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HERRSCHAFT/1910: Ideologische Widerhaken ... (SB)



In den zahlreichen Interviews, die Sahra Wagenknecht anlässlich der Veröffentlichung ihres Buches "Die Selbstgerechten - Mein Gegenprogramm - für Gemeinsinn und Zusammenhalt" Mitte April gegeben hat, beklagt sie sich häufig, die an ihr geübte Kritik bediene sich aus dem Zusammenhang gerissener Zitate. Das Problem könnte aber auch bei der Autorin selbst liegen, scheint doch das mit der Streitschrift zu Wasser gelassene Schiff nicht so perfekt austariert zu sein, dass es auf seinem Weg zu neuen Ufern nicht durch diese oder jene heftige Windbö in gefährliche Schräglage geriete. Wagenknecht bedient sich mit der Erzählung, die extreme Rechte profitiere davon, dass die Linke sich nur noch mit Befindlichkeitsproblemen herumschlage, eines mit dem unerwarteten Wahlerfolg von US-Präsident Donald Trump 2016 aufgekommenen Deutungsmusters. Diese Antwort auf die Frage, warum die Partei Die Linke nicht von den anwachsenden sozialen Härten profitiere, sondern das Wahlvolk zur AfD und anderen rechts aufgestellten Parteien wechselte, scheint wie der Deckel auf den Topf eines Problems zu passen, das Soziologie und Politikwissenschaften schon des längeren in Atem hält.

Bei genauerer Betrachtung zeigt sich, dass das Einleuchtende an dieser Erzählung der altbekannten Schaukel geschuldet ist, rechts und links als zwei einander gegenseitig bedingende Variablen einer Gleichungsfunktion zu betrachten, die als am meisten voneinander entfernte Antipoden schließlich gegeneinander austauschbar werden. Das Fatale an der Einebnung substantieller Unterschiede auf beiden Seiten dieses auch als Hufeisenmodell bekannten Legitimationskonzeptes besteht darin, dass die gesellschaftliche Mitte, wie auch immer sie inhaltlich aufgestellt sein mag, allein deshalb richtig liegt, weil sie sich als Ausgleich zwischen beiden Polen präsentieren kann. Weitgehend gegenstandslos gemacht durch dieses politische Hütchenspiel wird die Problematisierung des hegemonialen Neoliberalismus und seiner Drift in staatsautoritäre Richtung.

Wer von links nicht nur in die Mitte, sondern nach Höherem strebt tut mithin gut daran, alle Ideale und Prinzipien fallenzulassen, die das im Kern revolutionäre, weil antikapitalistische Projekt der Linken für die Klasse der KapitaleignerInnen und Herrschenden gefährlich gemacht hat. Zwar ist von der ehemaligen Kommunistin Sahra Wagenknecht seit über 10 Jahren bekannt, dass sie den Weg des Friedens mit Staat und Kapital eingeschlagen hat. Die nun mit dem Erscheinen ihres Buches aufgemachte Front schneidet tief ins Fleisch der Linken selbst, verstanden als Partei dieses Namens wie als außerparlamentarische Bewegung. Dass dieses von ideologischen Untiefen und Gräben durchzogene Terrain umsichtiges Navigieren zum Erhalt der eigenen Glaubwürdigkeit in den Augen verschiedener Klientel verlangt, könnte erklären, warum die Autorin Rechtfertigungsmanöver wie eine angeblich zum richtigen Verständnis zwingende Kontextualität ihrer Aussagen nötig hat.

Wenn eine in den Talkshows der Republik dauerpräsente Politikerin mit einem absehbaren Bestseller auf den Markt geht, der schon im Titel eine offensive Stoßrichtung erkennen lässt, ist davon auszugehen, dass sie bei der Wahl mitten ins Kontor erregter Kontroversen schlagender Begriffe weiß, was sie tut. Werden Reizworte wie "Lifestyle-Linke", "Cancel-Culture" oder "Identitätspolitik" zudem auf Personen und Gruppen im eigenen Lager gemünzt, weil diese angeblich dem Erfolg linker Politik im Wege stehen, dann ist für Aufmerksamkeit auf breiter Ebene allemal gesorgt.

Wer hier das Vorliegen einer polarisierenden Kommunikationsstrategie vermutet, anstatt der Klage Wagenknechts Glauben zu schenken, rationales Diskutieren mit dem Ziel des Lösens von Problemen sei in der Linken kaum noch möglich, liegt vermutlich nicht ganz daneben. Am 10. April von der Landesdelegiertenversammlung Die Linke NRW auf Platz 1 der Landesliste zur Bundestagswahl gesetzt, obwohl viele der Kernsätze ihres Buches damals schon bekannt waren, stellte sich die Autorin nach dessen offiziellem Erscheinungsdatum am 14. April den Fragen zahlreicher JournalistInnen. Bei soviel wohlplatzierter Werbung für ein politisches Bekenntnis auf der Höhe der Zeit ist es legitim, die Linkenpolitikerin beim Wort zu nehmen und defensive Manöver als situative Feinjustierung des eigenen Standortes im ideologischen Spektrum zu verstehen.


Am Rednerpult der 21. Rosa-Luxemburg-Konferenz in Berlin - Foto: © 2016 by Schattenblick

Sahra Wagenknecht auf der Rosa-Luxemburg-Konferenz 2016
Foto: © 2016 by Schattenblick


Grenzen des Staates ... Grenzen der Kritik

Offene Grenzen für alle ist weltfremd. Und wenn das Kernanliegen linker Politik ist, die Benachteiligten zu vertreten, dann ist die no-border-Position auch das Gegenteil von links. Alle Erfolge bei der Bändigung und Regulierung des Kapitalismus wurden innerhalb einzelner Staaten erkämpft, und Staaten haben Grenzen. Der BDI trommelt nicht ohne Grund seit Jahren für ein Einwanderungsgesetz. Arbeitsmigration bedeutet zunehmende Konkurrenz um Jobs, gerade im Niedriglohnsektor. [1]

Dies gegenüber einem Journalisten des Focus zu sagen, der es wissen muss, wenn er auf Antirassismus und Antisexismus orientierte Menschen pauschal als "regressive Linke" abqualifiziert, lässt darauf schließen, dass die Deutungshoheit über das, was heute als links gilt, jedenfalls nicht bei AktivistInnen liegt, die für ihre Überzeugungen auch mal ein paar Tage im Knast verbringen. Niemand hat sich die nationale Herkunft und das Verhängnis respektive die Privilegien des In-die-Welt-Tretens eigens verdient, und dennoch kann die Frage, ob jemand in einer europäischen Metropolengesellschaft oder einem weltwirtschaftlich abgehängten Land des Südens geboren wurde, über Leben und Tod entscheiden.

Dementsprechend ist es ein Unterschied ums Ganze, eine aus Territorium, Bevölkerung, Gewaltmonopol, Verfassungsgerichtsbarkeit und Normenkontrolle - so die gängigen staatsrechtlichen Kriterien - konstituierte Staatlichkeit zum primären Handlungsfeld zu erklären oder die Überwindung dieser stets gegen nicht Dazugehörige gerichteten Form sozialer Organisation zum politischen Programm zu erheben. Letzteres war zumindest für Teile der revolutionären Linken Voraussetzung zur Befreiung des Menschen von jeglicher Ausbeutung und Beherrschbarkeit. Dafür gibt es, wie angesichts mehrerer den ganzen Planeten betreffender Krisen deutlich wird, nach wie vor gute Gründe.

Aus Herkunft und Nationalität resultierende Probleme werden in einer gesellschaftlichen Linken, die ihre Entstehungsgeschichte aus den Kämpfen gegen Klassenherrschaft und imperialistische Kriege noch nicht ganz vergessen hat, zu einem Gegenprogramm anderer Art erklärt. Auch wenn dessen unmittelbare Verwirklichung nicht gegeben sein mag, erfüllt es als Ideal unabgegoltener Menschwerdung die wichtige Aufgabe, Orientierung und Richtung zu weisen. Dem gesellschaftlichen Ist-Zustand sozialreformerische Verbesserungen abzuringen verlangt hingegen ein hohes Ausmaß an Akzeptanz privatwirtschaftlicher Eigentumsformen und bürokratischer Ordnungshierarchien. Ein Vorschein sozialistischer, kommunistischer oder anderer Befreiungsentwürfe kann da nur stören.

