuten zu, und entsprechend verfahren die Rechten in den anderen Ländern. Schutz der Außengrenzen, Zurückdrängung der "illegalen Migration" und Verteidigung der "Festung Europa" - Hetze gegen geflohene Menschen paart sich mit dem Schüren von Ängsten gegen die Islamisierung. Gegen das Establishment im eigenen Land und in Brüssel, dessen Bevormundung man nicht länger hinnehme, wir sind die Stimme des Volkes, spielt die Rechte die Klaviatur des Opfers, das sich zum Führer aller Entwürdigten erhebe, um deren Schicksal zu wenden.

Matteo Salvini, dem das derzeit unter all diesen Akteuren am erfolgreichsten gelingt, war der Gastgeber und unangefochtene Platzhirsch des Treffens in Mailand, zu dem Vertreter rechter Parteien aus zwölf europäischen Ländern zusammengekommen waren. Marine Le Pen vom französischen Rassemblement National, Jörg Meuthen für die AfD und Geert Wilders, der Vorsitzende der niederländischen Partij voor de Vrijheid, dazu die Chefs der Dänischen Volkspartei und der Wahren Finnen, sowie von der krisengeschüttelten FPÖ lediglich der EU-Abgeordnete Georg Mayer gaben den mehr oder minder prominenten Rahmen ab. Daß anstelle der angekündigten 100.000 begeisterten Anhänger der Lega Medienberichten zufolge nur einige Tausend gekommen waren, um dem pompös inszenierten Spektakel beizuwohnen, tat der verkündeten "historischen Wende" (Le Pen) und "neuen Ära" (Meuthen) keinen Abbruch. Indessen waren Tausende Antifaschisten, darunter selbst Mitglieder des Koalitionspartners Fünf-Sterne-Bewegung, zur Stelle, um gegen den Aufmarsch der Rechten zu protestieren.

Marine Le Pen nannte das Treffen einen Augenblick, "auf den wir lange gewartet haben und der jetzt unter dem Himmel Italiens wahr wird". Wilders erklärte, Europa brauche "mehr Salvinis", die "harte Linie gegen Migranten" sei beispielhaft. Und Meuthen verkündete, "arrogante Technokraten" hätten Europa zerstört. Der allseits hofierte Salvini legte sich ins Zeug und kündigte an, er wolle den Kontinent von der "illegalen Besatzung" durch Brüssel befreien. Er bekräftigte seinen ausländerfeindlichen Kurs und versicherte, solange er Innenminister sei, werde das vor Lampedusa mit 47 geretteten Flüchtlingen an Bord wartende Rettungsschiff Sea-Watch 3 keinen italienischen Hafen anlaufen. Dennoch konnten die Geretteten noch am selben Tag auf der Insel an Land gehen, was offenbar Luigi di Maio, ebenfalls stellvertretender Ministerpräsident, aber von der Fünf-Sterne-Bewegung, veranlaßt hatte. [2]

Wermutstropfen im vorab eingeschenkten Siegespokal der rechten Allianz war wie erwartet die Abwesenheit von Viktor Orbáns Fidesz aus Ungarn, der als Leitfigur der Rechten in Ostmitteleuropa außerordentlich wichtig für den Zusammenschluß wäre. Er hatte Salvinis Vorhaben bereits eine Absage erteilt, da die Europäische Volkspartei die Fidesz nicht ausgeschlossen, sondern nur suspendiert hat, weshalb er seine Position innerhalb der immer noch stärksten europäischen Fraktion halten möchte. Das hindert den italienischen Innenminister jedoch nicht daran, alles auf einen Durchmarsch der Lega zu setzen, die nach jüngsten Umfragen mit gut 31 Prozent stärkste Partei Italiens wie auch stärkste Einzelpartei im nächsten Europaparlament werden könnte. Dabei punktet die Lega inzwischen auch im Süden des Landes und macht selbst der Linken Schritt für Schritt ihre einstigen Hochburgen streitig.

Salvini behauptet zu wissen, was das Volk will, und verspricht den so adressierten abgehängten oder von Verlustängsten heimgesuchten Landsleuten, es den Eliten zu zeigen. Spätestens seit der Regierungszeit des ehemaligen EU-Kommissars Mario Monti, der als Technokrat wie eine personifizierte Marionette Brüssels ab 2011 den Spar- und Reformdruck exekutierte, ist der Ruf der EU in Italien in den Keller gerutscht. Gepaart mit fehlender Solidarität der europäischen Nachbarn in der Migrationspolitik resultierte daraus eine Mixtur, die Salvini für sich zu nutzen weiß. Mit seiner sogenannten "Politik der geschlossenen Häfen" hat er dafür gesorgt, daß die Migration deutlich zurückgegangen ist, und den Italienern damit das geliefert, was er versprochen hat.

Zugleich ist Salvini als Machtmensch ein starker Anführer, der in einer extrem zersplitterten Parteienlandschaft einen Angelpunkt bietet. Giuseppe Conte bleibt als Ministerpräsident blaß, Luigi di Maio gilt nicht gerade als Entscheidungsträger. Seine Fünf-Sterne-Bewegung hat nach einem Jahr in der Koalition in Umfragen ein Drittel der Stimmen eingebüßt und wird von der Lega an die Wand gedrückt. Viele Menschen arbeiten unter prekären Verhältnissen, schwarz oder verlassen das Land gleich ganz. Jeder fünfte zwischen 15 und 34 ist arbeitslos. Auch damit für sie Jobs frei werden, hat die Regierung die Rentenreform von 2011 wieder zurückgenommen. Zusammen mit dem Grundeinkommen kostet die Absenkung des Renteneintrittsalters viele Milliarden, die den rekordverdächtigen Schuldenberg Italiens weiter anwachsen lassen. Im Herbst muß Rom konkrete Zahlen zur Neuverschuldung vorlegen, doch bis dahin trotzt Salvinis Lega allen Auflagen aus Brüssel, um ihre sozialen Versprechen zu erfüllen.

All das macht ihn zum Leitwolf der europäischen Rechten, deren Rudel ihm folgt. In einem Land, in dem Faschismus per Verfassung verboten ist, schreckt die Lega nicht davor zurück, mehr oder weniger offene Allianzen mit der extremen Rechten einzugehen. Daß die neofaschistischen Parteien derzeit wenig Stimmen bekommen, könnte man so interpretieren, daß Matteo Salvini sich anschickt, sie überflüssig zu machen.


Fußnoten:

[1] www.deutschlandfunk.de/italien-vor-der-europawahl-allianz-der-populisten.724.de.htm

[2] www.jungewelt.de/artikel/355188.mailand-aufmarsch-in-mailand.html

21. Mai 2019


Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang