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HERRSCHAFT/1901: US-Gesellschaft - vom Kopf auf die Füße gestellt ... (SB)



Der Akt des Plünderns ist eine altbewährte amerikanische Tradition, die zurückreicht bis zum Raub indigenen Landes und der Versklavung von AfrikanerInnen. Reiche Leute mögen heute keine Einkaufsviertel plündern, sie sind jedoch sehr darauf aus, natürliche Ressourcen und Arbeitskraft auszubeuten, von den Kohlegruben West Virginias bis zu den Warenlagern von Jeff Bezos Amazon. Wenn die Armen - selbst auf destruktive und gewalttätige Weise - ihre vermeintliche Macht ausüben, dann zeigen sie eine vollkommen natürliche Reaktion auf ihre fortwährend ohnmächtige Situation. Für sie ist Plündern ein Schrei nach Hilfe, ein Ausdruck von Hoffnungslosigkeit.
Joshua Frank - It's a Class War Now Too [1]

Donald Rumsfeld sah die Sache locker, als Bilder plündernder Iraker nach der Eroberung Bagdads 2003 um die Welt gingen. Niemand, der diese Szenen sehe, werde nicht verstehen, daß das nun mal der Preis dafür sei, von einem Zustand der Unterdrückung zur Freiheit zu gelangen. Auch in den USA würde hin und wieder geplündert, so etwas passiere nun mal, und das bekomme man auch wieder unter Kontrolle [2], so der damalige US-Verteidigungsminister. Ob er mit dieser Erklärung auch die großen Schätze an antiken irakischen Kulturgütern zur Plünderung freigab, mit der die US-amerikanischen Truppen bei der Eroberung des Landes reiche Beute machten, blieb der individuellen Interpretation seiner Worte vorbehalten.

Nicht nur von Ordnungskräften und Sicherheitsbehörden wurden die vor allem in den ersten Tagen des aktuellen Aufstandes in den USA erfolgten Plünderungen aufs schärfste verurteilt. Auch viele der mit den Protesten gegen rassistische Polizeigewalt solidarischen Menschen distanzierten sich von jeglicher Gewalt und entzogen damit auch denjenigen die Unterstützung, die sich an Akten zivilen Ungehorsams wie dem Blockieren von Straßen oder Besetzen von Gebäuden beteiligten. Auch das gilt in der Sprache der Repressionsorgane als illegaler Gewaltakt, der verfolgt und geahndet werden muß.

Zweifellos ist die Zerstörung von Geschäften und Einrichtungen, die von den Protestierenden selbst in Anspruch genommen werden, keine besonders effiziente Strategie, doch in Momenten brennender Wut sind womöglich andere Dinge wichtig. Die bei Aufständen gegen Polizeigewalt immer wieder aufkommende Trope von gewalttätigen Schwarzen, die ihre eigenen Viertel niederbrennen, hat ihrerseits etwas Rassistisches - früher wurde in solchen Fällen gerne zu Tieranalogien gegriffen -, unterstellt sie den Protestierenden doch nichts anderes als eingefleischte Dummheit.

Tatsächlich ist die Frage, ob es sich wirklich um ihre eigenen Viertel handelt, keineswegs so eindeutig zu beantworten wie behauptet. Die Gentrifizierung ganzer Stadtteile nötigt dort eher prekär lebende Menschen immer wieder dazu, den Ort wechseln zu müssen, weil sie die Mieten nicht mehr bezahlen können. Auch müssen die Geschäfte in ihren Straßen nicht zwingend etwas mit ihrer Lebenswirklichkeit zu tun haben, kann es sich doch um angesagte Restaurants oder Boutiquen für eine ganz andere Klientel als die lokale Bevölkerung handeln [3]. Wie auch die große Zahl obdachlos lebender Menschen in den USA zeigt, leiden diese seit langem an den systemischen Aufwertungsprozessen, die sich in der Krise des Kapitals seit 2008 durch die intensive Nutzung von Land und Gebäuden als Grundrente erwirtschaftende Anlageobjekte weiter verschärft haben. Die Frage eines selbstbestimmten Lebens an einem selbstgewählten Ort aufzuwerfen würde tatsächlich weiterführen, anstatt auf eine fiktive Ortsverbundenheit abzuheben, der der Boden durch die EigentümerInnenklasse und ihre Geschäftsinteressen längst entzogen wurde.