Da der ideologische Abwehrkampf gegen "Linksabweichlertum" oder einen "utopischen Sozialismus" nicht zum Ziel einer kommunistischen Weltgesellschaft geführt hat, sondern das untote Gespenst patriarchaler, klerikaler und nationalistischer Selbstbehauptung auf den noch rauchenden Trümmern der realsozialistischen Staatenwelt Triumphe feiert, bleibt der darauf bezogenen Linken nicht viel mehr übrig, als ihre Ziele im Rahmen des übrig gebliebenen neoliberalen Kapitalismus zu verwirklichen. Wird der Kampf um internationale und universale Solidarität zugunsten einer in den deutschen Grenzen verbleibenden sozialdemokratischen Umverteilungspolitik aufgegeben, liegt die Fluchtlinie dieser Perspektive im nationalen Sozialismus, wenn letzterer überhaupt beansprucht wird. Da die Bundesrepublik sich gegen die Armut der Welt abschottet, indem die äusseren Grenzen der von ihr hegemonial verfügten EU immer blutiger werden, und der Binnenraum mit Kapital- und Warenexport so effizient bewirtschaftet wird, dass das Gefälle zu den EU-Mitgliedstaaten immer steiler, sprich die in die BRD ziehende Arbeitsmigration immer kostengünstiger wird, ist die Eintrittskarte in die oberen Etagen der Regierungsmacht zwingend an die Unhinterfragbarkeit dieses angeblichen Erfolgsmodells geknüpft.

So erweist sich die Polemik der ehemaligen Kommunistin, offene Grenzen für alle seien "weltfremd", im Schmerz der im Mittelmeer Ertrinkenden als Fremde einer Welt, deren Feindseligkeit menschengemacht und daher von Menschen auch aufzuheben ist. Dieser Grundsatz linker Positionsbestimmung findet seine Grenzen eben dort, wo sie von Wagenknecht immer wieder neu gezogen werden, wenn sie deren Unentbehrlichkeit beschwört.


Veranstaltungsankündigung 'Aufstehen' mit Sahra Wagenknecht - Foto: © 2019 by Schattenblick

Simulation einer Basisbewegung
Foto: © 2019 by Schattenblick


Rechter Gesinnungsverdacht ... Return to Sender

Ob in den USA oder Europa: Wer sich auf Gendersternchen konzentriert statt auf Chancengerechtigkeit und dabei Kultur und Zusammengehörigkeitsgefühl der Bevölkerungsmehrheit vernachlässigt, arbeitet der politischen Rechten in die Hände. Sahra Wagenknecht zeichnet in ihrem Buch eine Alternative zu einem Linksliberalismus, der sich progressiv wähnt, aber die Gesellschaft weiter spaltet, weil er sich nur für das eigene Milieu interessiert und Diskriminierung aufgrund sozialer Herkunft ignoriert. Sie entwickelt ein Programm, mit dem linke Politik wieder mehrheitsfähig werden kann. Gemeinsam statt egoistisch. (Aus der Verlagsankündigung für "Die Selbstgerechten") [2]

Die von Wagenknecht beklagte - und mit der Orientierung auf vermeintliche Luxusprobleme einer materiell angeblich sorglos lebenden urbanen Linken erklärte - Erfolglosigkeit der parlamentarischen Linken lässt sich allerdings auch ganz anders lesen. SPD, Grüne und Die Linke arbeiten der nach außen aggressiven und nach innen repressiven Funktionsweise des Modells Deutschland spätestens dann zu, wenn sie in Regierungsverantwortung stehen. Das könnte die Wählerschaft dazu verleiten, ihre Stimme doch gleich dem Original anstatt der Kopie zu geben. So unterscheidet sich die schlichte Deutung, die Exklusivität identitätspolitischer Extravaganzen treibe die WählerInnen der Rechten zu, nicht maßgeblich vom Vorwandscharakter der Argumentation bürgerlicher Parteien, mit der Übernahme rechter Positionen könne man der extremen Rechten das Wasser abgraben.

Ganz im Gegenteil, die Strategie, der aus dem rechten Flügel der Unionsparteien gemendelten AfD hinterherzuhecheln, hat Gauland, Meuthen und Weidel eher darin bestätigt, mit Nationalchauvinismus und Antifeminismus richtig zu liegen, wenn es um die Durchsetzung ihrer Ziele geht. In der sich zuspitzenden innerimperialistischen Staatenkonkurrenz sind als links markierte Parteien, wie die rotgrüne Bundesregierung mit deutscher Kriegsbeteiligung und ihrem austeritätspolitischen Workfare-Regime bewiesen hat, für die Normalisierung von Sozialdarwinismus, Klassenantagonismus und Kriegsbereitschaft unentbehrlich. Traditionell progressiv aufgestellte Teile der Bevölkerung davon zu überzeugen, dass die Zukunft bei Strafe des nationalen Untergangs allen mehr Blut, Schweiß und Tränen abverlangt, war stets die angestammte Aufgabe der Traditionslinken, wie die Geschichte der deutschen Sozialdemokratie belegt.

Das Prinzip des Teilens und Herrschens ist bei einer Frontfrau wie Sahra Wagenknecht in guten Händen, gerade weil es, um Dampf im Kessel der Sozialkonkurrenz zu machen, nicht der Solidarität mit Flüchtenden, sondern ihrer Stigmatisierung bedarf. Das an die Wand gemalte Schreckgespenst vom sozialen Abstieg der Bevölkerung durch massenhafte Armutseinwanderung eignet sich hervorragend dazu, für die Sozialisierung der Kosten und Privatisierung der Gewinne des gesellschaftlichen Gesamtprodukts diejenigen verantwortlich zu machen, deren Misere deutlich schlimmer ist als die der hiesigen LohnarbeiterInnenklasse. "Egoistisch" sind laut dieser Lesart die UnterstützerInnen derjenigen, die von außen in die deutschen Sozialsysteme drängen, anstatt stumm dort zu vergehen, wo das Anwachsen der Überlebensnot kein Halten mehr kennt.

Flüchtlingsabwehr, Exportoffensive, Ressourcensicherung und Kriegsbereitschaft sollen mehrheitliche Zustimmung auch bei denjenigen erfahren, die fast nichts haben, denn selbst das könnte ihnen noch verloren gehen. Nationale Umverteilung im hohen Ton moralischer Empörung zu fordern, ohne die Bringschuld, die die Erben des europäischen Kolonialismus gegenüber dem Rest der Welt durch die Versklavung afrikanischer und indigener Menschen, durch die Unterstützung blutiger Diktaturen von Chile, Brasilien und Argentinien bis Südafrika, Ägypten und Türkei, durch die extraktivistische Inwertsetzung natürlicher und menschlicher Ressourcen im globalen Süden, durch die Klima und Natur zerstörende fossile Energieerzeugung und den daraus resultierenden technologischen und produktiven Vorsprung haben, kann nur auf die Austauschbarkeit von Gemeinsinn und Egoismus hinauslaufen.

Je nachdem, von welcher Warte aus die moralische Bilanz gezogen wird, lässt sich Gutes oder Schlechtes aufzählen. Unvollständig bleibt die Aufstellung, wenn die eigenen Motive zur Bildung symbolischen Kapitals ausgeklammert werden. Diese in der bürgerlichen Eigentumsordnung so mitzudenken, dass soziale Gleichheit alle anderen Ziele auf die Plätze verweist, führte vom Doppelcharakter der Moral zur Eindeutigkeit der Machtfrage. War die Überwindung der privatwirtschaftlichen Eigentumsordnung einst auch die Position Sahra Wagenknechts, predigt sie nun die Regeln zivilgesellschaftlicher Kohäsion, also des Betriebsfriedens zwischen Belegschaft und EigentümerInnen.


Fensterfront eines mehrstöckigen Fitnessstudios mit Menschen an Maschinen - Foto: © 2015 by Schattenblick

Fabrik der Menschen ... im Laufrad der Leistungsoptimierung
Foto: © 2015 by Schattenblick


Leistung soll sich wieder lohnen

Aufschluss über das, was unter der Allerweltsforderung eines "modernen Sozialstaates" zu verstehen ist, gibt der von Sahra Wagenknecht verlangte Primat eines "neuen Leistungseigentums". Es soll die Dynamik einer "echten Leistungsgesellschaft" befeuern, die "jedem ein gutes Leben und Aufstieg ermöglicht". Ein auf einem Blog des Wirtschaftsforum der SPD e.V. einsehbarer Auszug aus ihrem Buch [3] stellt hinlänglich klar, dass seine Verfasserin eine in ihren Augen zum Wohle aller Beteiligten funktionsfähige, weil an der Innovationsfähigkeit und Produktivität von Unternehmen und nicht einer selbstzweckhaften Kapitalisierung der InvestorInnen orientierte Marktwirtschaft für die ideale Lösung der sozialen Unwuchten des Kapitalismus hält.

"Die Motivation echter Unternehmer ist, wie schon Schumpeter wusste, eine andere als die von Kapitalisten." Als Stichwortgeber der "schöpferischen Zerstörung" [4] steht der österreichische Nationalökonom Joseph Schumpeter für eine radikale und permanente Revolutionierung der Produktivkräfte, deren Fortschrittlichkeit nicht zuletzt in der Entsicherung aller Lebens- und Arbeitsverhältnisse besteht. Ohne den scharfen Wind der Aufstiegskonkurrenz und den Imperativ fortwährender Optimierung des individuellen Leistungsprofils ist der Zugriff der Unternehmen auf die noch nicht angezapften Verwertungspotentiale der Arbeitssubjekte nur eingeschränkt möglich. Resistenzen der Lohnabhängigen sind ein permanentes Problem der KäuferInnen ihrer Arbeitszeit, um so willkommener ist jede von vermeintlich linker Seite initiierte Sozialstrategie, die Motivation und Zustimmung unter den ArbeiterInnen schafft.

Wagenknecht macht sich zwar für eine intensive staatliche Regulation der Unternehmen stark, propagiert dabei jedoch ein Leistungsdenken, das die soziale Härte des Wettbewerbs auch bei relativer Absicherung gegen Notfälle zum zentralen Funktionsprinzip der Arbeitsgesellschaft erhebt. Mit dem Begriff des "Leistungseigentums" wirbt sie für eine Form des Kapitalismus, in dem das Verhältnis von Kapitalinvestition und Unternehmensführung über den Rang eines Legitimation produzierenden Scheinwiderspruchs Gültigkeit erhält. Die daraus resultierende "echte Leistungsgesellschaft" produziert mithin nicht nur ökonomischen Mehrwert im klassisch marxistischen Sinne, sie schafft auch den moralischen Mehrwert der "Leistungsgerechtigkeit".

"Nach dieser konservativen und dennoch keineswegs überholten Gerechtigkeitsvorstellung steht dem Fleißigen mehr zu als dem Faulen und dem Hochproduktiven mehr als dem, der nur Dienst nach Vorschrift macht (...) Der Leistungsgedanke war auch in der Arbeiterbewegung tief verankert, die damit nicht nur ihre Lohnforderungen begründete, sondern auch ihre Kritik am kapitalistischen Eigentum. Immerhin besteht dessen Spezifik bis heute darin, dass es nicht-arbeitenden Erben großer Finanz- und Betriebsvermögen erlaubt, sich die Arbeitsergebnisse anderer anzueignen und ganz ohne eigene Leistung ein luxuriöses Leben zu führen." [5]

Die revolutionäre ArbeiterInnenbewegung hat sich keineswegs nur gegen arbeitsfrei erwirtschaftetes Vermögen gerichtet. Sie kämpfte gegen die gesundheitschädliche und lebensverkürzende Destruktivität der Arbeitsbedingungen selbst in Manufaktur, Fabrik und Bergbau, die psychophysische Ausbeutung durch das Scientific Management des Taylorismus, die Entfremdungswirkung Geist und Körper zerstörender Fließbandarbeit und anderer zur Effizienzsteigerung sich monoton wiederholender Bewegungsabläufe, gegen die Doppelbelastung und besondere Unterdrückung der Frauen und nicht zuletzt gegen den imperialistischen Krieg, in dem sie gegen ihresgleichen zu Felde ziehen sollte. Zumindest sozialrevolutionäre ArbeiterInnen waren kaum für das Leistungsprinzip zu begeistern, sie kämpften für selbstverwaltete Betriebe, gegen das unternehmerische Zeitregime und eine die Ausbeutungsintensität erhöhende Innovationsdynamik. Arbeitseffizienz im demokratischen Beschluss zu verbessern ist etwas anderes, als vom Verwertungszwang bestimmte Rationalisierungsmaßnahmen zu erleiden, die zudem meist in Entlassungen mündeten.

Die durch die Digitalisierung der Arbeitswelt verstärkte Isolation der ArbeiterInnen, ihre Verfügbarkeit zu fast jeder Uhrzeit, das Kontrollregime permanenter Überwachung und Evaluation der Arbeitsleistung, die damit einhergehende Verschärfung der sozialen Konkurrenz und der dadurch bewirkte geringere gewerkschaftliche Organisationsgrad sind Folgen einer Innovationsoffensive, die der wissenschaftlich-technischen Durchdringung des Produktionsprozesses immanent ist. Eine an die Unternehmen gerichtete Forderung nach Innovationsfähigkeit ist von der Verschärfung des Ausbeutungsgrades kaum zu trennen, das gilt zumindest für die privatwirtschaftlich geführte Wirtschaft. Innovation als selbstevidentes Buzzword, wie im Neusprech des neoliberalen Entrepreneurships allgegenwärtig, lässt absichtsvoll alle dagegen gerichtete Kritik links liegen, wo sie gerade heute stark gemacht werden müsste, wie etwa in "Krisen - Kämpfe - Kriege 2: Innovative Barbarei gegen soziale Revolution - Kapitalismus und Massengewalt im 20. Jahrhundert" von Detlef Hartmann [6] geschehen.

Indem Wagenknecht die Eigentumsfrage nicht mehr auf die Produktionsmittel und damit den zentralen Klassengegensatz bezieht, sondern auf das Verhältnis von Investition und Produktion anwendet, während Lohnabhängige der Bewährungsprobe individueller Leistungsbereitschaft unterworfen werden, kann ihr der Vorwurf, an die aus dem NS bekannte Trennung von im Volk verankerten "schaffenden" und dem Judentum zugeschriebenen "raffenden" Kapital anzuknüpfen, kaum erspart bleiben.

Mit Kapitalismus identifizierte die NS-Ideologie nicht eine spezifisch historische Gesellschaftsformation, die durch (beherrschende) Warenproduktion und das soziale Verhältnis Lohnarbeit und Kapital gekennzeichnet ist, sondern den schrankenlosen, durch keine sittlichen Verpflichtungen gegenüber Volk und Staat beschwerten Mißbrauch des Kapitals bzw. die unsittliche Verteilung von Kapital. (...) Privateigentum und freies Unternehmertum werden dementsprechend grundsätzlich als vermeintlich naturgegeben anerkannt. Dem durch redliche Arbeit erzeugten und in der Hand genial tätiger Unternehmer wertschaffenden nationalen Kapital wird ausdrücklich die Unentbehrlichkeit für Volk und Wirtschaft bescheinigt. (...) Mit dem die kapitalistische Gesellschaft beherrschenden Klassengegensatz ist keine Volksgemeinschaft zu machen, und so verkehrt sich zwangsläufig die innergesellschaftliche in eine äussere, im Kern völkische Konfliktlinie: Ausbeutung vollzieht sich im völkischen Denken nicht anhand der Aneignung unbezahlter Mehrarbeit der Lohnabhängigen durch das fungierende Kapital, sondern als Raubzug des als volksfremd benannten, nicht-schaffenden (raffenden) internationalen Finanzkapitals gegen die gemeinsam wertschaffenden deutschen Arbeiter und produktiven deutschen Unternehmer, die mittels Börsenspekulation und Zins sowie mit Hilfe des rücksichtslosen Einsatzes wirtschaftlicher Macht um die Früchte ihrer Arbeit gebracht würden. [7]

Dafür verantwortlich gemacht wurde vor allem die als jüdisch identifizierte Internationalisierung des Kapitals, die ehrliche arbeitende BürgerInnen um den Lohn ihrer Mühen brachte. In Abwehr des ebenfalls als jüdisch markierten Bolschewismus galt es, die Enteignungsforderungen des Proletariats auf ein möglichst abstraktes und zugleich ethnisch-religiös identifizierbares Feindbild umzulenken - das angeblich in jüdischen Händen konzentrierte Finanzkapital. Das biologistische Konzept des organisch gewachsenen und "rassisch" reinen Volkskörpers erhielt durch das jüdisch konnotierte, nicht von Arbeit lebende, sondern an Zins und Spekulation prosperierende internationale Finanzkapital den äußeren Feind, dessen es zu nationaler Einheit und Kriegsbereitschaft bedurfte. Dieses antisemitische Feindbild ermöglichte zudem, das als deutsch angesehene Großkapital von Thyssen bis Krupp, von Siemens bis IG Farben als der Volksgemeinschaft zugehörig darzustellen, also den Frieden zwischen Arbeit und Kapital im ethnisch homogenen Nationalstaat sicherzustellen, was als von den dadurch begünstigten Kapitaleliten überall in der Welt als zentrale Errungenschaft des Faschismus nicht hoch genug geschätzt werden kann.

