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PROPAGANDA/1478: "Sozialmißbrauch" - Feindbild "EU-Ausländer" (SB)




Wer immer dafür verantwortlich war, daß der Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Ahndung sogenannten Sozialmißbrauchs durch EU-Ausländer jetzt ans Licht der Öffentlichkeit gekommen ist, wird dies wohl kaum zufällig wenige Tage vor der Wahl zum EU-Parlament getan haben. So hat die CSU diese Initiative bereits zu Jahresbeginn angeschoben, um den freien Zugang für Rumänen und Bulgaren zum deutschen Arbeitsmarkt zur Bindung der eigenen Klientel an ihre sozialchauvinistische Agenda zu nutzen. Rechtspopulistische Kampagnen dieser Art sind nichts Neues unter sich christlich nennenden Politikern, und es kann auch nicht erstaunen, daß sie im Klartext gegen Roma aus Südosteuropa zu Felde ziehen.

Um den Furor des rassistischen Ressentiments zu entflammen, spielt es keine Rolle, ob der einmal mehr aufgelegte Vorwurf der "Einwanderung in die Sozialsysteme" überhaupt zutrifft. So waren von den rund 368.000 Rumänen und Bulgaren, die sich nach Schätzungen des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung im Juli 2013 in der Bundesrepublik aufhielten, nur 7,4 Prozent erwerbslos. Daß von den insgesamt 6,16 Millionen Beziehern von Sozialleistungen lediglich 0,6 Prozent aus Bulgarien oder Rumänien stammen und daß diese Arbeitsmigranten insgesamt mehr Steuern und Sozialabgaben entrichten, als sie an Sozialtransfers erhalten [1], würde die gegen sie gerichtete Aggression keineswegs beschwichtigen. Hier geht es schlicht darum, den Verdacht zu nähren, daß der angeblich mit eigenen Händen erwirtschaftete Wohlstand Begehrlichkeiten in ganz Europa weckt, so daß Abwehrmaßnahmen getroffen werden müssen.

Indem die Bundesregierung ein mit Strafen bewehrtes Gesetz gegen Sozialmißbrauch von EU-Ausländern vorbereitet, schlägt sie in Anbetracht des prognostizierten Erfolgs der rechten Parteienkonkurrenz zwei Fliegen mit einer Klappe. Die angeblich parasitäre Einstellung langzeiterwerbsloser Bundesbürger war schon immer für die Mobilisierung des Volkszorns gut, wohl wissend, daß die Adressaten derartiger Propaganda selbst am meisten davon gefährdet sind, aufs Abstellgleis des Hartz-IV-Regimes geschoben zu werden. Wenn es sich dann noch um mißliebige Menschen aus den Elendszonen der EU-Peripherie handelt, kann sich der systematisch geschürte Sozialneid noch wirksamer an zweckdienlichen Feindbildern abarbeiten. Sie sollen vor allem verhindern, daß der von Abstiegsängsten geplagte Teil der Bevölkerung auf den Gedanken kommt, mit armen Rumänen und Bulgaren weit mehr gemeinsam zu haben als mit den eigenen Kapital- und Funktionseliten.

Die allgemeine Zustimmung zur Europäischen Union ist so niedrig wie nie, daher gilt es, das einsturzgefährdete Gebäude mit nationalistischen Verstrebungen zu armieren. Seine hauptsächliche Funktion, als europäisches Arbeitshaus zu fungieren, das den Druck auf Lohn- und Zeitforderungen zu Lasten der am meisten von Überlebensnot betroffenen Menschen aufrechterhält, steht und fällt mit deren Bereitschaft, sich in den Harnisch der gegeneinander gerichteten Überlebenskonkurrenz treiben zu lassen. Der Erfolg rechtspopulistischer Parteien in fast allen EU-Staaten gründet sich vor allem darauf, daß das vermeintlich postnationale Gebilde der Union in seiner strukturellen Wettbewerbsordnung auf regionale wie nationale Standortkonkurrenz ausgelegt ist. Die Profitrate der größten Kapitalkonzentrationen unter den besonders günstigen Bedingungen der vier Grundfreiheiten der EU - freie Bewegung für Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital - zu maximieren, führt zur Mißstimmung überall dort, wo die Menschen merken, daß ihnen dabei nicht nur die Butter vom Brot, sondern auch das Brot selbst genommen wird.

Daher waren Feindbilder, auf die sich die Marktsubjekte einigen können, nie so wertvoll wie heute, da die EU vor einem Prüfstein ihrer Legitimität und der Herausforderung des Einzugs einer starken Rechtsfraktion sogenannter Euroskeptiker in ihr Parlament steht. Da deren Skepsis weniger auf die Abschaffung der EU als auf die Mehrung des Einflusses der jeweils eigenen nationalen Kapital- und Handelsmacht zielt, ist ihrem Aufstieg durch die Parteien der sogenannten Mitte schwer beizukommen. Auch diese haben, wie das Beispiel der Bundesrepublik belegt, vor allem die Erfolge des eigenen Staats im Sinn, wenn sie den schönen Schein einer europäischen Freiheit illuminieren, die im wesentlichen aus der Freiheit zur Maximierung des eigenen Vorteils besteht.

Man ist sich also im großen und ganzen einig darin, die EU-Bevölkerungen durch die scheinbare Wahl zwischen einer nationalistischen Rechten und einer nationalliberalen Mitte in die Irre ihrer Verkennung ob der Möglichkeiten, die sie hätten, bei dieser Wahl konkreten politischen Einfluß auf ihre Lebensverhältnisse zu nehmen, zu führen. Die immer wieder ausbrechenden Debatten um die vermeintliche Benachteiligung durch die EU - räuberische Nutznießer deutscher Autobahnen, räuberische Horden von Arbeitsmigranten - signalisieren, daß dieser Staatenbund das unterschlagene Paradigma der Klassenherrschaft zu zementieren versteht. Die Verallgemeinerung des kollektiven Nutzens, um den es in einer sozialen EU letztlich nur gehen könnte, wird durch die Rückbesinnung auf Staat und Nation der privaten Aneignung überantwortet, während antikapitalistische Aufklärung über den strukturell sozialdarwinistischen Charakter der EU unter Gesinnungsverdacht gestellt wird.

Die rassistische Inkriminierung der Forderung, allen Menschen in der EU unabhängig von ihrer Herkunft und Arbeitsfähigkeit eine angemessene Grundversorgung zu gewähren, durch den gegen Gruppen, die als Außenseiter schon immer ungestraft verfolgt werden konnten, gerichteten Verdacht des Sozialmißbrauchs dementiert alle humanistischen und demokratischen Ideale, die zur Akzeptanz der EU propagiert werden. Da die führenden politischen Kräfte sich über diese Werte legitimieren und sie gleichzeitig unterlaufen, geht es ihnen um etwas anderes, und darüber wollen weder sie noch ihre rechte Konkurrenz ein Wort verlieren.


Fußnote:

[1] http://www.jungewelt.de/2014/04-23/007.php

21. Mai 2014