Die Aneignung fremden Eigentums ist die wesentliche Triebkraft des marktradikalen Kapitalismus. Gefeiert wird, wer sich als besonders leistungsstark und durchsetzungsfähig erweist, während dem Rest das Stigma des Losers zugedacht ist. Je weniger finanzielles Eigentum und berufliche Qualifikation, desto mehr müssen die Menschen die nomadisierende, von Ort zu Ort ziehende Lebensweise der ArbeitsmigrantInnen in Kauf nehmen. Sie unterscheiden sich darin kaum von den aus Lateinamerika in die USA wandernden Menschen, die akuter materieller Not entkommen wollen, weshalb nicht nur dieser US-Präsident besonders gerne die xenophobe Karte spielt, um das eigene Subproletariat bei der Stange zu halten.

Die Flexibilität neoliberaler Marktsubjekte zeichnet sich gerade durch ihre hochgradige Mobilität und Verfügbarkeit aus. Die gleichen PolitikerInnen, die anläßlich des Aufstandes für George Floyd die Zerstörung lokaler Umgebungen beklagen, singen bei anderer Gelegenheit das hohe Lied einer auf eben diese Flexibilität ausgerichteten Arbeitsgesellschaft. Ganz bestimmt steht ihnen nicht der Sinn nach wehrhaften authochtonen Kollektiven, insbesondere wenn sie nicht weißer Hautfarbe sind wie die rechtsradikalen Milizen, die als faschistoide Fußsoldaten dieses Präsidenten die von ihnen gepflegte Feindseligkeit gegenüber der Zentralregierung in Washington offenkundig aufgegeben haben.

Auch die in den letzten Tagen vielfach kolportierte Behauptung, die militanten Proteste würden durch angereiste Linksradikale befeuert, entbehrt jeder Grundlage. Der regierungsamtliche Verschwörungsmythos, die gewalttätigen DemonstrantInnen kämen "von außen", sattelt auf das nationalchauvinistische, von Donald Trump explizit gemachte Klischee auf, MigrantInnen seien der Hort aller möglichen Bedrohungen, die sie ins Land einschleppten, weshalb sie durch die große Mauer an der Südgrenze abgewehrt oder in Lager gesteckt werden müßten. Wer bei diesem Aufstand tatsächlich "von außen" kommt, das sind die über 60.000 in Marsch gesetzten NationalgardistInnen und andere überregional aufgestellte Sicherheitsorgane, deren Legitimation in der Durchsetzung des staatlichen Gewaltmonopols besteht, also einer gegen lokale Autonomie gerichteten Form der Repression.

Die medial vermittelte Einengung der Proteste auf das Thema rassistischer Polizeigewalt ist denn auch als kleineres Übel aus Sicht des Staatsapparates zu verstehen. Die offene Kritik mehrerer hochrangiger Militärs an der Androhung der US-Streitkräfte gegen die eigene Bevölkerung ist ein Akt der Schadensbegrenzung, mit dem das größere Problem der People of Color in den USA, weit überdurchschnittlich von neoliberaler Austeritätspolitik und dem grausamen Strafvollzugssystem des Landes betroffen zu sein, unsichtbar gemacht werden soll. Wenn Generäle, die kein Problem damit haben, in anderen Ländern ganze Städte in Schutt und Asche zu legen, ein Wort für die eigene Bevölkerung einlegen, dann auch deshalb, weil eine Eskalation des Aufstandes zur sozialen Revolution, die sicherlich unwahrscheinlich, am Horizont moderner Kriegführung und ihrer elementaren Verankerung im Bestand imperialistischer Herrschaft aber auch niemals ganz auszuschließen ist, die Basis ihrer eigenen Existenz in Frage stellen könnte. Das gilt zum einen für den Fall, bei einem möglichen Absturz Donald Trumps mit in den Abgrund der Bedeutungslosigkeit gerissen zu werden, aber auch für die Vertiefung der Krise der von Wachstumseinbrüchen, Coronapandemie und Klassenwidersprüchen erschütterten US-Gesellschaft.