Dies zu wissen ist auch deshalb erforderlich, weil die von der Parteigenossin Ulla Jelpke an Sahra Wagenknecht geübte Kritik, sie bediene sich der "alten Mär vom schaffenden und raffenden Kapital" [8], von deren AnhängerInnen empört zurückgewiesen wird. Um die Quadratur des Kreises zu vollziehen, einen sozial gerechten wie ökologisch gezügelten Kapitalismus zu schaffen, muss ideologisch blankgezogen werden, daher trifft auch der von einigen KritikerInnen Wagenknechts gewählte Begriff der "Abrechnung" mit Teilen der eigenen Partei durchaus ins Schwarze.

Die von der Politikerin angesprochenen ArbeiterInnen sollen Konkurrenzsubjekte einer Leistungsgesellschaft bleiben, in der sich, wie in FDP-Kreisen gerne verlangt, Leistung wieder lohnen soll. Dass der Lohn des Verkaufes der eigenen Arbeitskraft und Lebenszeit in dem von ihr propagierten Modell eines Reformkapitalismus immer noch weniger wäre als das, was den marktkonform zugerichteten Menschen durch ihre systemische Entfremdung bereits genommen wurde, reduziert das Publikum Wagenknechts auf LohnempfängerInnen auch im ideellen Sinne. Der Mensch wird nicht geboren, um für Unterwerfung belohnt zu werden, sondern dazu erzogen, sich gehorsam und bescheiden in die Ordnung einzufügen, von deren Reproduktion sein Leben abhängt.

Das sollte nicht zu dem Trugschluss führen, der Zweck des Staates bestehe darin, das Leben des einzelnen zu sichern. Umgekehrt wird ein Schuh daraus, sein Bestand wird gesichert durch die Reproduktion des Kapitals, von dem er abhängt und das seine Bevölkerung erwirtschaftet. Die persönliche Freiheit, von der in Corona-Zeiten so viel die Rede ist, besteht im Kern in der freiwilligen Verwertbarkeit durch die kapitalistische Arbeitsgesellschaft, was die soziale Reproduktion der Lohnabhängigen zwingend erforderlich macht. Staat ist ohne eine dafür verfügbare Bevölkerung nicht zu machen und seine angebliche Sorge um das Wohl der Arbeitssubjekte biopolitischer Ausdruck bloßer Notwendigkeit. Den Verlust der Freiheit, sich als Marktsubjekt verwerten zu dürfen, zum Verlust der Freiheit überhaupt zu erklären, wie auf den Demos der Querdenkerbewegung geschehen, dokumentiert die erfolgreiche Eindampfung emanzipatorischer Anliegen auf die Verfügbarkeit des eigenen Lebens durch den ideellen Gesamtkapitalisten, den Staat.

Sahra Wagenknecht hat nicht viel mehr anzubieten als die Masse der Menschen auf den Status verfügbarer Arbeitssubjekte festzulegen, wenn sich ihr Plädoyer für arm und prekär lebende BürgerInnen auf leistungsgerechte Integration in eine reformkapitalistische Eigentumsordnung beschränkt. Was linkes Aufbegehren seit jeher gekennzeichnet hat, Gleichheit nicht nur formalrechtlich herzustellen, sondern materiell im Sinne der Aufhebung des Privateigentums an Produktionsmitteln und des Selber Organisierens produktiver Tätigkeiten zu verwirklichen, bedarf eines unbscheideneren und streitbareren Auftretens, als ein Bündnis zwischen ArbeiterInnen und UnternehmerInnen erlauben kann.

Gleiches gilt für eine sozialökologische Wachstumskritik, die nicht nur aus Gründen der Krisen des Klimas, des Trinkwassers, der Ernährung und der Biodiversität, sondern auch zur Minderung der aus marktförmigem Wettbewerb entstehenden sozialen Verluste geboten ist. Zwar kommt Wagenknecht nicht umhin, die Zügelung ökonomischen Wachstums anzuerkennen. Das ist in einem Reformkapitalismus, der nicht minder auf Mehrwertproduktion durch Lohnarbeit angewiesen ist wie der neoliberale Kapitalismus, kaum anders zu verwirklichen als mit einem grünen Kapitalismus, der neokolonialistischer Kompensationsmechanismen und technologischer Risiken neuer Art bedarf, um der eigenen Bevölkerung Wohlstand versprechen zu können.

Wenn die Linken-Politikerin den AktivistInnen von Fridays for Future vorwirft, das Leben der Lohnabhängigen mit ökologisch begründeten Verteuerungsforderungen noch unmöglicher zu machen, dann mündet das nicht in eine Kritik des derzeit auf breiter Ebene propagierten Versuches, die Klimakrise marktförmig zu zügeln. Den Ausverkauf der Interessen indigener Menschen und SubsistenzbäuerInnen im Globalen Süden durch klimapolitisch begründete Landnahme oder fossilistische Kompensationsprojekte wie die Kommodifizierung ihrer Lebensgrundlagen für die Ausgabe von Verschmutzungsrechten oder Biodiversitätszertifikaten zu kritisieren [9] liegt Wagenknecht ebenso fern wie die sozialökologische Destruktivität der kapitalistischen Eigentumsordnung zum Kern des Problems zu erheben. Anstatt Fridays For Future von links zu kritisieren und diese in Zeiten der politischen Agonie erfreuliche Initiative mit der notwendigen argumentativen Munition zur Formierung einer antikapitalistischen und ökosozialistischen Basisbewegung zu versehen, verschafft sie der paternalistischen Arroganz der Lindner und Gauland Rückenwind.

Wo die Krise des Kapitalismus durch Überproduktion in der Industrie, durch zunehmende Verschuldung in allen Bereichen der Gesellschaft, durch die Akkumulation fiktiven Kapitals, durch die anwachsende Verwertung immateriellen Eigentums von Urheberrechten, Patenten und Lizenzen sowie durch Blasenbildung auf dem Immobilienmarkt nicht mehr kompensiert werden kann, muss jedes nationalkapitalistische Reformprogramm auf so große Schwierigkeiten stoßen, dass der Übergang in eine ökosozialistische Gesellschaft auch keine größere Hürde darstellte, dafür aber weit lebensfreundlichere und liebenswerte Perspektiven eröffnete. Die soziale Reformierbarkeit des Kapitalismus ist eine alte Mär, die nur allmählich der Erkenntnis weicht, dass gesellschaftliche Erschütterungen, krisenhafte Schocks und programmatische Disruptionen der permanente Betriebsmodus eines Gesellschaftssystems sind, das durch die Verwertung des Kapitals um seiner selbst willen vorangetrieben wird.

Selbst wenn der Nationalstaat sich als das von Wagenknecht propagierte Feld erreichbarer gesellschaftlicher Veränderungen zum Besseren hin bewährte, so doch unter Ausblendung größerer Probleme. Eine im Sinne linker Gerechtigkeitsforderung erfolgreiche Bilanz sozialdemokratischer Umverteilungspolitik änderte aufgrund der für die hochproduktive BRD unverzichtbaren Stoff- und Finanzströme am imperialistischen Charakter deutscher Weltpolitik nichts. Ebenso wenig würde der Klassencharakter der privatwirtschaftlichen Eigentumsordnung auf eine Weise in Frage gestellt, die den Blick auf die inneren Gewaltverhältnisse und die eigene Verantwortung für den Erhalt der Lebensgrundlagen in aller Welt schärfte. Das Versprechen auf Teilhabe an den Privilegien ganz oben in der Fresskette erwiese sich als das, was Teilen, Zählen und Vergleichen zuvörderst zugrunde liegt - unabdingliche Voraussetzung welcher Herrschaft auch immer.


Oskar Lafontaine, Sahra Wagenknecht und Dietmar Bartsch mit Kranzgebinde - Foto: © 2016 by Schattenblick

Wer denkt an uns? Kranzniederlegung auf dem Sozialistenfriedhof Berlin-Friedrichsfelde 2016
Foto: © 2016 by Schattenblick


Rolle rückwärts vor 1968

Es ist sicher kein Zufall, dass diese Kritik am Leistungsgedanken auf die 68er-Bewegung zurückgeht, deren Wortführer in erster Linie wohlhabende Bürger- und Großbürgerkinder waren. Heute ist die Kritik an messbaren Leistungskriterien sowie einer leistungsgerechten Verteilung sicher auch deshalb so meinungsstark, weil sie dem Bemühen der akademischen Mittelschicht entspricht, das eigene soziale Milieu nach unten abzuschotten und den Zugang zu lukrativen Berufen auf die eigenen Nachkommen zu beschränken. Genauso verständlich ist es daher, dass der Leistungsgedanke in der klassischen Mittelschicht und der Arbeiterschaft unvermindert lebendig ist und die Idee eines bedingungslosen Grundeinkommens in diesen Kreisen nahezu keine Unterstützung genießt. [11]

Marxistisch inspirierten 68ern vorzuhalten, mit der Kritik an der Leistungsgesellschaft, die vor allem das Problem der Entfremdung durch Lohnarbeit, durch die technologisch-wissenschaftliche Zurichtung des Menschen auf Verfügbarkeit für Fabrik und Militär und die Warenförmigkeit aller Tauschprozesse bis hinein ins Private zum Gegenstand hatte, die Grundlage für eine biologistische Strategie dynastischer Erbfolge gelegt zu haben, entspräche etwa dem Vorwurf, rechts gewendete Linke von Mahler bis Elsässer seien Opfer genuiner emanzipatorischer und revolutionärer Positionen und könnten selbst nichts dafür, dass sie erst in der radikalen Rechten ihr Heil gefunden haben.

