Schattenblick → INFOPOOL → POLITIK → KOMMENTAR


HERRSCHAFT/1852: Türkei - anwachsender Druck ... (SB)



(Die AKP kann) "der Nation keinen Nutzen und keine Lösung bringen". Die Parteiführung sehe "jede gut gemeinte Kritik und Empfehlung als Verrat und Feindseligkeit", deshalb gebe es keine Möglichkeit mehr, die "Grundsätze und Ziele, für die wir in unserem politischen Leben eintreten, in der AK-Partei umzusetzen".
Ahmet Davutoglu in Begründung seines Austritts aus der AKP [1]

Wenngleich die Hoffnung verfrüht sein mag, daß dies der Anfang vom Ende der Ära Erdogan sei, mehren sich doch die Risse in dessen Regime. Lange Zeit hatten die massive Repression gegen jegliche Opposition, die Aushebelung der Gewaltenteilung unter dem Präsidialsystem und die Gleichschaltung der Medien für ein bleiernes Klima der Furcht vor Verfolgung gesorgt, das kritische Stimmen einschüchterte und eine Umkehr dieser Verhältnisse in weite Ferne zu rücken schien. Daß dem Machthaber und seinen Parteigängern inzwischen an diversen Fronten ein kalter Wind ins Gesicht schlägt, ist auf eine Gemengelage verschiedener gegenläufiger Entwicklungen, nicht zuletzt aber den nie restlos zum Schweigen gebrachten Widerstand entschiedener Gegnerinnen und Gegner des Regimes zurückzuführen.

Die krisenhaften wirtschaftlichen Verwerfungen haben das Wohlstandsversprechen für die ärmeren Bevölkerungsteile spürbar zum Einsturz gebracht. Daß die Türkei im Konzert der Groß- und Regionalmächte nicht die erste Geige spielt, bekommt Ankara in Syrien wie auch bei seinem Lavieren zwischen den USA und Rußland zu spüren. Die Umschichtung der nationalen Kapitalfraktionen unter einem paternalistischen Klientelsystem, das Finanzströme in bestimmte Wirtschaftssektoren, regierungsnahe Stiftungen wie auch die Taschen des Erdogan-Clans lenkte, ruft konkurrierende Akteure auf den Plan, deren Partizipation beschnitten wurde. Aus den landesweiten Kommunalwahlen ging die AKP zwar als stärkste Kraft hervor, doch verlor sie fast alle großen Städte an die Opposition. Deren Einigkeit, gemeinsam die jeweils stärkste Kandidatur zu unterstützen, brachte die kemalistische CHP nach vorn.

Hinzu kommt nun als weiterer Tiefschlag für die AKP, daß ihr prominente Mitglieder den Rücken kehren, so daß sich eine interne Schwächung der erodierenden Regierungspartei abzeichnet. Innerparteiliche Kritiker haben schon seit längerem das Präsidialsystem, Erdogans autokratischen Führungsstil, seine unerbittliche Haltung gegenüber der kurdischen Bevölkerung, die verheerende Menschenrechtslage im Land oder zuletzt die Annullierung der Bürgermeisterwahl in Istanbul moniert. Daß nun eine gewisse Abwanderungsbewegung einsetzt, zeugt von einem allmählichen Wandel des politischen Klimas. Erdogan, dem die Kritik aus den Reihen seiner Partei zwangsläufig ein Dorn im Auge ist, hatte bei einem Parteitreffen im April gedroht: "Die Arbeit einiger Leute aus dem Inneren (der Partei) ist schwer zu schlucken. Wir werden sie zur Rechenschaft ziehen, wenn die Zeit gekommen ist."

Abdullah Gül, ein Gründungsmitglied der AKP und Kritiker der Politik Erdogans, war aus der Partei ausgetreten, als er 2007 das Amt des Präsidenten angetreten hatte. Im Juli verließ der ehemalige Wirtschafts- und Außenminister Ali Babacan die AKP, zu deren Gründungsmitgliedern er ebenfalls gehört hatte. Wie er in einem Brief an die Partei schrieb, habe sich die Politik der AKP in den vergangenen Jahren immer mehr von seinen "Prinzipien, Werten und Ideen" entfernt. Die Türkei brauche eine "völlig neue Vision". Babacan bereitet mit Gül seit Monaten die Gründung einer neuen Partei vor.