Rund 7500 Personen wurden zwischen 2013 und 2019 in den USA von der Polizei getötet, darunter zahlreiche unbewaffnete Menschen. 24 Prozent der Opfer waren AfroamerikanerInnnen, obwohl sie lediglich 13 Prozent der Bevölkerung stellen. In vier Prozent der Fälle hat die zuständige Staatsanwaltschaft Anzeige erstattet, bei einem Prozent ist es zu einer strafrechtlichen Verurteilung gekommen [4]. Die von den Protestierenden erhobene Forderung, die für den Tod von George Floyd verantwortlichen Beamten zu bestrafen, appelliert mithin an die Vergeltungslogik einer Gesellschaft, die für die Entstehung rassistischer Polizeigewalt in erster Linie verantwortlich ist. So nachvollziehbar der Wunsch ist, dafür die strafende Gewalt des Staates in Anspruch zu nehmen, so sehr könnte gefragt werden, ob mit dieser Forderung nicht die Legitimität eines rassistischen und sozialchauvinistischen Unterdrückungssystems gestärkt wird, das gänzlich zu überwinden die erste politische Forderung des Tages sein sollte.

Wer nicht als konkurrenzgetriebenes Marktsubjekt am immer kürzeren Band einer von Zwang und Mangel getriebenen Gesellschaftsordnung gehalten werden will, deren endemischer Rassismus tief in ihren kolonialistischen und klassengesellschaftlichen Strukturen verankert ist, kommt nicht umhin, weiterführende Fragen zu stellen. Da diese mit Zugeständnissen wie den jetzt versprochenen Polizeireformen nicht hinlänglich zu beantworten sind, ist die Mobilisierung der überflüssig gemachten Bevölkerung durch eine radikale Linke, die über den Klassencharakter der Herrschaft von Patriarchat und Kapital aufklärt, notwendiger denn je.

Das auch deshalb, um blutige Konfrontationen zu verhindern, in denen sich die groteske soziale Ungleichheit in den USA immer wieder zu entladen droht. Mit dem nun erreichten Stand von rund 40 Millionen Arbeitslosen, die das Heer der permanent auf dem harten Boden ungesicherter Existenz und materiellen Mangels aufprallenden Menschen weiter anwachsen lassen, stehen der US-Gesellschaft soziale Kämpfe ins Haus, denen gegenüber der breite, das ganze Land betreffende Aufstand gegen rassistische Polizeigewalt ein bloßer Vorgeschmack auf künftige Erschütterungen sein könnte. Die bereits erfolgende Umlastung der Kosten der COVID-19-Krise, die das Versagen der kapitalistischen Marktwirtschaft auf grausame Weise offengelegt hat, auf die nicht zur EigentümerInnenklasse gehörende Bevölkerung weist den Weg in eine Zukunft, die im besten und wünschenswerten Fall von der Emanzipation der überflüssig gemachten Menschen zu neuen Formen selbstorganisierten und autonomen Lebens bestimmt sein wird.


Fußnoten:

[1] https://www.counterpunch.org/2020/06/01/its-a-class-war-now-too/

"The act of looting is a long-standing American tradition, dating back to the theft of Native lands and African enslavement. And today, while wealthy people don't loot strip malls, they are adept at looting natural resources and labor, from the coalfields of West Virginia to Jeff Bezo's Amazon warehouses. The poor, exerting their nominal power-even in a destructive and violent manner-display an entirely natural reaction to a continually powerless state of being. For them, looting is a cry for help, an expression of hopelessness."

[2] https://www.upi.com/Defense-News/2003/04/11/Rumsfeld-Looting-is-transition-to-freedom/63821050097983/

[3] https://www.counterpunch.org/2020/06/03/whos-trashing-downtown-every-night-and-why/

[4] https://mappingpoliceviolence.org/

10. Juni 2020


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