Analog zu dem mit "1968" markierten Gesinnungsverdacht arbeitet sich Wagenknecht an einer von ihr als Ziel eines ganzen Schwalls an Verächtlichkeiten auserkorenen, in innerstädtischen Szenevierteln wohnenden, angesagtem Luxuskonsum frönenden und sich an ideologischen Geschmacksproblemen abarbeitenden "Lifestyle-Linken" ab. Zweifellos gibt es in Berlin-Mitte Menschen, auf die der Vorwurf zutrifft, ihren neofeudalen, von demonstrativer sozialer Distinktion nur so strotzenden Lebensstil auch noch als fortschrittlich auszuweisen und anderen schon durch dieses Gehabe vorzuschreiben, sich davon eine Scheibe Biofleisch abzuschneiden. Dieser soziale Antagonismus ist aber eher im Biedermeier grünen Wohlstandsbürgertums und sich progressiv gerierender Unterhaltungsstars anzutreffen als im Milieu linker Politik. Zwar werden auch dort sozialökologische und geschlechterpolitische Probleme verhandelt, aber der Vorwurf, dies sei ein Privileg sozial bessergestellter Menschen, trifft gerade im Fall linksradikaler AktivistInnen eher selten zu. Auch AkademikerInnen, denen Wagenknechts besonderer Abscheu zu gelten scheint, leben häufig prekär und müssen jeden Euro umdrehen, um ihr Studium absolvieren zu können. Von der sogenannten Kreativwirtschaft abhängige Künstlerinnen, auf die die Thematisierung queerer und migrantischer Widerspruchslagen in besonderer Weise zutrifft, gehören nicht erst seit der Corona-Pandemie zu den mit am schlechtesten verdienenden Berufsständen.

Mit dem grobschlächtigen Feindbild der "Lifestyle-Linken" reduziert Wagenknecht seit Jahrzehnten geführte Kämpfe gegen Rassismus, Sexismus, Patriarchat, Kolonialismus und Kapitalismus auf ein Luxusproblem gesellschaftlich privilegierter Gruppen. Linke Strömungen von postautonomer, trotzkistischer, anarchistischer und marxistischer Denkungsart waren und sind seit jeher mit diesen Problemkomplexen befasst. Selbst dort, wo die Frage der Geschlechtergerechtigkeit, des Umgangs mit gesellschaftlichen Naturverhältnissen und anderen Gewaltverhältnissen für ein nachrangiges Problem gehalten wurde, hat die Auseinandersetzung mit repressiver Vergesellschaftung und patriarchaler Herrschaft eine Dynamik eigener Art entfaltet. Ob sie radikale Abspaltungen, neue Parteien, utopische Zukunftsentwürfe hervorbrachte oder nach dem Marsch durch die Institutionen mitten im Staatsapparat endete, wofür viele parteigrüne Biografien ein Paradebeispiel sind, bezeugt in jedem Fall die Erfordernis, die Frage der Macht und Machbarkeit zu stellen.

Der Angriff auf Minderheiten, die die zerstörerischen Auswirkungen kapitalistischer Vergesellschaftung erleiden und daher versuchen, eine emanzipatorische Gegenposition zu entwickeln, folgt der Logik einer Mehrheit, die sich den ungestörten Genuss der Früchte dieser Verwertungsordnung nicht nehmen lassen will. Darüber hinwegsehen zu können, dass der Reichtum in den führenden Staaten imperialer Bestandssicherung auf dem Rücken zahlloser nicht einmal die eigene Reproduktion sichernder LohnsklavInnen wie der unumkehrbaren Zerstörung natürlicher Lebensgrundlagen erwirtschaftet wird, bleibt das Privileg einer kleinen Minderheit aller Menschen. Sich dennoch zur Deutungsmacht der über die Welt verfügenden Mehrheit aufzuschwingen kann nur im Rahmen einer Selbstbehauptung gelingen, in der die keineswegs bloß symbolische, sondern ganz materielle Gewalt weißer Suprematie und eurozentrischer Mittelpunktslogik reproduziert wird, bis der lange Atem und entschlossene Mut des dagegen gerichteten Widerstandes der dafür aufgefahrenen Kapitalmacht und Feuerkraft Einhalt gebietet.

Eben das wäre die Aufgabe einer Linken, der soziale Gerechtigkeit nicht nur als Antwort auf eine "soziale Frage" gilt, mit der der herrschende Klassenantagonismus als Objekt sozialwissenschaftlicher Empirie und Problemfall gesellschaftlicher Widerspruchsregulation vom ansteckenden Keim kämpferischer Subjektivität befreit wird, sondern die nicht vergessen hat, dass gesellschaftlicher Wandel immer erstritten werden musste und muss. Die Spitzenkandidatin der Linkspartei in NRW hat keinen geringen Anteil daran, dass genau das nicht geschieht. Als Tribunin eines Volkes, das als solidarisch handelndes Kollektivsubjekt ebenso wenig existiert wie die von ihr imaginierte Lifestyle-Linke, besitzt Sahra Wagenknecht als ihrerseits im arrivierten Bürgertum angekommene Ex-Kommunistin nur bedingt Überzeugungskraft. Wenn schon die Elle eines Distinktionsstrebens, das von Klasse und Kapitalismus nichts mehr wissen will, an Teile der eigenen Partei angelegt wird, dann sollte sich selber prüfen, wer dies an anderen vollzieht.


Transparent 'Wir grüssen alle weltweit die sich gegen Ausbeutung und Unterdrückung stark machen' - Foto: © 2019 by Schattenblick

Grenzenlos streitbar - 8. März 2019 in Hamburg
Foto: © 2019 by Schattenblick


Generalvorwurf "Identitätspolitik"

[Identitätspolitik] steht im Zentrum des Linksliberalismus und liefert praktisch das Grundgerüst, auf dem das linksliberale Weltbild beruht. Die Identitätspolitik läuft darauf hinaus, das Augenmerk auf immer kleinere und immer skurrilere Minderheiten zu richten, die ihre Identität jeweils in irgendeiner Marotte finden, durch die sie sich von der Mehrheitsgesellschaft unterscheiden und aus der sie den Anspruch ableiten, ein Opfer zu sein. Wichtig, um zur anerkannten Opfergruppe zu werden, ist eigentlich nur, dass es sich um individuelle Merkmale handelt, nicht um solche, die mit sozioökonomischen Strukturen zusammenhängen. Also die Herkunft aus sozial schwierigen Verhältnissen, Armut oder ein Job, bei dem man seine Gesundheit ruiniert, sind eher ungeeignet, um im Rahmen der Identitätspolitik als Opfer zu gelten. Da sich an identitätspolitischen Diskursen allerdings kaum Arme oder Geringverdiener beteiligen, hat das noch niemanden gestört. Sexuelle Orientierung, Hautfarbe oder Ethnie dagegen funktionieren immer. Wer nun mal weiß und hetero ist, kann es behelfsweise über den Lebensstil versuchen, also etwa als Veganer gegen die Mehrheit der Fleischesser. Auch religiöse Überzeugungen, soweit sie im betreffenden Land nur von einer Minderheit geteilt werden, können einen zum Opfer und damit unangreifbar machen. [10]

Ursprünglich 1977 von den afroamerikanischen Feministinnen des Combahee River Collectives, die zugleich von weißen Mitstreiterinnen rassistisch wie den Männern der Black Community sexistisch diskriminiert wurden, als Begriff geprägt, sollte mit dem Konzept der identity politics die Bedeutung persönlich aufgrund von Hautfarbe und Geschlecht erlebter Unterdrückung im gemeinsamen revolutionären Kampf hervorgehoben werden. Die daraus resultierenden Hindernisse bei der Bildung eines handlungsfähigen Kollektivsubjekts erledigten sich auf der Seite der Identitätspolitik mit der Aufgabe revolutionärer Zielsetzungen. Das bedeutete nicht, dass sich das Verhältnis von individueller Diskriminierungserfahrung und allgemeiner Befreiung nicht für neue Formen des Aktivismus, in denen beide Anliegen zusammenfinden, hätte fruchtbar machen lassen können.