Nun hat auch der ehemalige Ministerpräsident und Erdogan-Vertraute Ahmet Davutoglu als bislang prominentester Politiker die AKP verlassen, womit er einem bevorstehenden Parteiausschluß zuvorkam, der Anfang September gegen ihn eingeleitet worden war. Noch im Juli hatte er erklärt, er wolle dazu beitragen, die 2001 von Erdogan gegründete AKP von innen zu erneuern. Nun erklärte Davutoglu auf einer Pressekonferenz in Ankara, es sei sowohl eine "historische Verantwortung als auch eine Notwendigkeit", eine "neue politische Bewegung aufzubauen und einen neuen Weg einzuschlagen". Er lade jeden zur Zusammenarbeit ein, "dessen Herz für die Zukunft dieses Landes schlägt und der Verantwortung verspürt". Davutoglu möchte mit der Neugründung einer Partei religiös-konservative Wähler, die mit der Linie Erdogans unzufrieden sind, an sich binden. Gemeinsam mit Davutoglu traten der ehemalige Vorsitzende des AKP-Provinzverbands von Istanbul und die ehemaligen Abgeordneten Selcuk Özdag, Ayhan Sefer Üstün und Abdullah Basci aus der Partei aus, wobei auch sie einem Parteiausschluß zuvorkamen.

Davutoglu warf der AKP vor, sie entferne sich auf dem unter Erdogan eingeschlagenen Weg von ihrer Gründungsphilosophie, weshalb sie "der Nation keinen Nutzen und keine Lösung" bringen könne. Er bezog sich dabei auf die Beendigung des Dialogprozesses mit den Kurdinnen und Kurden, bei dem sich Erdogan bewußt über ihn hinweggesetzt hatte. Die AKP-Führung sehe "jede gut gemeinte Kritik und Empfehlung als Verrat und Feindseligkeit", weshalb es keine Möglichkeit mehr gebe, die "Grundsätze und Ziele, für die wir in unserem politischen Leben eintreten", in dieser Partei umzusetzen.

Mit Gül, Babacan und Davutoglu führen drei der prominentesten Politiker der AKP die Rebellion gegen Erdogan an. Davutoglu und Babacan stehen miteinander in Kontakt, werden aber unabhängig voneinander jeweils eine eigene neue Partei gründen. Zwar profitieren beide von der Unzufriedenheit mit der AKP, doch sprechen sie eine unterschiedliche Klientel an. Der auf Außen- und Sicherheitspolitik fokussierte Davutoglu kommt eher bei türkischen Nationalisten gut an, während sich mit Babacan die Hoffnung auf eine pluralistische Reformpartei rechts von der Mitte verbindet, die das Land auf den Kurs der AKP in ihren ersten Regierungsjahren zurückführt.

Mit der offiziellen Gründung der neuen Parteien wird im November und Dezember gerechnet, wobei Gül in Babacans Partei keine Funktion übernehmen, sondern im Hintergrund wirken will. Eingedenk der Erfahrung zahlreicher Parteineugründungen in der Türkei, die in der Vergangenheit selten Bestand hatten, wollen Davutoglu und Babacan zunächst in allen Provinzen des Landes tragfähige Strukturen aufbauen. Sobald die beiden neuen Parteien offiziell gegründet sind, werden sich ihnen im türkischen Parlament vor allem Abgeordnete der AKP anschließen. Da aktuelle Schätzungen von 25 bis 50 mutmaßlichen Abweichlern ausgehen und eine parlamentarische Gruppe bei mindestens 20 Abgeordneten Fraktionsstatus erhält, erhöht dies die Attraktivität einer neuen Formation. Um eine Fraktion zu bilden, könnten sich die beiden Parteien aber auch im Parlament zusammenschließen.

Der Regierungskoalition aus AKP und MHP gehören gegenwärtig 589 Abgeordnete an. Sie würde ihre Mehrheit verlieren, sollten sich aus ihren Reihen 47 Abgeordnete den Parteien Davutoglus und Babacans anschließen. Das könnte zu vorgezogenen Neuwahlen führen, was Erdogan angesichts der schlechten Umfrageergebnisse für die AKP vermeiden will. Er wird daher versuchen, die drohende Gefahr abzuwenden, und möglicherweise sein Kabinett umbilden. Dem könnte Innenminister Süleyman Soylu zum Opfer fallen, der als Hardliner jüngst kurdische Bürgermeister abgesetzt hat. Solange er dem Kabinett angehört, treibt er jene Teile der kurdischen Wählerschaft, die bislang für die AKP gestimmt haben, Davutoglu und Babacan zu.

