Schattenblick →INFOPOOL →POLITIK → KOMMENTAR

PROPAGANDA/1456: Der Preis der Freiheit, die Merkel und Co. meinen ... (SB)




Aus herrschafts- und staatskritischer Sicht versteht es sich von selbst, daß provokante Meinungsbekundungen und politische Bekenntnisse nicht mit Freiheitsstrafen sanktioniert werden sollten. Was an Pussy Riot vollstreckt wurde, ist Gesinnungsjustiz und als solche zu verwerfen. Es besteht auch keine Notwendigkeit, Provokationen mit rassistischer Stoßrichtung islamfeindlicher Gruppen, die Mohammed-Karikaturen vor öffentlichen Veranstaltungen salafistischer Muslime zeigen, mit Gewalt zu unterbinden. Es gibt andere Möglichkeiten als das Verhängen von Gefängnisstrafen oder den Einsatz von Knüppeln, dagegen etwas zu unternehmen, wie zum Beispiel antirassistische Demonstrationen und Blockaden, auf denen nicht für eine bestimmte Glaubensgemeinschaft, sondern gegen die gezielte Verunglimpfung einer religiösen Minderheit Flagge gezeigt wird. Das hat nichts mit Zensur zu tun, sondern ist eine aktive politische Intervention, mit der nationalistische Restauration und rassistische Ausgrenzung zugunsten einer Gesellschaft bekämpft werden, in der auch ethnische und religiöse Minderheiten sicher leben können.

Bezeichnenderweise setzen sich die politischen Eliten in der Bundesrepublik in diesem Fall aktiv für die Freiheit ein, Karikaturen zu präsentieren, die religiöse Gefühle verletzen. So wurde dem dänischen Karikaturisten Kurt Westergaard, der für die berüchtigten Mohammed-Karikaturen verantwortlich zeichnet, 2010 der Medienpreis "M 100 Sanssouci Colloquium" verliehen. Niemand geringeres als Angela Merkel und Joachim Gauck gaben sich bei der Preisverleihung als Laudatoren die Ehre [1]. Die Freiheit, die sie meinen, ist eine strategische Waffe, denn sie wird stets dann gerühmt, wenn sie der ungehinderte Kapitalakkumulation und aggressiven Durchsetzung hegemonialer Interessen dient. Auf dieser Linie liegt auch die massive Kritik, die in deutschen Mehrheitsmedien an der strafrechtlichen Verfolgung der drei Frauen von Pussy Riot geübt wird. Sie richtet sich gegen die Regierung Rußlands, die sich der Eroberung Syriens in den Weg stellt und deren Hegemonialinteressen in vielen Fällen konträr zu denen der NATO-Staaten verlaufen.

Ginge es wirklich um die Freiheit politischen Protestes und demokratischer Selbstbestimmung, dann müßte sich die Bundesregierung für die Freilassung Bradley Mannings, die Freiheit aller anderen politischen Gefangenen in den USA wie auch für sicheres Geleit Julien Assanges in das ecuadorianische Asyl einsetzen. Sie müßte bei der Regierung Britanniens gegen die mehrjährigen Haftstrafen für Jugendliche Protest einlegen, die sich nichts anderes zuschulde haben kommen lassen als im Internet Freude über die Riots zu bekunden, in denen die sozialen Widersprüche der britischen Klassengesellschaft letztes Jahr explodierten. Sie müßte vor allem vor der eigenen Türe kehren und die Verfolgung kurdischer Aktivisten in der Bundesrepublik durch das politische Strafrecht nach Paragraph 129 b einstellen. Damit arbeitet die Bundesregierung einer autoritären Staatsgewalt zu, die Tausende von Menschen, darunter Jugendliche und Politiker, allein aufgrund ihres Bekenntnisses zum Kurdentum und der Einforderung autonomer Rechte innerhalb der Türkei mit schweren Haftstrafen belegt, die den Konflikt mit der kurdischen Minderheit in der Türkei vor allem mit Waffengewalt austrägt und auch vor der Folterung kurdischer Aktivistinnen und Aktivisten nicht zurückschreckt.

Die Liste der Auslassungen, die sich Medien und Politik leisten und damit den instrumentellen Charakter der Unterstützungskampagne für Pussy Riot dokumentieren, ließe sich beliebig verlängern über die unbefristete Inhaftierung in die USA verschleppter Terrorverdächtiger, die mörderische Drohnenjustiz der USA in Afghanistan und Pakistan, das Social Cleansing von Arbeitslosen und Behinderten, die tatsächlich einen um Jahre früheren Tod sterben als bessergestellte Gruppen ihrer Gesellschaften, und natürlich den weltweiten Hunger, der durch die Entscheidung für den Tank und gegen den Teller auf menschenverachtende Weise verschärft wird.

Doch es ist müßig, den Herrschenden Doppelmoral vorzuhalten. Hört man genauer hin, dann machen sie nicht einmal ein Hehl aus dem machiavellistischen Charakter ihrer Herrschaftstechniken. Es wird durchaus zugestanden, daß derartige Solidaritätsbekundungen symbolpolitische Aktionen für die dumme Masse sind, die man keinesfalls mit dem realpolitischen Kalkül ihres eigenen Ausverkaufs konfrontieren darf. Die Menschen könnten auf den Gedanken kommen, daß der Hauptfeind im eigenen Land steht und nicht im Moskauer Kreml residiert, wo, wenn es denn eine revolutionäre Situation gäbe, sozialistische Parolen adäquate Antworten auf das soziale Elend der Bevölkerung wären und nicht etwa bunte Kampagnen für die Freiheit der Oligarchie und des Kapitals.

Es sei ARD und ZDF, Springer und Bertelsmann, schwarz-gelben Regierungspolitikern und ihrer rot-grünen Konkurrenz gegönnt, sich mit den drei russischen Aktivistinnen zu schmücken und sich im falschen Glanz jugendlicher Radikalität zu sonnen. Solange deren Punkgebet nicht die eigene Erstarrung in den Kategorien bürgerlicher Herrschaft angreift und die Verlogenheit bourgeoisen Distinktionsstrebens zerschlägt, kann man es gefahrlos abdrucken und als kulturellen Mehrwert konsumistisch aufbereiten. Die Vereinnahmung radikaler Avantgarden für herrschaftsförmige Zwecke wurde schließlich nicht erst jetzt erfunden, sondern gehört zur widerspruchsregulativen Assimilationspraxis der kapitalistischen Kulturindustrie.

Gesellschaftspolitisch bedeutsam sind die Solidaritätsbekundungen aus den Reihen der Partei Die Linke. Daß man dort kein Problem damit hat, im Angesichte der Kriegsdrohungen gegen Syrien und den Iran wie der antidemokratischen Aufrüstung im eigenen Land einer offenkundigen Spaltungsstrategie zu frönen, läßt nicht darauf hoffen, daß sich die parlamentarische Opposition gegen äußere Aggression, innere Repression und kapitalistische Ausbeutung auch dann halten wird, wenn sich der gesellschaftliche Streit zuspitzt und linker Widerstand so gefährlich wird wie künstlerischer Protest gegen die Regierung Putin.

Fußnote:

[1] http://schattenblick.org/infopool/politik/kommen/sele0860.html

19. August 2012