Als heute oft von rechts gegen jegliche emanzipatorische Entwicklung genutzter Kampfbegriff hat die Kategorie "Identitätspolitik" für von Diskriminierung betroffene Menschen weitgehend an Bedeutung verloren. Im gesellschaftlichen Diskurs wird er meist von JournalistInnen und WissenschaftlerInnen verwendet, die über andere und nicht über sich sprechen. Wer davon betroffen ist, mit diesem Begriff als SachwalterIn irrelevanter Politikformen stigmatisiert zu werden, tut gut daran, mit der queerfeministischen AutorIn Bini Adamczak [11] an die Fallstricke und Untiefen dieses Vorwurfes zu erinnern.

Sie hält diesen Gegensatz für falsch, weil sich Klassenfragen auch identitätspolitisch formulieren lassen, wie die Konstruktion eines Arbeiter- und Bauernstaates namens DDR oder die identitätspolitische Anrufung der Arbeiterklasse zeige. Fragen des Antirassismus, Queerfeminismus oder Antikolonialismus seien nicht notwendigerweise Fragen der Kultur oder Repräsentation. Die machtpolitische Frage, wer auf welche Art und Weise Einfluss auf das - kollektiv verstanden - eigene Leben nehme, kodiere sich in Form des Rassismus und Sexismus. Für die mit der Erforschung historischer Revolutionen und ihrer Bedeutung für die heutige Linke befasste AutorIn ist der Versuch, die eigene Position als Universalismus darzustellen und zu behaupten, keine Identität zu repräsentieren, nicht anderes als eine verdeckte Form der Identitätspolitik. Das gelte auch für weiße Suprematie und patriarchale wie anthropozentrische Politik, wo es weniger darum gehe, eine andere Identitätspolitik auszuschließen, als darum, gegen das Gebot des Universalismus, der Gleichheit und der Demokratie zu verstoßen.

Für Bini Adamczak ist Identitätspolitik nicht als Politik der Anerkennung und Repräsentation einer vorgefundenen Identität zu verstehen, sondern gerade als Kritik einer hegemonialen Identität, die sich nur als universelle verschleiere, aber tatsächlich ein identitäres Politikmodell vorantreibe. Wichtig sei ihr eine Kritik der Identifizierung als solche, also der Herstellung von Gruppen, die hauptsächlich zum Zwecke ihrer Hierarchisierung geschaffen werden. Unter Verweis auf den 2013 verstorbenen Queertheoretiker José Esteban Muñoz hebt sie die Bedeutung einer materialistischen und universellen Politik der Desidentifikation hervor, was jedem Menschen einleuchtet, der fremdbestimmte Formen der Zuordnung und Festlegung schon als Angriff auf die persönliche Autonomie und Versuch, Verfügungsgewalt über sie zu erlangen, erlebt hat.

Wenn der Begriff der Identitätspolitik als kaum verhohlener Anwurf darin mündet, die Selbstbeschreibung potentiell diskriminierter Minderheiten als "Marotte" zu einer bloßen Laune und Mode herabzuwürdigen, dann werden neben den nicht selten tödlichen Folgen der Homo- und Transphobie weltweit auch die unter diesem Label subsumierten feministischen Kämpfe in Misskredit gezogen. Unangreifbar sind die meisten Minoritäten eben nicht, das gilt auch für religiöse Minderheiten. Rohingya in Myanmar, Muslime in Indien, Schiiten in Pakistan, Bahai im Iran - die Liste mörderischer Verfolgung religiöser Minderheiten ist so lang wie die Behauptung, ihr Opferstatus schütze sie, weltfremd.

Die in der radikalen Linken seit Jahren bisweilen heftig geführten Diskussionen um das Verhältnis von Klassen- und Identitätspolitik, von partikularen und universellen Kämpfen haben viele zu der Einsicht gebracht, den Ausschließlichkeitsanspruch der einen oder anderen Position zugunsten der erklärten Gegnerschaft gegen alle Formen patriarchaler, kapitalistischer und rassistischer Herrschaft hinter sich zu lassen. Wie relevant diese Entwicklung inklusive des Fernzieles der Aufhebung jeglicher mit Herkunft und Hautfarbe begründeter Feindseligkeit, jeglicher binären oder sonst wie markierten Geschlechtlichkeit ist, hat mit der angeblichen Überhöhung von Opfern oder sogenanntem "Genderwahn" nichts zu tun, ganz im Gegenteil.

Das in allen drei monotheistischen Weltreligionen verankerte Patriarchat ist weit älter als die kapitalistische Organisation der Gesellschaft. Die Frau zu bezichtigen, die Sünde in die Welt gebracht zu haben, und den Mann aufzufordern, sich die Erde untertan zu machen, zeitigt bis heute Folgen herrschaftlicher und zerstörerischer Art. Die biologische Reproduktion der Gesellschaft wird auf staatlicher Ebene als Bevölkerungspolitik bewirtschaftet, was sich unter anderem in einer bei aller Liberalisierung immer noch repressiven Abtreibungspolitik und der sozialen Ächtung gezielter Verweigerung des Kinderkriegens auswirkt. Das klassische Modell der heterosexuellen Kleinfamilie soll Kern gesellschaftlicher Reproduktion bleiben, wie sich an den weltweit aufrechterhaltenen Schwierigkeiten schwuler und lesbischer Ehepaare zeigt, Kinder zu adoptieren. Die Biologie der geschlechtlichen Reproduktion soll bis heute begründen, warum Frauen das Gros der Haus- und Sorgearbeit verrichten müssen, selbst wenn sie in gleichem Ausmaß wie der männliche Partner Lohnarbeit verrichten. Die Zahl der Femizide nimmt weiter zu, denn autokratische Rechtsregierungen in aller Welt haben bei der Frauenemanzipation den Rückwärtsgang eingelegt.

Zahlreiche Beispiele für die hierarchisierende Wirkung maskuliner Identität verweisen auf ein Herrschaftsverhältnis, das Frauen bis heute in Form von Misogynie, Vergewaltigung und Ermordung aufgrund des ihnen zugewiesenen Geschlechtes erleiden. Gleiches gilt für Männer, die sich mit dieser Zuschreibung nicht identifizieren können - bei sexuellem Desinteresse werden sie homophob angegangen, was unter anderem dazu geführt hat, Asexualität in den Katalog nicht heteronormativer Geschlechtlichkeit mit aufzunehmen. Deutschnationale Herrenmenschen wie der Schriftsteller und Historiker Felix Dahn wussten schon Ende des 19. Jahrhunderts, dass die pazifistische Weigerung, Krieg für Kaiser, Volk und Vaterland zu führen, nur eine Antwort verdient, wie er in einer Schmähung des jüdischen Pazifisten Alfred Hermann Fried erkennen ließ:

"Die Waffen hoch! Das Schwert ist Mannes eigen
Wo Männer fechten, hat das Weib zu schweigen
Doch freilich, Männer gibts in diesen Tagen
Die sollten lieber Unterröcke tragen." [12]

Wo sich Fried in eine gesellschaftliche Außenseiterposition begeben hatte, die ihm viel Feindseligkeit auch antisemitischer Art einbrachte, und dennoch an seinen gegen Krieg und Gewalt gerichteten Forderungen festhielt, da bedarf die Frage, wer von beiden, Felix Dahn als "echter" Mann oder Alfred Hermann Fried als Verweigerer militärischer Waffengewalt, mehr Mut bewiesen habe, keiner weiteren Erörterung.

Wo Frauen, LGBTIA-Personen, Schwarze und MigrantInnen von Gewalt, Ausgrenzung und Verfolgung betroffen sind, stellt Wagenknecht mit der These, die Identifizierbarkeit der Opfer sexistischer und rassistischer Gewalt erzeuge Unangreifbarkeit, die Lebensrealität der Betroffenen auf den Kopf. Es ist keinesfalls so, dass sich unter ihnen keine sozial benachteiligten Menschen befänden, ganz im Gegenteil. Die Verletzlichkeit von Frauen oder aus der heterosexuellen Norm herausfallender Menschen ist gerade dadurch, dass sie sich kaum aussuchen können, womit sie ihren Lebensunterhalt bestreiten, höher als bei niemals für Hautfarbe oder Geschlecht rechtfertigungspflichtigen weißen Männern. Wer nicht mehr klaglos Haus- und Sorgearbeit als kostenlose Reserve kapitalistischer Wertproduktion verrichten will, wer nicht mehr einsieht, bei der Lohnarbeit mehr zu leisten und weniger zu erhalten als die männlichen Kollegen, wer zu Hause nicht einem aggressiven Ehemann oder als SexarbeiterIn ungeschützt den Freiern ausgesetzt sein will, wer den Kampf gegen das Patriarchat zum unverzichbaren Schritt antikapitalistischer Bewegung erklärt, hat gute Aussichten darauf, im reibungslosen Betrieb der sozialen Marktwirtschaft Wagenknechtscher Provenienz als Störfaktor identifiziert zu werden.

In ihrem Rundumschlag gegen die von ihr gemeinte Identitätspolitik bedient sich Wagenknecht weitverbreiteter Vorbehalte, was eine Erwiderung in gleicher Kürze fast unmöglich macht. Polemisiert sie etwa gegen die angebliche Leugnung des biologischen Geschlechts durch die Gender Studies, so macht sie es sich einfach und lässt sich auf die Komplexität der Materie gar nicht erst ein.

Trotz der Erkenntnis, dass Geschlecht nichts Unverrückbar-Natürliches ist, handelt es sich dabei aber keineswegs um etwas Freiwilliges, das jederzeit einfach so veränderbar ist. Bei vielen Menschen gibt es hier ein typisches Konstruktionsmissverständnis, bei dem davon ausgegangen wird, Konstruktion bedeute, alles sei jederzeit einfach so nach Belieben veränderbar. Dem ist nicht so. Die Feststellung, dass etwas konstruiert wurde, und die Analyse, wie dies geschah, sagen einerseits etwas über die Entstehungsbedingungen und andererseits etwas über den gegenwärtigen Zustand aus: Gerade weil etwas konstruiert wurde, ist es da, und zwar als Konstrukt! Konstruktionen sind demzufolge Prozess und Resultat in einem. So sehr also der Aspekt des Konstruierens notwendig hervorzuheben ist, so sehr ist auch darauf zu bestehen, dass Geschlechter real sind. Als solche existieren sie, wenn auch nicht von Natur aus gegeben, sondern als natürlich konstruiert. Dadurch erlangen sie Realität und eine enorme Wirkmächtigkeit. [13]

Die Expertise, die Wagenknecht vorzugeben scheint, beschränkt sich auf jene kulturindustriell produzierten Paradigmen, anhand derer Fragen von Sex und Gender, von Rassismus und Diskriminierung auf ihre Eignung hin überprüft werden, für den kapitalistischen Alltag homogenisiert und normalisiert zu werden. Was in den Medien, aus denen sie ihre Informationen zu beziehen scheint, beim Thema Geschlechterverhältnisse und Antirassismus verhandelt wird, zeichnet sich fast immer durch die von ihr beklagte Abkopplung emanzipatorischer Ansprüche von materiellen Gewaltverhältnissen aus. Systematisch werden kulturindustriell produzierte Skandalisierung und historisch gewachsene Opposition miteinander verrührt, um deren TrägerInnen bourgeoises Distinktionsstreben anlasten zu können.

Wenn etwa VeganerInnen darauf verfallen, ihren ethisch motivierten Konsum quasireligiös zu überhöhen und aus einer Abwertung von MischköstlerInnen Selbstbestätigung zu erwirtschaften, kann das weder der im Ursprung pazifistisch orientierten Bewegung des Veganismus angelastet noch für alle Tierbefreiungsbewegten verallgemeinert werden. Der Primat sozialdarwinistischer Überlebenskonkurrenz, die aufzuheben das erklärte Anliegen antispeziesistischer AktivistInnen ist, lässt sich nicht über eine Konsumpraxis überwinden, doch die eigene Verstrickung in das Blutvergießen zu entdecken liegt nicht nur Lifestyle-VeganerInnen, sondern auch der Linkenpolitikerin fern.


Flaschensammler in Berlin - Foto: © 2016 by Schattenblick

"Leistungseigentum" handverlesen
Foto: © 2016 by Schattenblick


Das Wundpflaster der Anerkennung

Sofern die gesellschaftliche Aufwertung von Opfern tatsächlich vorkommt, dann am ehesten auf der Bühne einer zivilgesellschaftlichen Anerkennungspolitik, deren Ziel, Integration in den kapitalistischen Normalbetrieb zu fördern, der kritischen Überprüfung bedarf. Affektive Zuwendung stellt für sich genommen keine soziale Gleichheit her, sondern kittet gesellschaftliche Widerspruchslagen mit den Mitteln sozialpsychologischer Beschwichtigung. Die polemische Überzeichnung nicht weißer, nicht maskuliner und nicht heterosexueller Minderheiten als der Instrumentalisierung ihres Opferstatus verfallene Wichtigtuer würde ohne den gesellschaftlichen Hintergrund der von Wagenknecht propagierten Leistungsgesellschaft nicht funktionieren, stellt die Anerkennung besonderer Leistungsfähigkeit doch ein wesentliches Funktionselement ihres sozialhierarchischen Gesellschaftsentwurfes dar.

Wenn Wagenknecht die Frage der gesellschaftlichen Stellung von Diskriminierung und Gewalt Betroffener aufgreift, dann zum Zwecke der populistischen Verallgemeinerung und nicht der zugewandten Kritik. Werden Menschen nicht um ihrer selbst respektiert, gewürdigt und geliebt, dann kann Anerkennung den Platz eines sozialen Tauschwertes einnehmen, der je nach Erfolg oder Scheitern gewährt oder entzogen wird. Wird konformes Verhalten durch Zuwendung belohnt, erweisen sich Diskriminierung und Feindseligkeit nicht minder als Strategien der Sozialkontrolle. Formalrechtliche Formen der Gleichstellungspolitik können Egalität zwar symbolisch herstellen, doch der relative Nutzen für die jeweils Betroffenen kann auch damit einhergehen, dass konkrete Gewaltverhältnisse noch unsichtbarer gemacht werden, als sie ohnehin schon sind.

Die bloße Verkehrung der Vorzeichen bei Opfern rassistischer, sexistischer und klassistischer Diskriminierung ändert nichts am konstitutiven Problem kapitalistischer Vergesellschaftung. So kann der Anspruch, Identifikationsmerkmale des Geschlechts oder der Hautfarbe nicht zu essentialisieren, also als quasi naturgegeben unhinterfragbar zu machen, wiederum in hierarchische Strukturen führen und den Gültigkeitsanspruch biologischer und anthropologischer Kategorien verstärken. Es gibt einige Beispiele dafür, dass bei der Anwendung emanzipatorischer Konzepte wie Definitionsmacht, Awareness oder Critical Whiteness neue Formen autoritärer Maßregelung entstehen können, während die dabei beabsichtigte Aufhebung aller Unterdrückungsformen auf der Strecke bleibt.

Die demonstrative Aversion, mit der Wagenknecht Versuche niedermacht, das stählerne Gehäuse normativer, identitärer und sozialökonomischer Verfügbarkeit aufzubrechen, lässt kein Interesse an Problemen dieser Art erkennen. Ginge es ihr um eine solidarische Kritik, dann könnten ihr etwa die von anarchafeministischen und queeren AktivistInnen verfassten Stellungnahmen zu "Patriarchat und Geschlechteridentitäten" [14] weiterhelfen. Auch ihre Einwände gegen antirassistische Politik ließen sich anhand einer in der Leipziger Zeitschrift Phase 2 2015 kontrovers geführten Debatte [15] um Critical Whitness auf solidarische Weise diskutieren. Fragen, die weiterführten, wiesen allerdings über den Rand einer lediglich ökonomistisch konzipierten Besserstellung der Lohnabhängigen hinaus und könnten diese auf eine Weise radikalisieren, die der propagierten Funktionsfähigkeit einer kapitalistischen Leistungsgesellschaft abträglich wäre.

Sahra Wagenknecht geht es nicht darum, die Widersprüche der Identitätspolitik aufzuheben, zumal sie selbst mit einer solchen operiert, wenn sie dem nationalkonservative Konzept einer auf Nation und Heimat orientierten "Leitkultur" in ihrem Plädoyer für mehr Zusammenhalt Akzeptanz verschafft [16]. Wer soziale Widersprüche mit Hilfe eines nationalkulturellen Integrationskonzeptes befrieden will, anstatt die auseinanderstrebenden Tendenzen sozialer wie kultureller Unterschiede basisdemokratisch für neue Formen des Selber Organisierens und Gemeinsam Kämpfens zu gewinnen, kommt an autoritären Formen der Sanktionierung und Ausgrenzung schlussendlich nicht vorbei. Eben das droht zu geschehen, wenn vom herrschenden Konsensmanagement aufgesogene und in ihr marktförmiges Gegenteil verkehrte Restprodukte emanzipatorischer Aufbrüche für die Sache selbst genommen werden, um daraus einen Scheinwiderspruch zwischen Klasse und Identität zu zimmern.


Transparent auf 'Organize!'-Demo in Berlin 2017 'Wer ist dieser Eigentum?' - Foto: © 2017 by Schattenblick

Die Eigentumsfrage bleibt offen ...
Foto: © 2017 by Schattenblick


Wechselbalg "linkskonservativ"

Zu vermuten, die Tragfähigkeit der politischen Standortbestimmung "links" sei aufgrund immer weiter auseinanderdriftender Positionen zum Zerreißen gespannt, weist dieser in der Französischen Revolution entstandenen, der Sitzordnung in der Nationalversammlung entlehnten Terminologie entschieden zu viel Vitalität zu. Obwohl progressive Politik und revolutionärer Basisaktivismus angesichts der globalen Krisenentwicklung unentbehrlicher denn je sind, meint Links heute nicht viel mehr als eine mit dem Wunsch nach sozialen Verbesserungen lose verbundene parlamentarische Farbe. Auch die von einer marxistisch-leninistischen Parteifunktionärin zur Wertkonservativen angeblich linker Couleur mutierte Sahra Wagenknecht kann da nicht mehr viel Schaden anrichten. Während die totalitarismustheoretische Gleichsetzung von links und rechts ihren Ursprung immer schon im nationalkonservativen Antikommunismus hatte, legen sich die parlamentarischen Zerfallsprodukte der historischen Linken in vielen Teilen der Welt wie Mehltau auf das Aufbegehren jener Menschen, die nicht aufgehört haben zu träumen und zu kämpfen.

Ohne die von der außerparlamentarischen Bewegung seit vielen Jahren streitbar erhobene Forderung nach einem Ende von Ausbeutung und Unterdrückung, von Kapital und Patriarchat, von Rassismus, Sexismus und allen anderen Formen der Diskriminierung wären keine der lückenhaften, für die Betroffenen aber doch bedeutsamen gesellschaftlichen Veränderungen zustande gekommen. Der kleinste gemeinsame Nenner sozialen Widerstandes und individueller Befreiung bedurfte entbehrungsreicher Kämpfe von unten, bevor diese Impulse parlamentarisch aufgegriffen und in Gesetzesform gegossen wurden. Die reformistische Linke war bestenfalls der verlängerte Arm dieser Basisbewegungen und hatte schlimmstenfalls an der Instrumentalisierung ihrer Kämpfe für die Legitimationsproduktion herrschender Interessen teil.

Wagenknecht geht hier einen Schritt weiter, indem sie die Emanzipation in den Geschlechterverhältnissen, die Kritik von Rassismus und Kolonialismus wie anderer gesellschaftliche Naturverhältnisse und Körperpolitiken betreffender Unterdrückungsformen individualisiert und vom breiten Strom historischer Befreiungsbewegungen abtrennt. Als persönliche Profilneurose - "Marotte" - auszuweisen, was linksradikalen AktivistInnen und Basisbewegungen in aller Welt elementarer Bestandteil antikapitalistischen und antipatriarchalen Widerstandes ist, muss wohl dem ängstlichen Blick durch die Schießscharten bourgeoiser Festungsmentalität geschuldet sein.

Einmal angenommen, Wagenknechts Eintreten für die prekär lebenden, abgehängten Teile der Bevölkerung wäre erfolgreich - warum sollten die mit einem Dasein im Wohnsilo, wo Netflix und das Betäubungsmittel der Wahl den Abend versüßen, mit der Karriere in einer Firma, mit der sie sich identifizieren, als sei es die eigene, mit der öffentlichen Belobigung ihrer Bereitschaft, für Deutschland zu sterben, mit dem Aufziehen von Kindern und dem Verzehr ihrer Rente belohnten Menschen kein Interesse daran haben, über den Horizont dieser ihnen mit allen Mitteln schmackhaft gemachten Bescheidenheit hinauszustreben? Ein auf bloßen Aufstieg im Sozialstatus und auf Anerkennung durch die herrschende Ordnung abonniertes Dasein war einmal der Grund für den Ausbruch der Jugend aus diesen als Fesseln empfundenen Vergesellschaftungspraktiken. Sich nicht damit zu begnügen, dass andere das Nachdenken über die eigene Zukunft übernehmen, dass andere immer besser wissen, was gut und richtig, was erlaubt und verboten sei, dass andere die Verwendung der Sprache und das Interesse an Kultur zum exklusiven Habitus ihrer Klasse erheben, bleibt Ausdruck einer Streitbarkeit, für die der propagierte Reformkapitalismus nichts als ein Knast für Geist, Seele und Körper ist.

Wer sich ohne Not auch den letzten Zahn verbliebener Radikalität ziehen lässt, weil die Erwirtschaftung von Mehrheiten für wichtiger gehalten wird als die Befreiung von elementaren Unterdrückungsformen, macht sich für dieses Anliegen überflüssig. Anstatt die hochentwickelte Adaptionsfähigkeit des warenproduzierenden Kapitalismus und seine auf Konsensproduktion abgerichteten Kommunikationsstrategien zum Gegenstand einer materialistischen Klassenanalyse und Staatskritik zu machen, dient sich Wagenknecht als Abbruchunternehmen am Projekt Die Linke an. Was sie mit der in sich widersprüchlichen Vokabel "linksliberal" den politischen GegnerInnen in der eigenen Partei anlastet, entspricht der Indifferenz eines als "linkskonservativ" ausgewiesenen Oszillierens zwischen gefühlslinker Identität und der Apologie konservativer Werte vollständig.

Sahra Wagenknecht ist nicht die Partei Die Linke, aber diese hat ein immenses Glaubwürdigkeitsproblem, wenn eine ihrer PolitikerInnen, die die Axt an die Wurzeln linker Prinzipien legt, zur Spitzenkandidatin eines großen Landesverbandes gewählt wird. Wird der im Kern neurechte, dort unter der Feindbestimmung "Kulturmarxismus" vorangetriebene Angriff auf soziale Bewegungen des breiten Spektrums vom Klimaaktivismus über queerfeministische, migrantische und antirassistische Initiativen bis zu sozialrevolutionären AktivistInnen aus den Reihen dieser Partei geführt, dann ist an der Weigerung, nicht als deren parlamentarischer Arm und organisatorische Ressource fungieren zu wollen, nichts mehr misszuverstehen. Als Verbündete sozialer Bewegungen und parlamentarische Fundamentalopposition verfügte Die Linke heute über eine Authentizität und Handlungsfähigkeit, die für die Überwindung epochaler Krisen weit wertvoller wäre als die Existenz einer von koalitionsbedingten Sachzwängen entkernten und zerrissenen Hülle, deren Name vor allem die relative Beliebigkeit dieser Standortbestimmung zu repräsentieren scheint. Setzt sich das, was Sahra Wagenknecht propagiert, auf breiter Front innerhalb der Partei Die Linke durch, dann blieben nichts als frei im Wind wohlfeiler Beliebigkeit hängende Wurzeln dessen, was einst bei der Gründung dieser Partei erhofft wurde.


Sahra Wagenknecht vor Plakatwand mit Rosa Luxemburg - Foto: © 2016 by Schattenblick

Kein Gott, kein Kaiser, kein Tribun ... was bleiben wird
Foto: © 2016 by Schattenblick


Fußnoten:

[1] https://www.sahra-wagenknecht.de/de/article/2713.offene-grenzen-für-alle-das-ist-weltfremd.html

[2] https://www.campus.de/buecher-campus-verlag/wirtschaft-gesellschaft/politik/die_selbstgerechten-16576.html

[3] https://www.blog-bpoe.com/2021/04/16/wagenknecht/

[4] http://schattenblick.de/infopool/buch/sachbuch/busar654.html

[5] https://www.blog-bpoe.com/2021/04/16/wagenknecht/

[6] http://schattenblick.de/infopool/buch/sachbuch/busar725.html

[7] https://top-berlin.net/en/node/517

[8] https://www.jungewelt.de/artikel/400253.die-selbstgerechte.html

[9] https://brandfilme.org/wp-content/uploads/2021/05/NETTO-NULL-Dies-Haus-wird-Brennen.pdf

[10] https://books.google.de/books?id=NHEZEAAAQBAJ&pg=PT102&lpg=PT102&dq=#v=onepage&q&f=false

[11] https://andemos.eu/solidarische-beziehungsweisen

[12] https://www.deutschlandfunk.de/100-todestag-von-alfred-hermann-fried-unermuedlicher.871.de.html?dram:article_id=496585

[13] Andreas Hechler, Olav Stuve [Hrsg.] : Geschlechterreflektierte Pädagogik gegen Rechts, Opladen Berlin Toronto 2015, S. 63 f.

[14] https://schwarzerpfeil.de/?s=Patriarchat

[15] https://phase-zwei.org/hefte/?heft=51

[16] https://taz.de/Wirbel-um-Wagenknechts-neues-Buch/!5759235/


17. Mai 2021


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