Mehrere aktuelle Meinungsumfragen deuten auf ein Wählerpotential für beide geplanten Neugründungen von 10 Prozent hin. Die Sperrklausel bei Parlamentswahlen liegt zwar theoretisch bei 10 Prozent, doch hat das Regime vor zwei Jahren selbst dafür gesorgt, diese Hürde auszuhebeln, um dem Koalitionspartner MHP den Einzug zu sichern. Seither können Parteien als Allianzen antreten, so daß die 10-Prozent-Hürde faktisch nicht mehr relevant ist. Vorstellbar wäre, daß sich die derzeitige Allianz der Opposition in zwei Lager aufspaltet, die dann gemeinsam die Regierungskoalition herausfordern. Ein Block würde aus der CHP und der prokurdischen HDP bestehen, der andere aus der nationalistischen Iyi-Partei und den beiden Neugründungen. Die beiden Blöcke würden ein breites Wählerspektrum abdecken und somit dem Bündnis von AKP und MHP das Wasser abgraben. [2]

Unterdessen deuten verschiedene Gerichtsurteile an, daß dem Regime die vollständige Kontrolle der Justiz allmählich entgleitet. So wurde der seit drei Jahren inhaftierte frühere HDP-Vorsitzende Selahattin Demirtas in einem Verfahren freigesprochen. Er war im November 2016 zusammen mit der Co-Vorsitzenden Figen Yüksekdag festgenommen worden wie auch Tausende weitere HDP-Mitglieder im Zuge einer Massenverhaftung ins Gefängnis geworfen wurden. Gegen Demirtas laufen diverse Strafverfahren aus dem Repressionsarsenal wie Terrorpropaganda, Terrorunterstützung und Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung. In einem ersten Urteil wurde er im September 2018 in einem der Fälle zu vier Jahren und acht Monaten Haft verurteilt. Im Hauptverfahren, in dem die Staatsanwaltschaft insgesamt 142 Jahre Haft forderte, wurde Demirtas nun allerdings freigesprochen, eine Berufung gegen das Urteil durch die Staatsanwaltschaft wies das Berufungsgericht in Ankara Anfang September zurück. Dennoch soll Demirtas aufgrund des Urteils vom Vorjahr vorerst im Gefängnis bleiben.

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hatte 2018 die Untersuchungshaft für Demirtas für unrechtmäßig erklärt und seine Freilassung gefordert, was von der Türkei aber abgelehnt wurde. Das Verfahren soll am 18. September fortgesetzt werden. Demirtas Anwälte haben beantragt, die Zeit der Untersuchungshaft wie eigentlich üblich auf die Haftstrafe vom September 2018 anzurechnen. Falls sie damit Erfolg haben und der EGMR erneut gegen eine weitere Inhaftierung urteilt, stünde Demirtas' baldiger Freilassung zumindest formal nichts mehr im Weg.

Daß er freikommt, gilt dennoch als wenig wahrscheinlich, da das Regime seine Rückkehr auf die politische Bühne fürchten muß. Er gilt auch über die HDP hinaus als angesehener und populärer Politiker für viele Menschen, die der Unterdrückung im Land etwas entgegensetzen wollen. Käme Demirtas auf freien Fuß, würde er wohl im Dialog mit der CHP auf ein breites demokratisches Oppositionsbündnis hinwirken, das im Verbund mit den neugegründeten Parteien die Macht der regierenden Koalition ins Wanken bringen könnte. Die CHP ist in der kurdischen Frage gespalten und hat in der Vergangenheit mehrfach repressive Maßnahmen Erdogans mitgetragen. Allerdings verdankt sie ihre Erfolge bei den Kommunalwahlen und dem wiederholten Wahlgang in Istanbul vor drei Monaten der HDP, die auf eigene Kandidaten verzichtet und ihre Wählerschaft zur Unterstützung der CHP aufgerufen hatte. Zuletzt haben CHP-Politiker die widerrechtliche Absetzung von drei gewählten HDP-Bürgermeistern in Mardin, Van und Diyarbakir öffentlich verurteilt. [3]

Wenngleich von einem Bündnis aufgrund inhaltlicher Übereinstimmung also keine Rede sein kann, scheint doch die Einsicht zu reifen, daß eine Entmachtung des Regimes nur mit vereinten Kräften aller oppositionellen Parteien möglich ist. Die Unverzichtbarkeit dieses Zweckbündnisses über den Tag hinaus unterstreicht das jüngst ergangene Urteil gegen die Istanbuler CHP-Vorsitzende Canan Kaftancioglu, gegen die wegen Präsidentenbeleidigung und Terrorpropaganda zehn Jahre Haft verhängt wurden. Da Kaftancioglu als der Kopf hinter dem erfolgreichen Wahlkampf von Ekrem Imamoglu, dem neuen Istanbuler Bürgermeister, gilt, kommt in der Entscheidung des Gerichts die Rache des Regimes nach der AKP-Niederlage am Bosporus zum Tragen, das angesichts seiner Schwächung um so heftiger auf die Unterwerfung seiner Gegner mit allen Mitteln setzt.


Fußnoten:

[1] www.heise.de/tp/features/Tuerkei-Die-AKP-zerlegt-sich-selbst-4523406.html

[2] www.faz.net/aktuell/politik/ausland/rebellion-gegen-erdogan-politiker-treten-aus-akp-aus-16385936.html

[3] www.heise.de/tp/features/Tuerkei-Tauziehen-um-Demirtas-4523317.html

16. September 2019


Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang